india : 7.00 — Weder darf ich ihren Namen verraten, noch in welcher Stadt sie wohnt oder für wen sie arbeitet. Alles andere darf ich erwähnen, dass sie wirkt, als sei sie einem Fellini-Film entkommen, zum Beispiel. Sie trägt blaue Turnschuhe, helle Seidenstrümpfe und einen grauen, kurzen Mantel mit einem Pelzkragen, der nicht echt ist oder doch, ich kann es nicht sagen. Wenn sie auf ihren langen, äußerst dünnen Beinen vor mir steht, überragt sie mich um einen halben Kopf, kann somit meinen Scheitel betrachten, was nie geschieht, weil sie mir stets auf oder in die Augen schaut, wenn wir miteinander sprechen. Auch dann nämlich schaut sie mir in die Augen, wenn ich ihren Blick nicht erwidere, weil ich gerade irgendeinen anderen Ort ihrer Erscheinung besichtige. An ihrem Hals sitzt ein grüngelber Schmetterling, der zu einem Tattoo gehört, das längst ihren halben Körper bedecken soll. Ich habe einmal einen flüchtigen Eindruck des Hautgemäldes erhalten, als sie mir ihren Bauch zeigte. Ich war begeistert, aber auch ein wenig erschrocken gewesen, ich konnte ihre Rippen sehen, so dünn ist sie, so zerbrechlich, dass man sie als eine Hungerkünstlerin bezeichnen könnte, eine, die gerade so wenig isst, dass sie daran nicht stirbt. Überhaupt, ja, überhaupt das Leben, es ist nicht leicht, das sagt sie mit einer tiefen Stimme. Ihr Mund ist ein kleiner Mund, ihre Augen sind grau, ihr Haar reicht bis fast zu den Kniekehlen herab. Jeder Mann, aber auch alle Frauen drehen sich nach ihr um, wenn sie erscheint und wieder verschwindet. Unlängst hatte sie einen kleinen Koffer gepackt und war mit ihm nach Kairo geflogen. Ich fragte, ob sie sich nicht gefürchtet habe. Nein, antwortete sie, es sei ihr nicht so wichtig am Leben zu bleiben, weil sie eigentlich nicht sehr gerne lebe, das sei schon immer so gewesen, weswegen sie nur ungern trinken und essen würde. Um ein Schälchen Haferflocken zu sich nehmen zu können, muss ein halber Tag vergehen. Das ist für ein Schälchen Haferflocken eine lange Zeit. Sie lacht jetzt. Wenn doch die Männer nicht immer dasselbe wollten, na, Du weißt! Der Künstler, der ihr das Hautgemälde fertigte, habe ihr gesagt, dass er sich fürchtet über ihren blanken Rippen mit der Nadel zu arbeiten. Wieder lacht sie, ein wärmendes Geräusch. — stop
Aus der Wörtersammlung: nämlich
nachtameise
~ : sam
to : Mr. louis
subject : WANDERAMEISE
Mein lieber Freund Louis, es gibt Neues zu berichten. Ich bin nämlich umgezogen, von einer Wohnung in eine andere Wohnung, beide befinden sich in demselben Haus. Jahrelang, wie Du weißt, lebte ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stockwerk auf die Straße hinunter. Die Menschen sind noch kleiner geworden, ihre Stimmen nicht länger zu hören. Ich wohne unter dem Dach. Manchmal liege ich rücklings auf dem Boden und denke, dass es hier ganz wunderbar ist, weil ich nie wieder von Schritten geweckt werde, wenn ich schlafe. Natürlich ist der Aufstieg beschwerlich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach Seeluft, ja, nach Seeluft. Vor wenigen Stunden öffnete ich das Fenster nach Süden hin und fütterte Möwen mit Brot, seither umkreisen sie lauernd das Haus. Die Wohnung nebenan scheint leer zu stehen, von unten ist leise Klaviermusik zu hören, nichts weiter. Es ist überhaupt sehr still hier oben. Während ich nachts, eine Wanderameise, meine Bücher und Papiere nach oben schleppte, war ich keiner Menschenseele begegnet. Aber ich hörte Stimmen, nicht von den Türen, von irgendwo her, als wären Menschen in den Stufen, dem Holz des Treppengeländers, den Wänden des alten Hauses gefangen. In den höheren Stockwerken befinden sich Briefkästen mit schweren, eisernen Deckeln, in welche man Botschaften abwerfen kann. Natürlich bin ich nicht sicher, ob sie noch funktionieren. Ich habe zur Probe eine Nachricht folgenden Inhaltes an mich selbst abgeschickt: Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlummerte ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Morgen! — stop
gesendet am
17.03.2013
8.15 pm
2253 zeichen
flamingo
alpha : 2.25 — Seit einigen Wochen der Verdacht, dass sich Wörter meiner Particles-Sphäre genau so verhalten, als wären sie ungebändigte Lebewesen, sie tun nämlich in heimlicher Weise was sie wollen, fügen sich zum Beispiel selbst Buchstaben hinzu oder lassen Buchstaben, die für ihre spezielle Existenz unverzichtbar sind, verschwinden. Andere Wörter lassen Buchstaben kreisen, einen Buchstaben um einen anderen Buchstaben. Kaum habe ich nach langer Arbeit in der Nacht die Augen zugemacht, geht das alles los. Und wenn ich dann wach geworden bin und betrachte, was ich nachts notierte, mein Gott, denke ich, aus Wetter ist Watte geworden, aus Miete Mut, aus Regenschirmen Schirme von Schnee. Gerade eben habe ich das Wort Möwe in einem Text beobachtet, den ich vor Monaten notierte. Ich hatte dieses Wort schon lange im Auge. Eine Stunde betrachtete ich das Wort, ohne dass es sich veränderte. Kaum aber war ich für eine Minute aus dem Raum getreten, um in die Küche zu gehen, wurde aus der Möwe eine Mive, das kann ich so genau sagen, weil ich, als ich an den Schreibtisch zurückkehrte, gerade noch sehen konnte, wie aus dem Wort Mive wieder das Wort Möwe wurde. Eine seltsame Sache. Auch ganze Wörter scheinen durch den Textraum wie durch Zeit zu reisen. Im Juli 2008 fabrizierte ich eine kleine Geschichte, die davon erzählt, warum ich nachts manchmal im Dunklen sitze. Genau diesen Text scheint das Wort Flamingo besonders angenehm zu finden, weswegen es immer wieder erscheinen will im Text anstelle der Fliegen, die Teefliegen sind. Schauen Sie selbst, Sie müssen nur lange genug Beobachter oder Beobachterin sein, dann werden Sie schon sehen: Heut Nacht sitze ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop – Zwei Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wahrscheinlich ist auch heute, während ich schlief, wieder alles in Bewegung gewesen. — stop
erzählende physik eines fallendes radios
sierra : 6.32 — Von der Berechnung des Luftwiderstandes, dem ein Körper begegnet, wenn er sich im freien Fall befindet, wusste ich bis kurz nach Mitternacht nichts. Auch die Berechnung der wachsenden Geschwindigkeit, mit der sich ein stürzender Körper dem Erdmittelpunkt nähert, war mir bisher nicht möglich, weil ich noch nie gut gewesen bin in der Mathematik der Physik. Ich habe also nachgelesen und bin in dieser Lektüre auf einen wunderbaren Text gestoßen, den der Philosoph Lukrez bereits im Jahr 55 vor Christus notiert haben soll. Er schreibt: Wer nun etwa vermeint, die schwereren Körper, die senkrecht rascher im Leeren versinken, vermöchten von oben zu fallen auf die leichteren Körper und dadurch die Stöße bewirken, die zu erregen vermögen die schöpferisch tätigen Kräfte: Der entfernt sich gar weit von dem richtigen Wege der Wahrheit. Denn was immer im Wasser herabfällt oder im Luftreich, muss, je schwerer es ist, umso mehr sein Fallen beeilen, deshalb, weil die Natur des Gewässers und leichteren Luftreichs nicht in der nämlichen Weise den Fall zu verzögern imstand ist, sondern im Kampfe besiegt vor dem Schwereren schneller zurückweicht: Dahingegen vermöchte das Leere sich niemals und nirgends wider irgendein Ding als Halt entgegenzustellen, sondern es weicht ihm beständig, wie seine Natur es erfordert. Deshalb müssen die Körper mit gleicher Geschwindigkeit alle trotz ungleichem Gewicht durch das ruhende Leere sich stürzen. — Eine weitere Stunde später hatte ich eine recht präzise Vorstellung von der Beschleunigung, die ein Transistorradio erfährt, wenn es aus 1,60 Meter Höhe von einem Bartisch aus zu Boden fällt. Das ist eine wichtige Erfahrung, um eine Geschichte erzählen zu können, die sich dem Verhalten eines fallenden Radios gemäß entwickeln könnte. Weil sich das Radio zunächst langsam, dann schneller werdend durch die Luft bewegt, würden sich auch die Wörter der Geschichte zunächst langsamer ereignen, eine geringe Menge Wörter für ein erzähltes Particle der Geschichte, wohingegen zuletzt, kurz vor dem Aufprall des Radios sich sehr viele Wörter ereignen werden, um ein erzähltes Particle zu erzeugen. Eine interessante Vorstellung, die ich paradoxerweise in meinem Gehirn herumzudrehen vermag. Weil sich das Radio zunächst langsam bewegt, ist viel Zeit, um viele Wörter zu notieren. Stetig werden die Wörter weniger, weil sich die Zeit ihrer Aufführung verkürzt. Alles das ist für eine extreme Zeitlupe ausgedacht. Und jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. Guten Morgen. — stop
auf der roseninsel
india : 5.15 — Ich habe etwas Lustiges geträumt. War nachts mit einem Zug nach Possenhofen gefahren. Ein harter Winter, ich schlenderte am Ufer des Starnberger Sees. Manschetten von Eis umsäumten Steine und Hölzer, die im Niedrigwasser sichtbar geworden waren. Ich erinnere mich, dass ich versuchte Wörter zu finden für Geräusche, die meine Schritte auf dem gefrorenen Boden erzeugten. Ich hatte viel Zeit, ich war auf dem Weg zur Roseninsel. Eichhörnchen flitzten durchs Unterholz, auf Bänken, welche ich passierte, saßen gefrorene Menschen, das war seltsam, weil sie alle lächelten, als wäre das Erfrieren ein angenehmer Vorgang gewesen. Außerdem konnten sie leise sprechen. Wenn ich ihnen eine Frage stellte, nämlich, ob ich auf dem richtigen Weg zur Roseninsel sei, antworteten sie, ja ja, ihre Stimmen kamen aus den Ohren der gefrorenen Gestalten heraus, sodass ich den Eindruck hatte, in den menschlichen Körpern würden weitere Körper sitzen. Auch Fische spazierten im Traum herum, auf Füssen, an welchen sie Wanderschuhe trugen. Dann war ich irgendwann angekommen und wartete am Ufer, ob mich jemand holen würde. Das Wasser an dieser Stelle leuchtete, ein Licht, das sich bewegte. Plötzlich tauchte ein kleines U‑Boot aus dem Wasser. Es hatte die Form einer Zigarre und war durchsichtig und kam sehr nah an das Ufer heran. Eine Luke öffnete sich. Robert De Niro winkte und er sagte, ich solle zu ihm ins Boot steigen. Wir tauchten dann rüber zur Insel, es war Tag als wir angekommen waren, Sommer. Auf einer Bank saß mein Vater, er las in einer Zeitung. Hier, in seiner Nähe, wachte ich auf, weil mein Wecker klingelte. Ich nahm den Wecker in die Hand, und als ich drei Stunden später wieder einmal wach geworden war, hatte ich den Wecker noch immer der Hand, so wie es sein muss, mit den Weckern, wenn man sie träumt. — stop
eleonore
delta : 2.42 — Von Eleonore weiß ich nichts, außer, dass sie über winzige Hände verfügt. Das ist nicht viel, nein, nicht viel, vielleicht sollte ich erwähnen, dass sie die Luft sehr lange Zeit anzuhalten vermag. Ich habe vor Kurzem noch mit ihr das Luftanhalten geübt, wie saßen voreinander und lachten, dann sagte sie: Jetzt, und schloss ihren Mund. Auch ich schloss meinen Mund, ich machte einen Strich aus ihm in meinem Gesicht. Es war natürlich Ehrensache, dass in der Zeit unseres Wettkampfes weder von ihr noch von mir durch die Nase geatmet wurde. Zunächst übten wir eine Minute, dann zwei, bis dahin hatten wir uns nur gewärmt oder entspannt, um sehr bald 2 Minuten und dreißig Sekunden lang die Luft anzuhalten, was mir bereits Schmerzen bereitete, ich musste mich konzentrieren, während Eleonore mich völlig entspannt betrachtete. In der Disziplin eines Atemstillstandes von drei Minuten und dreißig Sekunden senkte sie ihre Augen, nicht weil sie kämpfen musste, sondern weil sie meine Hände beobachtete, die ein wenig zitterten, ich hatte sie zu Fäusten geballt, ein Zeichen, dass ich bald aufgeben würde, wie man mir später erzählte. Das war nach meiner zweiten Ohnmacht gewesen, ich wurde nämlich schläfrig nach 3 Minuten und 45 Sekunden, sowie nach einer Übung von über 4 Minuten. Hier endete unser gemeinsames Training, weil Eleonore nicht weitermachen wollte, da ich kein ernstzunehmender Gegner für sie war. Stattdessen durfte ich ihr zusehen, wie sie versuchte, in ihrer Lieblingsdisziplin, der Langzeitstrecke von über sechs Minuten, eine schwierige Rechenaufgabe zu lösen. Sie notierte ein Ergebnis, eine größere Zahl, auf ein Blatt Papier in der achten Minute, und sank dann lautlos in ihrem Stuhl in sich zusammen, wo sie in dieser Minute noch immer sitzt und fest zu schlafen scheint. Mehrfach habe ich versucht, sie zu wecken, indem ich ihren Namen rief. Mit jedem meiner Rufe wuchs die Furcht, sie zu berühren. Es ist jetzt eine halbe Stunde vergangen, draußen vor dem Fenster summt eine kalte Nacht. Nein, nein, ich bin nicht wirklich beunruhigt, denn ich meine zu erkennen, dass sich Eleonores Brüste heben und senken. Auch ihre Hände scheinen sich leicht zu bewegen. Sie sind tatsächlich außerordentlich klein, es sind die Hände eines Mädchens an den Armen einer erwachsenen Frau, und sie sind weiß, ich erinnere mich, sie waren schon immer sehr weiß gewesen. — stop
ein kleines tier von luft
marimba : 3.10 — Es ist richtig, ich bin begeistert. Seit zwei Tagen schwebt eine merkwürdige Gestalt durch meine Wohnung. Es handelt sich um ein Lungenballontier, nichts weiter, um eine Kreatur von kühler, sandfarbener Haut in der Größe einer Honigmelone. Wenn ich sage, dass es sich bei diesem Wesen um ein Lungenballontier handelt, dann deshalb, weil das Tier in seiner derzeitigen Erscheinung vorwiegend aus Luft zu bestehen scheint. Es war nämlich nicht sehr groß gewesen, als es mir am Samstag von einem Briefboten in einer flachen Schachtel übergeben worden war. Wie es dort lag, sah es zunächst noch aus wie ein Taschentuch, sorgfältig gebügelt und gefaltet. Genau in seiner Mitte war ein winziger Kopf zu erkennen, ein Mund und eine Nase und Augen, die geschlossen waren, als würde das Tier schlafen. Kaum aber aus seinem Reisebehälter gehoben, holte das kleine, gefaltete Tier Luft und begann langsam zu wachsen. Es war in diesem Vorgang des Wachsens nichts zu hören, als ein äußerst leises Pfeifen, dessen Ursprung ich nicht erkennen konnte. Eine Stunde verging und eine weitere Stunde, bis das Tier sich vollständig entfaltet hatte. Es war rund geworden, nach wie vor aber noch faltig, und es wuchs weiter, und es begann sich von dem Tisch zu lösen, auf dem es die ersten Stunden in Freiheit verbracht hatte. Seither bewegt es sich langsam wie ein Zeppelin durch meine Zimmer. Zunächst war es ins Bad geflogen, dann in die Küche, durch den Flur zurück ins Wohnzimmer, und von dort ins Arbeitszimmer, wo es vor dem Fenster eine Weile verharrte, obwohl draußen tiefe Nacht herrschte. Das Tier hatte inzwischen seine Augen geöffnet, kein Wunder, es schien auch an mir selbst zunehmend interessiert zu sein, wie genau in diesem Moment, da ich notiere. Gerade kommt es wieder zurück aus der Küche, es nähert sich, es ist nun ohne Falten und es schimmert, und noch immer pfeift es leise vor sich hin. — stop
australien
olimambo : 3.26 — Im anatomischen Institut, unter dem Präpariersaal, befinden sich Arbeitsräume für Präparatoren, das sind kleinere Zimmer, in welchen metallene Tische stehen, helles Licht, sehr helles Licht, Lupenleuchten, Pinzetten, Skalpelle, Gefäße aller Art. Ich besuchte dort mehrere Male einen älteren Herrn, durfte ihm gegenüber Platz nehmen, beobachtete ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruhte. Ich erinnere mich noch gut an seine hellen, feingliedrigen Hände, wie sie rasend schnell Gewebe vom Herzkörper zupften. Der alte Mann war sehr erfahren in der Präparation, und er war schweigsam, also sprachen wir wenig. Gestern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Telefongespräch eine Frage entdeckte, die ich nun gerne sofort an ihn richten würde, wenn ich nur wüsste, ob er noch existiert. Ich würde nämlich gerne erfahren, wie es möglich sein kann, das Skelett eines Menschen, der gerade erst gestorben ist, seinem Körper zu entnehmen und auf dem Luftpostweg von Australien nach Europa zu senden. Genau das ist nämlich vor nicht einmal einem halben Jahrhundert geschehen. Eine Freundin, die in Griechenland aufgewachsen war, eine Griechin also, erzählte mir gestern, sie habe in ihrer Schulzeit ein menschliches Skelett vor Augen gehabt, von dem sie wusste, dass es echt gewesen war, dass es zu einem Bürger der Stadt, in der sie lebte, gehörte. Dieser Mann war nach Australien ausgewandert, um vor der Armut und Hoffnungslosigkeit, in der er lebte, zu flüchten. Kaum in Australien angekommen, starb der Mann. Und weil er nichts weiter zu verschenken hatte, vermachte er sein Skelett der Schule seiner Stadt. Der Mann hieß mit Vornamen Teofanis, weshalb auch das Skelett diesen Namen trug. Teofanis kehrte also an den Ort zurück, an dem er geboren worden war, genauer sogar in das Klassenzimmer, in dem er seine Matura abgelegt hatte, um dort dauerhaft zu verweilen in einer feinen Geschichte, deren eigentliches Ende in der Zeit bisher nicht abzusehen ist. — stop
nummer 6
tango : 3.56 — An einem Sommertag gehe ich mit Tom spazieren. Er ist ein ziemlich großer, junger Mann, schlaksig, der, während er von seinen Erlebnissen im Präpariersaal erzählt, immer wieder einmal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu werfen. Da ist nämlich ein Fluss, Tom wollte am Fluss spazieren, ich ahne weshalb. Er scheint, indem er Steine wirft, genauer denken zu können. Hin und wieder läuft er in den Wald, der unseren Weg begleitet und bleibt für einige Minuten verschwunden. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum folgen, er will mir deshalb noch einige Gedanken notieren, damit ich sie ausdrucken kann. Wenige Tage nach unserem Spaziergang kommt tatsächlich eine E‑Mail, eine sehr präzise Form der Beobachtung. Tom: > Ich versuche jetzt näher heranzugehen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Präparation des Körpers begonnen. Wir haben die Körper auf den Tischen inspiziert, wir haben ein Leichenprotokoll angefertigt, Hautschnitte gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unsere Arbeitstische beugen. Vier von uns befinden sich auf der einen, vier auf der anderen Seite des Tisches. Jedem von uns wurde eine Position am Präparat zugeordnet. Ich habe die Nummer 6. Also arbeite ich zu diesem Zeitpunkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katharina. Von den Leichen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spüren bekommt. Unsere Augen sind gerötet. Das ist eine Situation, an die wir uns zunächst noch zu gewöhnen haben. Skalpelle, Pinzetten, Hände sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wir könnten uns verletzen, deshalb halten wir unsere Werkzeuge, als würden wir Bleistifte führen. Wir zeichnen auf sehr engen Bahnen. Wir beginnen in der regio praesternalis. Dort haben die Hautschnitte des Assistenten Zugang erzeugt, dort können wir die Haut mit unseren Pinzetten aufnehmen und etwas vom Körper heben. Eine erste unsichere Bewegung. Wir spannen die Haut. Wir schneiden von der subcutis in Richtung der gespannten Haut, arbeiten von innen nach außen, arbeiten von medial nach lateral. Haben wir gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich sehe, dass ich meine Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spüre die Erschütterungen, die durch die Bewegungen meiner Freunde in dem Körper hervorgerufen werden. Wenn ich mich aufrichte, um meinen Rücken zu entspannen, erkenne ich die Fortschritte meiner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Körper gelöst, dass ich es zurückklappen kann. Woran habe ich gedacht, in dieser ersten Stunde der Arbeit? Habe ich daran gedacht, dass ich begonnen habe, einen Leichnam zu zergliedern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skalpell zu führen, als würde man damit schreiben. Ich kann Ihnen versichern, man geht nicht in die Tiefe, wenn man Haut präpariert. Man packt einen Körper aus. Eine wahre Geduldsprobe. Zentimeter um Zentimeter arbeitet man sich über die Oberfläche des Körpers voran. Erstaunlich, wie nah wir dem Leichnam nach zwei Stunden bereits gekommen sind. — stop
von den eisbriefen
kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop