india : 6.00 — Am Flughafen arbeitet ein zierlicher Mann. Er kommt aus Indien, aus Kalkutta genauer, lebt aber schon lange Zeit hier im Exil. Europa ist gut, sagt er, nicht so anstrengend wie meine Heimat. Er heißt Singh, so muss das sein, und steht hinter dem Tresen einer schicken Bar, Terminal 2. Mr. Singh arbeitet seit zehn Jahren immer nur nachts, jede Nacht, Jahr ein Jahr aus, weil ihm der kleine Laden zur Pacht gehört. Hier kann man Rauchwaren kaufen und Zeitungen in allen möglichen Sprachen und Bourbon trinken, leise Jazzmusik im Hintergrund kommt aus Lautsprechern, manche Menschen schlafen an den Tischen ein und werden niemals geweckt, der kleine Mann ist gern ein Wächter der Schlafenden, der Gestrandeten. Wenn er die englische Sprache spricht, dann hört sich das an, als würde seine Zunge auf Stelzen gehen. Deutsch kann er nicht sehr gut, muss er auch nicht, weil er am Flughafen arbeitet, weil hier internationaler Luftraum ist, auch nachts, wenn nichts fliegt, außer im Sommer ein paar Falter, die sich in die Hallen verirrten. Menschen wie ich, sagt Mr. Singh, die nachts arbeiten und am Tag schlafen, fallen die Augen aus dem Kopf. Glauben Sie mir, junger Mann, das ist schon mein fünftes oder sechstes Paar Augen, das Sie hier vor sich sehen. Mit diesen Augen, die frisch und jugendlich zu sein scheinen, schaut er mir seit geraumer Zeit zu, wie ich meine Schreibmaschine bearbeite. Er scheint sehr aufmerksam und tatsächlich interessiert zu sein. Ich erzähle ihm vom Erfinden. Dass das ein wenig wie Fliegen sei. Sobald man einmal losgeflogen ist, kann man nicht einfach wieder aufhören, das wäre eine Katastrophe. Also, sage ich, dass ich mich sehr frei fühle, indem ich notiere. Und ich denke: Diese schönen Augen, wie sie mich sanft betrachten. Und ich erzähle weiter davon, dass ich einen Mann erfunden habe, der Bienen beobachtet. Der Mann führe ein Funkgerät mit sich, er melde an ein Wettbüro, das sich im Seebad Brighton an der englischen Küste befindet, welche Strecken die Bienen fliegen, darauf könne man sein Glück setzen, große Beträge, kleine Beträge. Welche Blume wird die nächste sein, die Blüte einer Mohnblume oder die Blüte eines Löwenzahns? Feuernelken und Bergleberblümchen sind selten, mit Feuernelken und Bergleberblümchen kann man wohlhabend werden. Und wieder diese schönen Augen, wie sie mich betrachten, dunkelgoldene, große Augen, Augen in einem zierlichen Männergesicht, Augen, die Augen einer Frau sein könnten. Augenäpfel. — stop
Aus der Wörtersammlung: not
sandbox
echo : 22.05 — Durch einen Zufall bekomme ich einen Brief in die Hände, der mit einer bemerkenswerten Botschaft versehen wurde. Diese Botschaft ist, ob vorgesehen oder nicht, in Anschrift und Absenderangabe auf Vorder- und Rückseite des Briefes enthalten. Leicht oszillierende Schriftzeichen weisen auf eine ältere Person hin, die mit Tinte notierte in leuchtend blauer Farbe. ANSCHRIFT: An den britisch israelitischen Vertreter des USA – Geheimdienstes Ysolde de Kreis / Alster College / 99 Charletstreet / London W11CH / Great Britain. ABSENDER: Chosmo Lager 260754-L-10618 / NATO secret Truppen-Nachrichtendienst Oldenburg P3 / Neuinsterburgerweg 14 / Kiel. – Man könnte nun meinen, dass es sich bei diesem Brief um den Brief eines Verrückten handeln könnte, vor allem deshalb, weil der Brief in authentischem Auftrag gesendet zu sein scheint, ein Brief, der zu einem Irrläufer werden könnte, nicht zustellbar, aber auch ohne die Möglichkeit, seinen Absender wiederzufinden, weshalb jene Person, die notierte, davon ausgehen kann, dass der Brief seinen Empfänger erreichte und dass dieser nun, in der Art der Geheimdienste, unfreundlicher Weise nicht antwortete. Eine wundervolle, sehr wirkungsvolle Sandbox, die sich beliebig oft wiederholen lässt und immer wieder zu demselben, sich selbst bestätigendem Ergebnis führen wird. — Ja, so könnte das sein. Es ist Sonntag, es ist Abend. Ich sollte einmal einen oder zwei Tage in dem festen Vorsatz verbringen, mich selbst für eine Erfindung zu halten. — stop
raumzeitstelle
olimambo : 6.55 — Ich habe äußerst merkwürdig geträumt. Ich meinte, im Traum mich wiederum an einen Traum erinnert zu haben, in dem faltenlose Elefanten vorgekommen waren. Kaum wach geworden, suchte ich nach Spuren dieses Traumes in meinen Notizen und wurde bald fündig. Ich hatte tatsächlich am 23. August des vergangenen Jahres von einem Traum berichtet, in dem faltenlose Elefanten in Erscheinung traten. Als ich den kleinen Text aus dem Elefantenhaus damals verfasste, muss ich noch recht müde gewesen sein, weil ich seine Existenz beinahe vollständig vergessen habe und damit eben jenes Elefantenhaus, das kein gewöhnliches Elefantenhaus gewesen war, vielmehr ein Ort, den sehr seltsame Elefanten bewohnten. Das waren nämlich Elefanten ohne jede Falte, sie waren so glatt, als wären sie von Glas geblasen, helle Augen, die sich flink bewegten, peitschende kleine, faltenlose Schwänze, lautlos schwingende, faltenlose Rüssel, riesige haarlose Körper, grau, braun, rosa. Ich saß auf einer Bank in ihrer Nähe. Vögel stürmten unter dem Kuppeldach hin und her. Sobald sie versuchten sich auf dem Rücken eines der Elefantentiere niederzulassen, rutschten sie ab und landeten auf dem Boden. Ein weiterer Vogel saß auf meiner Schulter. Der Vogel war mit einem meiner Ohren beschäftigt, hackte kleinere Portionen aus der Muschel, knurrte zufrieden vor sich hin. Sobald das Ohr, um das sich der kleine Vogel bemühte, verschwunden war, holte ich aus meiner Hosentasche ein neues Ohr, befestigte das Ohr an meinem Kopf, und schon fraß der kleine Vogel weiter vor sich hin. Einmal kostete ich heimlich von einem der Ohren, die sich in meiner Hosentasche befanden. Schmerzen hatte ich keine. – Von wem habe ich das feine Wort Raumzeitstelle gehört? — stop
westbengalen luftpostbrief
ginkgo : 2.25 — Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete, fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorn auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. — Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. — stop
funkköpfe
romeo : 6.22 — Ein kleine Geschichte habe ich rasch zu erzählen. Sie ereignete sich gestern Abend gegen 22 Uhr. Ich war zu diesem Zeitpunkt außerordentlich müde geworden, hatte gerade einen Brief an einen Freund geschrieben, in dem ich von neurochirurgischen Konstruktionsarbeiten in Funkvogelköpfen berichtete, wie ich der Einpflanzung eines Peilsenders beigewohnt hatte genauer, von der Öffnung eines Möwenschädels, sowie ersten Flugsteuerungsversuchen, Abstürzen, aber auch geglückten Flugmanövern, Loopings, über welche sich jene erste unter den ferngesteuerten Möwen selbst vermutlich sehr gewundert haben dürfte. Kaum hatte ich den Brief fertig notiert, klingelte das Telefon. Ich wurde in meiner Konzentration gestört, und zwar genau in dem Moment, da ich die Adresszeile meines E‑Mailprogramms bearbeitete. Schon war es passiert, ich hatte meine E‑Mail versehentlich an das Büro Wladimir Putins geschickt, was nun eigentlich von meiner Position aus nicht sehr gefährlich ist, aber doch unangenehm, weil ich dorthin nicht in persönlicher Weise schreiben wollte, weil man nicht weiß, wer bei Putin in Moskau hereinkommende E‑Mails liest, und ob sie vielleicht übersetzt oder weitergeleitet werden. Interessanterweise beobachte ich nun mittels der Live-Version der Google–Analyticsmaschine, dass meine Particles – Texte seit Stunden von Moskau her betrachtet werden. Da ist ein ziemlich eigenartiges Gefühl, das sich schrittweise entfaltet. Bald früher Morgen. Die Amseln vor dem Fenster pfeifen. Ich habe mir eine Entenbrust gebraten. Sie dampft wunderschön auf einem Teller vor mir auf dem Tisch. Ja, eine wirklich unheimliche Geschichte ist das, die Vögel, die Köpfe, der Kreml. — stop
vom rechnen
echo : 6.57 — Als Kind beobachtete ich meinen Vater manchmal, wenn er schlief. Aber eigentlich schlief mein Vater damals nie, weil ich glaubte, dass mein Vater, sobald er seine Augen schloss, zu rechnen begann. Das waren komplizierte Prozeduren der Algebra, weswegen mein Vater für viele Stunden seine Augen nicht wieder öffnen konnte. Er lag ganz still rechnend auf dem Sofa im Wohnzimmer, vor allem an Sonntagnachmittagen oder an Wochentagen abends. Meistens hatte er zum Rechnen seine Schuhe ausgezogen. Ich erinnere mich an graue oder schwarze Strümpfe, die sich ein wenig bewegten. Natürlich rechnete mein Vater auch dann, wenn er wieder wach geworden war. Er besaß eine Handcomputermaschine von Texas Instruments, die über Leuchtschrift verfügte in roter Farbe, kleine Zeichen, die sich arbeitend so schnell bewegten, dass sie unbewegten Kreisen ähnlich wurden. Wenn mein Vater mit dieser Maschine rechnete, machte er sich Notizen mittels eines Bleistiftes auf kariertes Papier. Das schien sehr viel mühsamer zu sein, als mit geschlossenen Augen auf dem Sofa zu liegen, weil man sich in dieser Weise Notizen machen musste. Wenn ich wie mein Vater sein wollte, legte ich mich auf mein Bett und machte die Augen zu. Damals war bereits deutlich geworden, dass ich kein guter Mathematiker werden würde. Anstatt zu rechnen, träumte ich. Ich träumte vielleicht davon, dass ich nicht rechnen konnte. Gestern habe ich von etwas anderem geträumt. Ich habe geträumt, wie ich die Augenlider meines Vaters wenige Minuten nachdem er gestorben war mit zitternden Händen berührte. — stop
apfelohren
delta : 6.35 — Gestern hab ich eine lustige E‑Mail bekommen. Sie war irgendwann, während ich schlief, auf meinem Computer lautlos eingetroffen. Die Person, die mir geschrieben hatte, wollte wissen, wie ich vorgehe, wenn ich nachts einen Apfel oder eine Aprikose oder Bananen belausche. Ich hatte zunächst einige triftige Gründe auf diese Frage nicht einzugehen, gerade auch deshalb, weil der Absender der E‑Mail, einen seltsamen Namen angegeben hatte, dessen Existenz ich über die Google – Suchmaschine vergeblich zu prüfen suchte. Aber dann schien mir doch reizvoll zu sein, dem Absender der E‑Mail zu antworten. Ich notierte kurz und bündig, dass ich, wenn ich einen Apfel belausche, den Apfel in eine meiner Hände nehme, um ihn tatsächlich an eines meiner Ohren zu führen. Was man, wenn man in dieser Weise vorgeht, hören kann, ist natürlich zunächst das Rauschen des Blutes in den eigenen Ohrgefäßen, sonst aber nichts, abgesehen von Geräuschen vielleicht, die man sich gründlich vorzustellen vermag, Geräuschen organischen Zerfalls zum Beispiel, einem Pfeifen, einem Sausen oder den Beißgeräuschen eines Wurmkiefers in größerer Apfeltiefe. Ich attestierte in einem Antwortschreiben sehr ernsthaft, dass ein Apfel ein stilles Wesen sei, immerhin habe ich nicht nur einen, ich habe mindestens fünf Äpfel belauscht, Birnen, Trauben, Bananen, Pfirsiche, alle sind sie ohne tatsächliche Geräusche in den Frequenzen menschlichen Hörvermögens. Dafür leg ich eine Hand ins Feuer, jawohl, es ist Montag: Rasende Wolken. — stop
eine geschichte die mein vater einmal las
nordpol : 6.46 — An einem Sonntag neulich habe ich in Texten gelesen, die ich während der vergangenen Jahre an genau dieser Stelle sendete. Manche dieser Texte waren mir vertraut, andere wirkten, als wären sie von einem Fremden geschrieben. Gemein war ihnen, dass mein Vater sie noch mit eigenen Augen gelesen haben könnte. Wie der alte Mann zu seinem Computer wandert. Wie er auf einer Treppe steht, Rede an sein linkes Bein: Beweg Dich! Einmal rief mein Vater mich an. Ein Text hatte ihm gefallen. Es ist eigenartig, der Text, der meinem Vater gefallen hatte, erzählt heute noch immer dieselbe Geschichte und doch ist alles ganz anders geworden. Ich hatte Folgendes notiert: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht sind oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, so dass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist sehr gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf. — stop
meeresnähe
~ : malcolm
to : louis
subject : MEERESNÄHE
date : july 1 12 4.12 p.m.
Wir übermitteln eine Notiz für Sie, der Sie vielleicht auf Nachrichten von uns warten werden. Wir sitzen in diesem Moment mit unseren Funkempfängern im Central Park, Höhe 87. Straße nahe Onassisreservoir. Frankie wieder in Freiheit. Er scheint glücklich zu sein. War an diesem Tag viel unterwegs gewesen, umrundete zweifach den großen See, in dem er von Baum zu Baum segelte in großer Höhe. Wir folgten ihm in angemessenem Abstand, unsichtbar, und hatten doch immer wieder den Eindruck, Frankie würde auf uns warten. Es ist jetzt kurz nach vier Uhr. Schwüle, knisternde Luft. Der Himmel so dunkel, als wäre dort über uns schon Nacht geworden. Blitze in Meeresnähe. Frankie hockt unter einer Linde. Er schaut uns an. Leuchtende, fiebrige Augen. Sein kleiner, muskulöser Körper bebt. Wann war es zuletzt gewesen, dass wir ein solch prächtiges Eichhörnchen gesehen haben? – Ihr Malcolm. / codewort : leporello
empfangen am
1.07.2012
858 zeichen
eiszimmer
sierra : 6.52 — Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollte ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen, man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. — stop