Aus der Wörtersammlung: seite

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lamelleniris

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fox­trott : 15.07 — Die Such­ma­schi­ne, von der ich ges­tern noch träum­te am hell­lich­ten Tag, war so groß wie eine Streich­holz­schach­tel. Sie hock­te auf mei­nem Sofa und rühr­te sich nicht. Indem ich sie betrach­te­te, wirk­te sie zunächst so, als wäre sie voll­kom­men unbe­weg­lich, denn es waren an dem Such­ma­schi­nen­we­sen kei­ne Bei­ne zu erken­nen, dafür an jeder Sei­ten­flä­che ein klei­nes Auge, mit dem es sogar zwin­kern konn­te. Sei­ne Haut ähnel­te der Haut eines jun­gen Ele­fan­ten, es hat­te jedoch kei­ne Ohren und auch kei­ne Arme oder Hän­de, tat­säch­lich wirk­te das Wesen in die­sem Moment als könn­te es sich nicht von der Stel­le bewe­gen. Welch ein Irr­tum! Das Wesen konn­te ganz anders, es konn­te sich zum Bei­spiel von mei­nem Sofa erhe­ben und durch die Luft fah­ren wie ein Bal­lon. Dazu hol­te es tief Luft, wur­de grö­ßer und immer grö­ßer, bis es in etwa dop­pelt so groß gewor­den war wie zuvor. In die­ser neu­en Gestalt flog die klei­ne Such­ma­schi­ne in Rich­tung mei­nes Bücher­re­gals davon. Es war nun in die­sem Flug kein Geräusch zu hören, voll­kom­men laut­los schweb­te sie durch mein Zim­mer, wur­de von einem Luft­zug kurz aus der Bahn gewor­fen, fing sich wie­der und ich rief ihr noch zu: Lamel­le­ni­ris! Es war erstaun­lich, ein klei­nes Wun­der. Das Wort schien sie zu beschleu­ni­gen, sie erreich­te rasch mein Regal und flog von links nach rechts die Rei­he der Buch­rü­cken ent­lang, hielt vor jedem der Bücher ein­mal kurz an, und sie erweck­te den Ein­druck, als ob sie sich in jedem die­ser Momen­te tat­säch­lich mit dem Buch selbst beschäf­tig­te, in das Buch hin­ein­sah oder von sei­nem Duft kos­te­te, wie auch immer. Nach eini­gen Flü­gen auf und ab, hielt sie vor einem der Bücher an, es han­del­te es sich um eine klei­ne Geschich­te der Foto­gra­fie, die von Peter Nadas auf­ge­schrie­ben wor­den war. Nun wird man nicht glau­ben, was dann zu sehen war. Die klei­ne Such­ma­schi­ne mach­te sich an dem Buch zu schaf­fen, sie schien über unsicht­ba­re Werk­zeu­ge zu ver­fü­gen, ein Buch in den Griff zu bekom­men. Und das Buch parier­te, es ließ sich aus dem Regal­fach lösen und flog mit der klei­nen Maschi­ne, die sich unter das Buch bege­ben hat­te, durch den Raum zu mir zurück, um in mei­ner Nähe sanft zu lan­den. Behut­sam setz­te sie sich neben das Buch, das sie für mich her­bei­ge­holt hat­te und bedeu­te­te mir mit stil­lem Nach­druck: Schau her, hier ist das Buch, in dem das Wort Lamel­le­ni­ris ent­hal­ten ist. Und so waren wir immer­hin schon einen Schritt wei­ter als noch zuvor. — stop

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josephine besucht chelsea

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ulys­ses : 15.07 — Ich erin­ne­re mich an einen Tag im Mai des Jah­res 2010, als Jose­phi­ne und ich durch den Cen­tral Park spa­zier­ten. Es war ein war­mer Tag gewe­sen, ein Tag, an dem Wasch­bä­ren ihre Ver­ste­cke im Unter­holz flüch­te­ten, um den Som­mer zu begrü­ßen. Nie zuvor hat­te ich Wasch­bä­ren per­sön­lich gese­hen, und auch an die­sem Tag hat­te ich kaum Zeit, sie zu beob­ach­ten, weil die betag­te Dame an mei­ner Sei­te süd­wärts dräng­te. Gut gelaunt schien sie ihr Alter nicht im min­des­ten zu spü­ren, und so folg­ten wir der 8th Ave­nue Rich­tung South Fer­ry, pas­sier­ten die Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, das zen­tra­le Post­amt und die Penn Sta­ti­on, um nahe dem Joy­ce-Thea­ter in die 18th Stra­ße ein­zu­bie­gen. Bei­na­he zwei Stun­den waren wir bis dort­hin unter­wegs gewe­sen, es däm­mer­te bereits. Vor dem Haus 264 West blieb Jose­phi­ne ste­hen. Sie hol­te ihr Tele­fon aus der Hand­ta­sche und mel­de­te mit lau­ter Stim­me, dass sie bereits unten vor dem Haus ste­hen wür­de und abge­holt zu wer­den wün­sche! Ein Herr, in etwa dem­sel­ben Alter, in dem sich Jose­phi­ne befand, öff­ne­te uns kurz dar­auf die Tür. Er war mit einem Haus­man­tel beklei­det, der in einem tie­fen Blau leuch­te­te, hat­te kei­ner­lei Haar auf dem Kopf und trug Turn­schu­he. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich wun­der­te über sei­ne gro­ßen Füße, denn der Mann, den mir Jose­phi­ne mit dem Namen Valen­tin vor­stell­te, war eher zier­lich, wenn nicht klein gera­ten. Wäh­rend wir eine enge Trep­pe in den sechs­ten Stock hin­auf­stie­gen, dach­te ich an die­se Schu­he und auch dar­an, ob ich selbst in ihnen über­haupt lau­fen könn­te. Bald tra­ten wir durch eine schma­le Tür, hin­ter der sich ein Raum von uner­war­te­ter Grö­ße befand, ein Saal viel­mehr, mit einer hohen Decke und einem gut gepfleg­ten Boden von Holz, der nach Oran­gen duf­te­te. Lin­ker Hand öff­ne­te sich ein Fens­ter, das die gesam­te Brei­te des Rau­mes füll­te, mit einem groß­ar­ti­gen Aus­blick auf Chel­sea, auf Dach­gär­ten, Anten­nen und Satel­li­ten­wäl­der, ich glaub­te, vor einer Stadt ohne Stra­ßen zu ste­hen. Und da war nun die­ser alte Mann in sei­nem blau­en Haus­man­tel, der uns bat, auf einem Sofa Platz zu neh­men, wel­ches das ein­zi­ge Möbel­stück gewe­sen war, das ich in dem Raum ent­de­cken konn­te. Ein paar Was­ser­fla­schen reih­ten sich an einer der Wän­de, die von Back­stein waren, von hel­lem Rot, und an die­sen Wän­den waren nun Papie­re, Foto­ko­pien von Buch­sei­ten, genau­er, akku­rat anein­an­der gereiht, sodass sie die Wän­de des Saa­les bedeck­ten. Jose­phi­ne schien sehr berührt zu sein von die­sem Anblick. Sie saß mit durch­ge­drück­tem Rücken auf dem Sofa und bewun­der­te das Werk ihres Freun­des, der uns zu die­sem Zeit­punkt bereits ver­ges­sen zu haben schien. Er stand vor einer der Buch­sei­ten und las. Es han­del­te sich um ein Papier des 1. Band der Entde­ckungs­rei­sen nach Tahi­ti und in die Süd­see von Georg Fors­ter in eng­li­scher Über­set­zung. Und wie wir den alten Mann beob­ach­te­ten, erzähl­te mir Jose­phi­ne, dass er das mit jedem der Bücher machen wür­de, die er lesen wol­le, er wür­de sie ent­fal­ten, ihre Zei­chen­li­nie sicht­bar machen, er lese immer im Ste­hen, er sei ein Wan­de­rer. — stop

jose­phi­ne

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schneeechsen

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ulys­ses : 6.55 — Im Traum spa­zie­re ich die win­ter­li­che Küs­te der Sta­ten Island Insel ent­lang. San­di­ger Boden, Strand, der unter mei­nen Füßen knis­tert. Es ist sehr kalt, der Schnee in der Nähe des Was­sers geschmol­zen, land­ein­wärts aber türmt er sich, Wehen, die Kie­fer­bäu­me, die gan­ze Häu­ser ver­schlu­cken. An mei­ner Sei­te wan­dert eine alte, hoch­ge­wach­se­ne Frau. Sie erzählt in rasen­der Geschwin­dig­keit eine Geschich­te, die ich nicht wirk­lich wahr­neh­men kann, weil ich ihre Spra­che nicht ver­ste­he. Aber das scheint die alte Frau nicht wei­ter zu küm­mern, viel­leicht erzählt sie nur des­halb unent­wegt vor sich her, damit ich ihre Stim­me hören kann und sie in der Dun­kel­heit nicht ver­lie­re. Tat­säch­lich ist fast licht­lo­se Nacht, nur ein hal­ber Mond und ein paar grö­ße­re Schif­fe weit drau­ßen, die in Rich­tung des offe­nen Atlan­tiks fah­ren. Ich erin­ne­re mich, dass die alte Frau eine Pelz­müt­ze und einen Pelz­man­tel trägt, som­mer­li­che Schu­he, Sport­schu­he und kei­ner­lei Strümp­fe. Um sie her­um flit­zen Eidech­sen, sie schei­nen ihr zu fol­gen, weiß sind sie wie der Schnee, aus dem sie gekom­men sind. Wenn ich mich bücke, kom­men sie neu­gie­rig näher, ich kann sie auf­he­ben, ich kann sie zer­bre­chen, sie tra­gen schnee­wei­ße Zun­gen in ihren klei­nen Mün­dern und sie fau­chen und tau­en, sobald ich sie in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cke. In die­sem Moment mei­ne ich, die alte Frau mit einem Namen ange­spro­chen zu haben, an den ich mich nicht erin­nern kann. Ein­mal bleibt sie ste­hen, kau­ert sich auf den Boden, singt lei­se eine Melo­die vor sich hin, der Faden ihrer Stim­me wird sicht­bar in der fros­ti­gen Luft. Jetzt hebt sie Stei­ne aus dem Sand, schich­tet sie über­ein­an­der, sodass sie Tür­me bil­den, die sich in der Dun­kel­heit wie Wäch­ter­we­sen, wie Mah­nen­de beneh­men. Ein hell beleuch­te­tes Fähr­schiff fährt dicht am Ufer ent­lang. Ich sehe Men­schen, die tan­zen. Das Schiff wird von wei­te­ren Men­schen gezo­gen, die im eis­kal­ten Was­ser schwim­men. — stop

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nachtgecko

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alpha : 2.28 — Das Muse­um der Nacht­häu­ser befin­det sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, die den New Yor­ker Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Ran­di­lis Island ver­bin­det. Ich weiß nicht, ob das Muse­um noch immer exis­tiert, es war oder ist ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, und der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen konn­te. Wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges, zufäl­lig, ent­deck­te ich die­ses Muse­um, von dem ich nie zuvor hör­te. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag, ich muss­te etwas war­ten, weil das Muse­um nicht vor Ein­bruch der Däm­me­rung öff­nen wür­de, ein Muse­um für Nacht­men­schen eben, die in Nacht­häu­sern woh­nen, wel­che erfun­den wor­den waren, um Nacht­men­schen art­ge­rech­tes Woh­nen zu ermög­li­chen. Als das Muse­um dann end­lich öff­ne­te, war ich schon etwas müde gewor­den, und weil ich der ein­zi­ge Besu­cher gewe­sen, führ­te mich ein jun­ger Mann per­sön­lich her­um. Er war sehr gedul­dig, war­te­te, wenn ich wie wild in mein Notiz­buch notier­te, weil er span­nen­de Geschich­ten erzähl­te von jenen merk­wür­di­gen Gegen­stän­den, die in den Vitri­nen des Muse­ums ver­sam­melt waren. Von einem die­ser Gegen­stän­de will ich kurz berich­ten, von einem metal­le­nen Wesen, das mich an eine Kreu­zung von Gecko und Spin­ne erin­ner­te. Das ver­ros­te­te Ding war von der Grö­ße eines Schuh­kar­tons. An je einer Sei­te des Objekts saßen Bei­ne fest, die über Saug­näp­fe ver­füg­ten, eine Kame­ra thron­te oben­auf wie ein Rei­ter. Der jun­ge Mann erzähl­te, dass es sich bei die­sem Gerät um ein Instru­ment der Ver­tei­di­gung han­del­te, aus einer Zeit, da Nacht­men­schen mit Tag­men­schen noch unter ein und dem­sel­ben Haus­dach wohn­ten. Das klei­ne Tier saß in der Vitri­ne in einer Hal­tung, als wür­de er sich ducken, als wür­de es jeder­zeit wie­der eine Wand bestei­gen wol­len. Das war näm­lich sei­ne vor­neh­me Auf­ga­be gewe­sen, Zim­mer­wän­de zu bestei­gen in der Nacht, sich an Zim­mer­de­cken zu hef­ten und mit klei­nen oder grö­ße­ren Ham­mer­werk­zeu­gen Klopf- oder Schlag­ge­räu­sche zu erzeu­gen, um Tag­men­schen aus dem Schlaf zu holen, die ihrer­seits weni­ge Stun­den zuvor noch durch ihre erbar­mungs­los har­ten Schrit­te den Erfin­der der Geck­oma­schi­ne, einen Nacht­ar­bei­ter, aus sei­nen Träu­men geris­sen haben moch­ten. Es war, sag­te der jun­ge Mann, immer so gewe­sen damals in die­ser schreck­li­chen Zeit, dass sich Tag­men­schen sicher fühl­ten vor Nacht­men­schen, die unter ihnen leb­ten, die mit Schrit­ten Zim­mer­de­cken ihrer Woh­nung nie­mals erreich­ten. Aus und fini! - stop

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georges perec

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tan­go : 22.01 — Fol­gen­des. Immer gegen 8 Uhr in der Früh bre­chen wir auf, Geor­ges und ich. Wir gehen ein paar Schrit­te über die Rue de Javel, neh­men die 6er-Metro durch den Süden, stei­gen dann um in Rich­tung Por­te Dau­phin, fah­ren mal unter, mal über der Erde im Kreis her­um, bis es Abend oder noch spä­ter gewor­den ist. So kann man gut sit­zen, zufrie­den, durch­ge­schüt­telt, Sei­te an Sei­te für vie­le Stun­den, und Men­schen betrach­ten, wie sie her­ein­kom­men, Fahr­gäs­te, wie sie im Wag­gon Platz neh­men, wie sie beschaf­fen sind, davon legen wir Ver­zeich­nis­se an, Geor­ges ein Ver­zeich­nis, und ich ein Ver­zeich­nis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Ver­zeich­nis aller Erschei­nun­gen eines Rau­mes anzu­le­gen, der nicht gera­de erfun­den wird, eines Rau­mes, der sich fort­be­wegt, der betre­ten und ver­las­sen wird von Men­schen im Minu­ten­takt, das Ver­zeich­nis eines Rau­mes, des­sen Fens­ter sich von Sekun­de zu Sekun­de neu bespie­len, weil es also unmög­lich ist, das Ver­zeich­nis eines wirk­li­chen Rau­mes anzu­le­gen, machen wir das so: in der ers­ten Stun­de des Rei­se­ta­ges notie­ren wir ein Ver­zeich­nis der zuge­stie­ge­nen Kra­wat­ten, in der zwei­ten ein Ver­zeich­nis der Schu­he und der Strümp­fe, ein Ver­zeich­nis, sagen wir, der Geh­werk­zeu­ge und ihrer Beklei­dung, dann ein Ver­zeich­nis der Haar­trach­ten, der Taschen, der Metho­den sich im fah­ren­den Zug einen siche­ren Stand zu ver­schaf­fen, der Gesprächs­ge­gen­stän­de, der Art und Wei­se sich zu küs­sen, zu strei­ten, oder aber ein Ver­zeich­nis absei­ti­ger Gestal­ten, ein Ver­zeich­nis der Die­be, der Bett­ler, der Posau­nis­ten, der Ver­wirr­ten ohne Ziel, je ein Ver­zeich­nis der Spra­chen und klei­ner Geschich­ten, die wir aus der all­ge­mei­nen Bewe­gung zu iso­lie­ren ver­mö­gen. Von Zeit zu Zeit, wäh­rend wir so fah­ren und notie­ren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Geor­ges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel ver­schluckt, als lache er nur des­halb, weil er Made­moi­sel­le Moreau wie­der frei­las­sen wol­le. Dann weiß ich, Geor­ges hat etwas gefun­den, das er mir abends in irgend­ei­nem Café, wenn wir fer­tig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser bei­der Köp­fe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen auf­be­wah­ren lässt, vor­tra­gen wird, – „Auf Kra­wat­te gelb, zehn­zwei, leben­de Amei­se, argen­ti­nisch, kreuz und quer. Der Code­na­me Ser­vals war Lou­viers“, sagt Geor­ges und hebt sein Glas. Fünf Glä­ser Pas­tis, fünf Glä­ser Was­ser, – dann sind wir wie­der leicht gewor­den, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, neh­men wir den letz­ten Über­land­zug nach Nor­den oder den 11er nach Süden, dort­hin, wo die Feu­er­nel­ken blühn, und wenn es end­lich Mor­gen gewor­den ist, stei­gen wir um, öff­nen die Fens­ter und fah­ren nach Wes­ten in unse­rer Wind­ma­schi­ne spa­zie­ren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewit­ter auf­stei­gen und Schwe­fel vom Him­mel kom­men und wei­ßes Licht, das die Land­schaft ent­zün­det. So haben wir schon sehr schö­ne Gedan­ken über das Feu­er gefan­gen und über das Schlag­zeug in die­sem gewal­ti­gen Raum, der über uns hängt, einem Raum, des­sen zen­tra­les Ver­zeich­nis von nicht mensch­li­chen Maßen ist, sodass wir bald nur schwei­gen und auf ent­fern­te Men­schen schau­en, auf Sze­nen im rasen­den Vor­über­kom­men, auf Fil­me, die in unse­ren Hin und Her has­ten­den Augen der­art kur­ze Fil­me sind, dass sie einer Foto­gra­fie sehr nahe kom­men, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbe­wegt. Es ist ganz so, als wür­den wir an einer gewal­ti­gen Auf­nah­me der Zeit vor­über kom­men, an einer Foto­gra­fie, deren Gegen­wart wir nicht berüh­ren, weil wir nicht aus­stei­gen kön­nen, ohne das Leben zu ver­lie­ren, weil wir zu schnell, weil wir in einer ande­ren Zeit sind. — stop / kof­fer­text

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zählmarken No 1 und No 2

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sier­ra : 16.52 — Bei der Behör­de für Wort­ver­wer­tung mel­de­te sich am Tele­fon eine weib­li­che Stim­me. Die Stim­me sprach so lei­se, dass ich zunächst glaub­te, in mein Tele­fon­ge­rät hin­ein­ru­fen zu müs­sen, um die Stim­me auf der ande­ren Sei­te der Lei­tung errei­chen zu kön­nen. Wor­um es denn gehe, woll­te man wis­sen. Ich ant­wor­te­te, dass es dar­um gehen wür­de, dass ich im Moment ver­such­te zu ver­ste­hen, wo genau ich jene klei­nen Zähl­pro­gramm­ma­schi­nen in mei­ne Tex­te ein­zu­bau­en habe, damit sie von Ihnen, von der Wort­ver­wer­tungs­be­hör­de, mit der ich gera­de spre­che, wahr­ge­nom­men und als gül­tig bewer­tet wer­den könn­ten. Ein Gespräch ent­wi­ckel­te sich. Das Gespräch dau­er­te fünf Minu­ten. Im Ver­lau­fe die­ses Gesprä­ches wur­de mei­ne Stim­me lei­ser und lei­ser, die Stim­me auf der ande­ren Sei­te der Lei­tung lau­ter und lau­ter. Jetzt, da das Gespräch oder die Unter­hal­tung zu einem Ende gekom­men ist, mei­ne ich Fol­gen­des ver­stan­den zu haben: Wenn ich einen Text notie­re, der eine Gedan­ken­be­we­gung nach­voll­zieht, darf die­se Gedan­ken­be­we­gung nicht unter­bro­chen sein, also plötz­lich das The­ma wech­seln oder den Ein­druck ver­mit­teln, als wür­de ein Teil der Denk­be­we­gung feh­len, also eine durch Ent­fer­nung eines Text­ab­schnit­tes künst­li­che Unter­bre­chung erfolgt sein, wes­we­gen es sich nicht mehr um einen Text, also um einen Gedan­ken han­deln wür­de, son­dern um einen zwei­ten Text, also um einen zwei­ten Gedan­ken, der mit ers­te­rem Gedan­ken in kei­ner Ver­bin­dung ste­hen wür­de, wes­halb die­ser zwei­te Text eine wei­te­re, eine zwei­te Zähl­pro­gramm­ma­schi­ne in Form eines Codes benö­ti­gen wür­de, um als eine Ein­heit wahr­ge­nom­men zu wer­den. Des Wei­te­ren ist mir deut­lich gewor­den, dass ein Gedan­ke nicht beglei­tet sein darf, von wei­te­ren Gedan­ken, die an etwas ande­res den­ken, wäh­rend sich der ers­te Gedan­ke im Hin­ter­grund wei­ter­be­wegt, um ande­rer Stel­le wie­der her­vor­zu­kom­men. Ich habe nun zunächst einen klei­nen Kno­ten im Kopf. Fünf Gramm. — stop

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dos passos’ lesebrille

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del­ta : 22.01 — In dem Moment, da ich beim Augen­op­ti­ker mei­nen Wunsch nach einer Lese­bril­le vor­ge­tra­gen hat­te, war ich etwas ver­le­gen gewe­sen, als ob ich plötz­lich uralt gewor­den sei und etwas an Bedeu­tung ver­lo­ren hät­te. Ich sag­te nun zu dem Mann, der hin­ter dem Tre­sen stand: Hören Sie, ich benö­ti­ge eigent­lich noch kei­ne Bril­le. Ich sehe, glau­be ich, noch gut nach nah und fern. Aber ich möch­te ger­ne die­ses Buch hier lesen. Ich leg­te John Dos Pas­sos’ Roman Man­hat­tan Trans­fer auf den Tre­sen ab, genau­er gesagt, Dos Pas­sos’ Roman in der deut­schen Taschen­buch­aus­ga­be des Rowohlt Ver­la­ges, ein Buch, dem sofort anzu­se­hen ist, dass man Papier spa­ren woll­te, eine ehren­wer­te Hand­lung, um Urwäl­der vor der Ver­nich­tung zu bewah­ren, das ist denk­bar. Man kann sich das so vor­stel­len: Die Zei­chen, die im Kör­per des Buches zu fin­den sind, sind äußerst klein gera­ten, alle Zei­len lie­gen dicht zuein­an­der und span­nen sich tat­säch­lich fast voll­stän­dig vom lin­ken bis zum rech­ten Rand der Sei­te. Es ist ein dicht bedruck­tes Buch, eine bei­na­he dunk­le Erschei­nung. Kön­nen Sie mir even­tu­ell mit einer pas­sen­den Bril­le wei­ter­hel­fen, frag­te ich den Opti­ker vor­sich­tig. Wis­sen Sie, wie ich bereits erwähn­te, ich benö­ti­ge eigent­lich noch kei­ne Bril­le! Der Opti­ker nahm also das Buch in die Hand, wog es hin und her, öff­ne­te es, warf einen kur­zen Blick auf die ers­te Sei­te des Romans und lächel­te, ich soll­te ihm fol­gen. Im Maga­zin, – es war ein gro­ßes, erheb­li­ches, ja ein bedeu­ten­des Waren­la­ger -, führ­te er mich Schub­la­den­wän­de ent­lang, die bis unter die Decke reich­ten, es roch sehr gut, etwas nach Alko­hol und etwas nach fei­nen Motor­ölen. Nach einer Wei­le blieb er ste­hen und deu­te­te auf eine der Schub­la­den. Dort stand, gleich­wohl in sehr klei­ner Schrift geschrie­ben: Dos Pas­sos / Man­hat­tan Trans­fer. Wie er nun die Schub­la­de öff­ne­te, lagen dicht an dicht eini­ge schö­ne Lese­bril­len in ver­schie­de­nen Far­ben und Grö­ßen und For­men. Über Dos Pas­sos’ Bril­len­schub­la­de war ein Fach mit der Beschrif­tung: Samu­el Beckett / Gesam­mel­te Roma­ne zu erken­nen. Gleich rechts davon lager­ten Ulys­ses’ Bril­len. – stop

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anton voyls fortgang

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del­ta

~ : oe som
to : louis
sub­ject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.

Es ist gekom­men, wie ich es erwar­tet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm Geor­ge Perecs Roman Anton Voyls Fort­gang in die Tie­fe geschickt. Es han­delt sich in unse­rer Ver­suchs­an­ord­nung um das Unter­was­ser­buch No 282, ein Buch, in dem der Buch­sta­be E auf 320 Sei­ten nicht erschei­nen wird. Kurz nach­dem Noe sei­ne Lek­tü­re mit fes­ter Stim­me auf­ge­nom­men hat­te, ver­such­ten wir vor­her­zu­se­hen, wie lan­ge Zeit Noe lesen wür­de, ehe er das voll­stän­di­ge Feh­len eines bedeu­ten­den Buch­sta­bens im Text bemerkt haben wür­de. Er las etwa 10 Minu­ten, dann hör­te er auf, sei­ne Stim­me wur­de zunächst lei­ser, er dehn­te die Wor­te, sag­te, dass ihm etwas merk­wür­dig vor­kom­men wür­de, er kön­ne bis­her nicht sagen, was genau ihm merk­wür­dig erschei­ne, er müs­se nach­den­ken. Wir sit­zen jetzt alle vor den Laut­spre­chern und Bild­schir­men und war­ten. Im Schein der Lam­pe, die Noe und das Buch, das er in sei­nen schwe­ren Hän­den hält, beleuch­tet, sehen wir, dass er sich lang­sam bewegt. Er scheint im Buch zu blät­tern. Er scheint über­haupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Mee­res­tie­fe von 820 Fuß schwe­bend, ein guter Beob­ach­ter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Däm­me­rung, wenn Tag gewor­den ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besu­chen. Ich neh­me an, Noe wird oft an uns den­ken. Er hört uns zu, hört, was wir spre­chen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir ver­ges­sen haben, das Mikro­fon aus­zu­schal­ten. An der Art und Wei­se wie wir atmen, ver­mag Noe zu unter­schei­den, ob Lin, Eric, Mar­tin, Tom, Lil­ly oder ich vor dem Mikro­fon Platz genom­men haben. Gera­de eben beginnt er wie­der zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurück­ge­kehrt zu sein: In Roca­ma­dour gabs Mund­raub sogar am Tag: man fand dort Thun­fisch, Milch und Scho­ko­bon­bons im Kilo­pack. Und wie­der schweigt Noe. Es ist spä­ter Abend. Sams­tag. Ein Fracht­schiff, hell beleuch­tet, lun­gert am Hori­zont. Ahoi, lie­ber Lou­is. Dein OE SOM

gesen­det am
10.11.2012
1856 zeichen

oe som to louis »

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eine hand

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india : 5.02 — Mei­ne Hand am frü­hen Mor­gen, wie sie sich bewegt. Immer wie­der erstaun­lich. Vor weni­gen Stun­den noch habe ich von der Vor­stel­lung erzählt, ein­mal in der Art und Wei­se der Eidech­sen einen Fin­ger von mir wer­fen zu kön­nen, schmerz­frei und ohne Furcht in dem Wis­sen, dass jedes zur Sei­te geleg­te Glied mir bald wie­der nach­wach­sen wird.  — stop

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rom : taschen

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marim­ba : 22.05 — Man wird viel­leicht nicht sofort bemer­ken, dass man sich in einem Jagd­ge­sche­hen befin­det. Nein, von Jägern ist auf der Piaz­za Navo­na zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zau­ber­haf­ter Platz, läng­lich in der Form, drei Brun­nen, eine Kir­che, und Cafés, eines nach dem ande­ren, klei­ne­re Läden, in wel­chen wir Pas­ta in allen mög­li­chen For­men und Far­ben ent­de­cken, Wei­ne, Schin­ken, Käse. Am Abend flie­gen beleuch­te­te Pro­pel­ler durch die Luft. Maler, wel­che ent­setz­li­che Bil­der pro­du­zie­ren, erwar­ten ame­ri­ka­ni­sche Kun­den, sie sit­zen auf Klapp­stüh­len im Licht ihrer Glüh­lam­pen, die sie mit­tels Bat­te­rien mit Strom ver­sor­gen. Stra­ßen­mu­si­kan­ten sind da noch, mit ihren Ban­do­ne­ons, Gei­gen, Kon­tra­bäs­sen, und Ange­stell­te der Müll­ent­sor­gung, Frau­en, jün­ge­re Frau­en in wein­ro­ten Over­alls, ihre Hän­de sind gepflegt, ihre Fin­ger­nä­gel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Rich­tung jener schwarz­häu­ti­gen jun­gen Män­ner blickt, die vor einem der Brun­nen den Ver­such unter­neh­men, ihre Arbeit zu ver­rich­ten, wird es ernst. Sie haben Hand­ta­schen in allen mög­li­chen For­men auf den Boden vor sich abge­stellt, je zwei Rei­hen, Behäl­ter von Pra­da, Picard, Cha­nel, Grif­fe der­art aus­ge­rich­tet, dass man sie mit je einer Hand­be­we­gung alle­samt sofort ergrei­fen und flüch­ten kann. Eine typi­sche Ges­te, sind doch jene arm­se­lig wir­ken­den Händ­ler der Luxus­ta­schen mehr oder weni­ger flüch­ten­de Wesen. Kaum haben sie ihre Anord­nung im Fla­nier­be­zirk mög­li­cher Kun­den sorg­fäl­tigst auf­ge­baut, raf­fen sie ihre Ware wie­der zusam­men und rasen in eine der Sei­ten­stra­ßen davon, um nach weni­gen Minu­ten wie­der her­vor­zu­kom­men, wie in einem Spiel, wie auf­ge­zo­gen. Am ers­ten Abend mei­ner Beob­ach­tun­gen auf der Piaz­za Navo­na, waren nur Flüch­ten­de zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigen­ar­ti­ge Situa­ti­on, aber schon am zwei­ten Abend war eine jagen­de Gestalt vor mei­nen Augen in Erschei­nung getre­ten. Es han­del­te sich um einen Haupt­mann der Cara­bi­nie­ri, um einen Herrn prä­zi­se mit äußerst auf­rech­tem Gang. Er trug wei­ße Strei­fen an sei­nen Hosen, und eine Uni­form­ja­cke, tadel­los, und eine Müt­ze, sehr amt­lich, er war eine wirk­li­che Zier­de, ein Staats­mann, wie er so über den Platz schritt, hin­ter den flüch­ten­den afri­ka­ni­schen Män­ner her, aus­dau­ernd, lau­ernd, ein Ansitz­jä­ger, möch­te ich sagen, einer, der an Stra­ßen­ecken war­tet, um die Wie­der­kehr der schwar­zen Händ­ler zu unter­bin­den oder um einen von ihnen ein­zu­fan­gen und an Ort und Stel­le unver­züg­lich zu ver­spei­sen. Stop. Frei­tag­abend. stop. Eine Bie­ne über­quert zur Unzeit den Platz in süd­li­che Rich­tung, als wär sie ein Zug­vo­gel. — stop
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