Aus der Wörtersammlung: eindruck

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rooseveltblüte

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sier­ra

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : ROOSEVELTBLÜTE
date : nov 22 13 8.15 p.m.

Am 22. Novem­ber berich­tet die New York Times über Eich­hörn­chen Fran­kie, das seit Wochen auf dem Hur­ri­ka­ne Deck der Sta­ten Island Fäh­re John F. Ken­ne­dy lebt. Wir konn­ten das nicht auf­hal­ten. Weder den Bericht selbst, noch eine Foto­gra­fie, die das Eich­hörn­chen zeigt, wie es auf einer Sitz­bank nach einem Fin­ger greift. Fran­kie scheint sich auf dem Schiff wohl­zu­füh­len. Viel­leicht ist es die Wär­me, viel­leicht sind es die Bewe­gun­gen der Fäh­re auf dem Meer, die ihm gefal­len. Natür­lich ist er längst zur Attrak­ti­on gewor­den, zum Stadt­ge­spräch, wird foto­gra­fiert und mit fri­schen Erd­nüs­sen ver­sorgt. Seit eini­gen Tagen nimmt Fran­kie gleich­wohl Bana­nen zu sich, zutrau­lich wagt er sich nah an die Pas­sa­gie­re der Fäh­re her­an, greift mit sei­nen Hän­den nach den Früch­ten, ver­mag sie zu öff­nen, duckt sich, has­tet mit sei­ner Beu­te je unter eine der Sitz­bän­ke, wes­halb zahl­rei­che Pas­sa­gie­re nie­der­knien, um Fran­kie nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. Ges­tern beob­ach­te­ten wir, wie ein Mäd­chen Fran­kie berüh­ren durf­te. Er zit­ter­te leicht, als das Kind mit einer Hand über sei­nen Rücken fuhr. Das Mäd­chen bemerk­te Fran­kies Sen­der, der dicht unter sei­ner Haut ver­bor­gen liegt, rasch zog es sei­ne Hand zurück. Es ist beun­ru­hi­gend, welch gro­ße Auf­merk­sam­keit Fran­kie genießt. Wir haben den Ein­druck, man­che der Pas­sa­gie­re fah­ren nur des­halb mit der Fäh­re, um Fran­kie besich­ti­gen zu kön­nen. Kaum noch kom­men wir an ihn her­an, ohne selbst foto­gra­fiert zu wer­den. Heu­te ist es sehr win­dig. Brook­lyn und New Jer­sey lie­gen im Nebel. Man könn­te glau­ben, dass wir uns auf hoher See befin­den. Die Schei­ben des Schif­fes schep­pern. Was­ser peitscht über die Vor­decks der Fäh­re. Men­schen mit Foto­ap­pa­ra­ten ste­hen im Wind und suchen nach Man­hat­tan. Etwas see­krank sen­de ich aller­bes­te Grü­ße aus New York – Mal­colm / code­wort : rooseveltblüte

emp­fan­gen am
23.11.2013
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polaroidbadende

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esmeralda

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tan­go : 22.08 — Vor zwei Tagen, spä­ter Nach­mit­tag, über­reich­te mir ein schwer atmen­der Bote ein Päck­chen, auf des­sen Anschrif­ten­sei­te mit wuch­ti­gen Druck­buch­sta­ben eine Anwei­sung notiert wor­den war: Do not shake! Der jun­ge Mann, viel­leicht um mich zu war­nen, deu­te­te auf die Schach­tel in sei­ner Hand und sag­te: Ich rie­che, dass in die­sem Päck­chen etwas lebt! Und schon war er wie­der auf der Trep­pe ver­schwun­den. Tat­säch­lich han­del­te es sich bei dem Päck­chen um einen Lebend­trans­port, der in der ita­lie­ni­schen Hafen­stadt Tala­mo­ne auf­ge­ge­ben wor­den war. Eine Schne­cke hock­te in einer per­fo­rier­ten Schach­tel geduckt unter wel­ken Blät­tern. Als ich das klei­ne Tier vor­sich­tig auf einen Tel­ler setz­te, mach­te es zunächst einen sehr müden, erschöpf­ten Ein­druck. Sein Haus schien bald vom Kör­per zu rut­schen, auch wur­de kei­ner­lei Flucht­ver­such unter­nom­men, statt­des­sen saß die Schne­cke nahe­zu ohne Bewe­gung und schau­te mich an. Selbst, als ich mich mit einem Fin­ger näher­te, zog sie sich nicht in ihr Kalk­ge­win­de zurück. Eine hal­be Stun­de lang betrach­te­ten wir uns gedul­dig. Dann war spä­ter Abend gewor­den, ich hat­te mehr­fach tele­fo­niert, der Schne­cke ein Apfel­stück­chen ange­bo­ten, das Pack­pa­pier, in wel­ches die Sen­dung ein­ge­schla­gen gewe­sen war, auf der Suche nach einer Bot­schaft oder einem Absen­der, ein­ge­hend unter­sucht, und war dann kurz spa­zie­ren gegan­gen. Indes­sen hat­te sich die Schne­cke in Rich­tung der Süd­wand mei­ner Küche in Bewe­gung gesetzt, war von dort aus, eine schim­mern­de Spur hin­ter­las­send, wei­ter zur Die­le hin gewan­dert, erreich­te dort den Boden, um eine hal­be Stun­de spä­ter mein Arbeits­zim­mer zu betre­ten. Der­art lei­se war die Schne­cke wei­ter­ge­zo­gen, dass ich sie bei­na­he ver­ges­sen hät­te. Dann war Sams­tag, der Sams­tag ver­ging, zwei wei­te­re Stück­chen Apfel, und es wur­de Sonn­tag und wie­der Abend und es begann zu reg­nen. In die­sem Moment sitzt die Schne­cke einen hal­ben Meter hoch über dem Fuß­bo­den an der Wand mei­nes Wohn­zim­mers. Sie scheint zu schla­fen. Wie­der­um ist sie nicht in ihrem Häus­chen ver­schwun­den, was höchst merk­wür­dig ist. — stop

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polaroidanemonen

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echo

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echo : 2.32 — Hör­te mei­ne den­ken­de Stim­me, sie flüs­ter­te, als ich erwach­te. Hat­te den Ein­druck, an einem Gedan­ken bereits gear­bei­tet zu haben, wäh­rend ich noch schlief. Das war ein selt­sa­mer Moment gewe­sen, weil ich immer wie­der ein­mal beob­ach­te­te, dass mei­ne den­ken­de Stim­me weder lei­ser noch lau­ter wer­den kann, dass ich, zum Bei­spiel, im Kopf nicht zu brül­len ver­mag, auch wenn ich es ernst­haft ver­su­che, es ist stets nur eine Gedan­ken­stim­me, die vor­gibt zu brül­len. Und doch flüs­ter­te es in der ers­ten Minu­te des gest­ri­gen Tages. Jetzt ist Frei­tag gewor­den, und ich wun­de­re mich noch immer. — stop
ping

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kekkola

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ulys­ses : 22.00 — Schnell erzäh­len, was ich ent­deck­te, als ich Kek­ko­la besuch­te, dem ich seit eini­gen Jah­ren ver­bun­den bin, weil er gern sehr selt­sa­me Din­ge tut. Eigent­lich ist er nicht son­der­lich ver­rückt, viel­mehr sind die Men­schen ver­rückt, von deren Leben Kek­ko­la erzählt. Ich habe kei­ne Ahnung, ob sie tat­säch­lich jemals exis­tier­ten, jeden­falls nimmt es Kek­ko­la sehr genau damit, sie zu ver­ste­hen, sich in sie ein­zu­füh­len. Ein­mal soll er drei Tage lang mit einem Luft­ge­wehr reg­los auf sei­nem Bal­kon gekau­ert haben. Er ziel­te gegen einen wei­te­ren Bal­kon, oder auf ein Fens­ter, das sich hin­ter die­sem Bal­kon befand. Er war­te­te. Es war im Win­ter gewe­sen und es war kalt im 38. Stock, ein Schnee­sturm pas­sier­te, ohne Kek­ko­la vom Bal­kon ver­trei­ben zu kön­nen. Als ich ges­tern mit ihm tele­fo­nier­te, hör­te ich im Hin­ter­grund Was­ser­ge­räu­sche. Ich frag­te, ob er zu Hau­se sei und ob ich vor­bei­kom­men sol­le. Ich hat­te den Ein­druck, dass er viel­leicht Fie­ber haben könn­te, weil er nicht sehr deut­lich for­mu­lier­te, schläf­rig und etwas irr. Also eil­te ich zu ihm. Er bemerk­te noch, dass er mir nicht öff­nen wür­de, weil er sich in einem Ver­such befän­de, der Schlüs­sel zur Woh­nung sei in der Lob­by abzu­ho­len. Kek­ko­la saß im Bad auf einem Stuhl vor sei­ner Wan­ne. Um ihn her­um auf dem Boden lagen Was­ser­fla­schen, auch Whis­key, Brot­stan­gen, Bücher und eine Decke, die ihm von den Schen­keln gerutscht sein muss­te. Sei­ne Füße stan­den in der Bade­wan­ne in Salz­was­ser, das von einer grün­li­chen Far­be war. Es roch moo­rig in der Zel­le gleich neben der Küche. Glück­li­cher­wei­se war Kek­ko­la noch am Leben. Er hat­te tat­säch­lich hohes Fie­ber. Ich bat einen Nach­barn um Hil­fe. Wir hoben sei­ne Bei­ne vor­sich­tig aus dem Was­ser, sie waren schwer ent­zün­det, an sei­nen Zehen begann sich die Haut vom Kör­per zu lösen, eine Blau­krab­be hat­te sich in sei­ne lin­ke Wade ver­bis­sen. Kekkola’s Füße stan­ken fürch­ter­lich, er fluch­te, wie wir ihn ins Schlaf­zim­mer schlepp­ten. Vier Tage hat­te er in beschrie­be­ner Hal­tung aus­ge­harrt, fünf Tage woll­te er schaf­fen. Als ich die Bade­wan­ne, der Aus­fluss war ver­stopft, von Hand aus­zu­schöp­fen begann, ent­de­cke ich einen jun­gen Horn­hecht, drei Atlan­ti­kaa­le, Sand­wür­mer, Glas­scher­ben, Schlick­gar­ne­len, Muschel­scha­len und fünf wei­te­re Blau­krab­ben, die sich hef­tig wehr­ten. — stop
polaroidpeaks

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echoes

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sier­ra : 5.28 — Eine Amei­se hat­te trotz der gro­ßen Höhe, in der sich mei­ne Woh­nung befin­det, zu mir gefun­den. Sie klet­ter­te vor­sich­tig gegen den Boden zu, tas­te­te sich über war­mes Holz, erreich­te ein Tisch­bein, um kurz dar­auf direkt vor mei­nen Augen zu erschei­nen. Viel­leicht wird sie mei­nen Atem wahr­ge­nom­men haben, einen Wind, denn sie duck­te sich kurz, ich hat­te den Ein­druck, dass sie mich betrach­te­te. Aber dann lief sie wei­ter, umrun­de­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne, kreuz­te über den Tisch, um auf der ande­ren Sei­te wie­der abzu­stei­gen und in der Dun­kel­heit des Fens­ters zu ver­schwin­den. Nur weni­ge Minu­ten spä­ter, ich hat­te das Zim­mer kurz ver­las­sen, beweg­te sich eine dun­kel schim­mern­de Amei­sen­her­de exakt auf dem Pfad, den zuvor das ein­sa­me Tier genom­men hat­te, durch den Raum. Ein doch äußerst bemer­kens­wer­ter Vor­gang. Mög­li­cher­wei­se hat­te es sich zunächst um eine Kund­schaf­ter­amei­se gehan­delt, die mich besuch­te. Ihre Brü­der, ihre Schwes­tern waren nun sehr ziel­stre­big in mei­nem Zim­mer unter­wegs. Ich mein­te, das Geräusch hun­der­ter Bei­ne ver­neh­men zu kön­nen. Sie tru­gen Papie­re in ihren Zan­gen wie Fah­nen. Tat­säch­lich waren Zei­chen oder Tei­le von Zei­chen auf der Amei­sen­beu­te zu erken­nen, die sie gleich hin­ter mei­ner Schreib­ma­schi­ne zu einem Berg schich­te­ten, um sofort wie­der zum Boden hin abzu­stei­gen. Nach einer hal­ben Stun­de, alle Amei­sen waren ver­schwun­den, schloss ich das Fens­ter. Ich hät­te schwö­ren kön­nen, mir den Besuch der Amei­sen nur ein­ge­bil­det zu haben, wenn nicht auf dem Tisch das Papier­werk der Wan­de­rer als Beweis zurück­ge­blie­ben wäre. Natür­lich mach­te ich mich sofort an die Arbeit. Eine Stun­de ver­ging, dann war ich mir sicher gewe­sen, dass es sich bei dem Arte­fakt auf mei­nem Tisch um eine ein­zel­ne, zer­teil­te Buch­sei­te han­deln muss­te. Vier wei­te­re Stun­den spä­ter hat­te ich die Sei­te und ihre Zei­chen rekon­stru­iert. Fol­gen­der Text wur­de sicher­ge­stellt: ZUVIEL / Die Welt ist „unzähl­bar“, gefüllt mit Din­gen, Büchern, Büchern, die über Din­ge spre­chen, / die Welt trägt zusam­men und die Bücher tra­gen zusam­men, was die Welt zusam­men­trägt, / und auf sei­nem Tisch Bücher und noch­mals Bücher zu sehen / und Foto­bü­cher, Kunst­bü­cher und Bücher, die von ande­ren Büchern reden, und sich nun selbst eben­falls anschi­cken, die Welt auf einem Blatt Papier zu erfas­sen, die­se ver­fluch­te Sum­me von Aus­las­sun­gen zu erfas­sen, um dem Sta­pel noch ein eige­nes Echo hin­zu­zu­fü­gen … Es ist fünf Uhr gewor­den. Ich bin zufrie­den. Ich habe den Ursprung des Tex­tes erin­nert. Er wur­de von Yas­mi­na Reza in ihrer Sona­te Ham­mer­kla­vier ver­öf­fent­licht und von Eugen Helm­lé aus der fran­zö­si­schen in die deut­sche Spra­che über­tra­gen. Drau­ßen wird es lang­sam hell, Regen fällt. — stop
ping

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miranda

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india : 5.45 — Bei leich­tem Regen ges­tern im Park einen älte­ren Herrn beob­ach­tet. Er arbei­te­te an einem Buch, das ich zunächst nicht bemerk­te, weil der Herr auf einer Bank saß im Schat­ten eines Regen­schir­mes. Als ich neben ihm Platz genom­men hat­te, konn­te ich erken­nen, wie der Mann tat­säch­lich Zei­chen in einem Buch notier­te, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Streich­holz­schach­tel. Neben ihm lag ein wei­te­res Buch, Phil­ip Roths Roman Ever­y­man. Der Mann schien das eine Buch hand­schrift­lich in das ande­re Buch zu über­tra­gen. Er notier­te mit einem Blei­stift, den er nach jedem geschrie­be­nen Zei­chen spitz­te. Rot­kehl­chen hüpf­ten zu sei­nen Füßen her­um, pick­ten das leich­te, hauch­dün­ne Holz, das aus der Spitz­ma­schi­ne fiel, vom Boden und tru­gen es fort ins nahe Unter­holz. Ein Ver­grö­ße­rungs­glas, eine Lupe, klemm­te im lin­ken Auge des Herrn, des­halb ver­mut­lich mach­te er den Ein­druck, Schmer­zen zu haben. Manch­mal biss er sich auf die Zun­ge. Wenn ich mich nicht irre, dann hat­te der Mann bereits etwa 100 Sei­ten des Roma­nes trans­fe­riert. Ich sah ihm bald eine Stun­de zu, ohne ein Wort mit ihm zu wech­seln. Fried­lichs­te Stim­mung. Auf dem See drau­ßen hüpf­ten Karp­fen aus dem Was­ser, schwe­re Kör­per. Ein paar Amei­sen trie­ben auf einem Blatt an uns vor­bei. Ich hät­te mich ger­ne unter­hal­ten, weil mir in den ver­gan­ge­nen Tagen unheim­lich zumu­te gewe­sen ist, wäh­rend ich Fern­seh­bil­der aus der Stadt Bos­ton beob­ach­te­te. Der alte, schrei­ben­de Mann aber war so ver­tieft in sei­ne Arbeit, dass er mei­ne Gegen­wart schnell ver­ges­sen zu haben schien. Ich stell­te mir vor, dass er in die­ser Arbeit gefan­gen oder gebor­gen, viel­leicht über­haupt nicht wahr­ge­nom­men hat­te, was in Bos­ton gesche­hen war. Viel­leicht wuss­te er nicht ein­mal vom Krieg in Syri­en oder von der Ent­de­ckung des Higgs-Teil­chens. Als es dun­kel wur­de, setz­te sich der alte Mann eine Stirn­lam­pe auf den Kopf. Für einen Moment leuch­te­te er mir ins Gesicht, um sofort in sei­ner Arbeit fort­zu­fah­ren. — stop

ping

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i love you

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romeo : 15.18 — Am See im Pal­men­gar­ten. Ers­te mil­de Stun­den. Abend­seg­ler jagen durch die Däm­me­rung. Für einen Moment der Ein­druck, es könn­te sich bei den Schat­ten der Flie­gen­jä­ger um klei­ne, spie­len­de Engel han­deln. Auf der Bank neben mir ruht mein Film­te­le­fon, soeben erscheint der Feu­er­ball einer deto­nie­ren­den Bom­be in der Stadt Bos­ton nahe einer Mara­thon­stre­cke. Wenn ich den Kanal wech­se­le, Skate­board­fah­rer, die über Haus­dä­cher sprin­gen auf der Insel San­to­rin, ein Mäd­chen mit Zahn­span­ge träl­lert: I love you, i love you! Bald dunk­le Rauch­pil­ze über der Stadt Alep­po. Auf einer Stra­ße liegt der Kör­per einer Frau, der sich noch bewegt, obwohl sie unbe­dingt tot sein müss­te, so furcht­bar die Ver­let­zun­gen, die ihr zuge­fügt wor­den sind. Ich spie­le den Film immer wie­der ab, war­um? Als es dun­kel wird über dem Was­ser, Stil­le. Man hört in der Licht­lo­sig­keit nichts vom Jagen der Tie­re, wenn man sie nicht sieht. Weni­ge Stun­den spä­ter wird Wla­di­mir Putin sagen, bei dem Anschlag in Bos­ton han­de­le es sich um ein bar­ba­ri­sches Ver­bre­chen. — stop

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elisabeth

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hima­la­ya : 6.10 — Im Win­ter des ver­gan­ge­nen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszwes­ka und sei­ne Frau Eli­sa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­cki­gen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig ken­nen­ge­lernt. Er beob­ach­te­te, wie ich Fahr­gäs­te foto­gra­fier­te, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bän­ke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehn­te zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­te­ten Pas­sa­gie­re ein­ge­tra­gen hat­te. Stolz war der alte Mann gewe­sen. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hör­de, Eisen­bah­nen und Flug­zeu­ge, weiß der Him­mel, wie dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen, lud Mr. Tomaszwes­ka mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men, dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren ver­dun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dun­kel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lich­ter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­zü­ge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­ti­ve, das mei­nen Besuch beglei­te­te. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­de­re Modell­an­la­ge gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomaszwes­ka und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zo­gen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Eli­sa­beth. Sie beach­te­te mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses ein­ge­las­sen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grau­er Far­be gewe­sen war, wun­der­ba­re Augen­bli­cke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glo­cken­hel­ler Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomaszwes­ka neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Ori­ent­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie irgend­wie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. — stop

polaroidstrandburg

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eine funkuhr

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sier­ra : 7.01 — Weni­ge Stun­den nach­dem mein Vater im April des ver­gan­ge­nen Jah­res gestor­ben war, über­reich­te mir mei­ne Mut­ter eine Uhr. Sie sag­te, ich, der ältes­te Sohn der Fami­lie, sol­le sie tra­gen. Viel­leicht mein­te sie, ich sol­le die Uhr mei­nes Vaters bewah­ren und damit die Zeit mei­nes Vaters behü­ten. Ja, genau so könn­te das gewe­sen sein, denn die klei­nen und die gro­ßen Uhren der Men­schen, die gestor­ben sind, blei­ben nicht sofort ste­hen, auch die Uhr mei­nes Vaters, die ich in die­sem Moment an mei­nem lin­ken Unter­arm tra­ge, zeigt uner­müd­lich wei­ter die vor­rü­cken­de Zeit. Sie knis­tert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so lei­se, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knis­tert oder mein Ohr in der Begeg­nung mit dem küh­len Gehäu­se. Vie­le Tage und Wochen lang habe ich die Uhr mei­nes Vaters nicht getra­gen, sie ruh­te auf mei­nem Schreib­tisch. Manch­mal, indem ich sie beob­ach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, sie war­te. Immer wie­der ein­mal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirk­li­che Zeit ange­zeigt zu bekom­men. Bei der Uhr mei­nes Vaters han­delt es sich näm­lich um eine Funk­uhr, die zu jeder Zeit auf die Sekun­de genau die all­ge­mein­gül­ti­ge Zeit anzu­zei­gen ver­mag. Ihr Zif­fer­blatt ist über­sicht­lich gestal­tet, ein gro­ßer Kreis für Halb­ta­ges­zeit und klei­ner Kreis in der unte­ren Hälf­te, in dem der Sekun­den­zei­ger sich um Minu­ten­zeit fort­be­wegt. Die­se Uhr und ihre drei Zei­ger ist nun mei­ne Uhr. Am ver­gan­ge­nen Sonn­tag setz­te ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nacht­zeit. Um genau zwei Uhr beschleu­nig­te der Minu­ten­zei­ger wie von Geis­ter­hand, dreh­te sich schnell ein­mal im Kreis her­um, dann war Som­mer gewor­den, ein selt­sa­mer Moment, weil ich für einen Augen­blick den Ein­druck hat­te, mein Vater selbst beweg­te den Zei­ger der Uhr, die sei­ne letz­te gewe­sen ist, weil er auf mich und mei­ne Zeit ach­tet. — Ges­tern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop

polaroidalaska

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amsterdam

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sier­ra : 7.05 — Immer wie­der wun­de­re ich mich dar­über, wie ein Bild, eine Vor­stel­lung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Ein­druck haben wür­de, Arbeit ver­rich­tet zu haben, wei­te­re Bil­der erzeugt, Geschich­ten, Fil­me, Zeit­räu­me von Abwe­sen­heit. Ich erin­ne­re mich, in einem die­ser Räu­me kürz­lich in Ams­ter­dam gewe­sen zu sein, wäh­rend ich zur sel­ben Zeit im Zug durch süd­li­che Land­schaft reis­te. Ich hat­te das Bild eines Läd­chens vor Augen, in wel­chem in einer Pfan­ne mensch­li­che Ohren gerös­tet wur­den. Es roch gut nach gebra­te­nem Fleisch und natür­lich fra­ge ich mich, woher ich die­se Vor­stel­lung genom­men habe. Men­schen stan­den bis auf die Stra­ße hin­aus, war­te­ten gedul­dig, bis sie an der Rei­he waren, eine Por­ti­on der gerös­te­ten Ohren in einer Papier­tü­te ent­ge­gen­zu­neh­men. 100 Gramm kos­te­ten 72 eng­li­sche Pfund, viel­leicht war es des­halb, in Anbe­tracht des Prei­ses, so still im Laden, man hör­te nur ein Zischen, sobald aus einem Schäu­fel­chen eine wei­te­re Por­ti­on Ohren in die Pfan­ne fiel. Aber drau­ßen auf der Stra­ße war Tumult ent­stan­den. Wäh­rend die einen sich über den enor­men Preis der Ohren beschwer­ten, waren ande­re sehr deut­lich gegen den Ver­kauf mensch­li­cher Ohren über­haupt ein­ge­stellt. Das sind gezüch­te­te Orga­ne, sag­ten sie, sie waren nie an einem mensch­li­chen Kopf befes­tigt. Ande­re hin­ge­gen empör­ten sich dar­über, dass es doch ver­rückt sei, für etwas, das nie­mals echt gewe­sen war, eine der­art exzel­len­te Sum­me Gel­des pro Gramm bezah­len zu müs­sen. Die einen wie die ande­ren schie­nen mir recht zu haben. Fens­ter gin­gen zu Bruch, berit­te­ne Poli­zei feg­te über eine Brü­cke. Und wie ich in die­ser Wei­se in einem Zug sit­zend einen Film erleb­te aus dem Nichts, beob­ach­te­te mich ein Freund. Ich bemerk­te ihn nicht. Als ich ihm spä­ter erzähl­te, was ich erlebt hat­te, sag­te er, er habe indes­sen, in der Beob­ach­tung mei­ner Per­son, nicht den gerings­ten Laut gehört. — stop

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