Aus der Wörtersammlung: erle

///

PRÄPARIERSAAL : tonspule

9

sier­ra : 2.36 — Ton­spu­le 68. Micha­el erzählt: > Ich beob­ach­te, dass ich mei­nen leben­di­gen Kör­per mit dem toten Gewe­be vor mir auf dem Tisch ver­glei­che. Ich lege Ner­ven, Mus­keln und Gefä­ße einer Hand frei, bestau­ne die Fein­heit der Gestal­tung, über­le­ge wie exakt das Zusam­men­spiel die­ser ana­to­mi­schen Struk­tu­ren doch funk­tio­nie­ren muss, damit ein Mensch Kla­vier spie­len, grei­fen, einen ande­ren Men­schen strei­cheln kann, wie umfas­send die Inner­va­ti­on der Haut, um Wär­me, Käl­te, ver­schie­de­ne Ober­flä­chen erfüh­len, ertas­ten zu kön­nen. Immer wie­der pen­delt mein Blick zwi­schen mei­ner leben­di­gen und der toten Hand hin und her. Ich bewe­ge mei­ne Fin­ger, ein­mal schnell, dann wie­der lang­sam, ich schrei­be, ich notie­re, was ich zu ler­nen habe, bis zur nächs­ten Prü­fung am Tisch, und beob­ach­te mich in die­sen Momen­ten des Schrei­bens. Abends tref­fen wir uns in der Biblio­thek hier gleich um die Ecke und ler­nen gemein­sam. Vor allem vor den Testa­ten wer­den die Näch­te lang. Ich kann zum Glück gut schla­fen. Unse­re Assis­ten­tin ist eine jun­ge Ärz­tin, die noch nicht ver­ges­sen hat, wie es für sie selbst gewe­sen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freund­lich zu uns. Aber natür­lich ach­tet sie streng auf die Ein­hal­tung der Regeln, kein Han­dy, kein Kau­gum­mi im Mund, ange­mes­se­ne Klei­dung. Manch­mal ver­sam­melt sie uns und wir pro­ben am Tisch ste­hend das nahen­de Tes­tat, es gibt eigent­lich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt wer­den, das erhöht natür­lich unse­re Auf­merk­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on enorm. Ein­mal erzähl­te sie uns eine Geschich­te, die mich sehr berühr­te. Sie sag­te, ihre Mut­ter sei sehr stolz, dass sie eine Ärz­tin gewor­den ist. Sie habe ihr ein­ge­schärft: Was Du gelernt hast, kann Dir nie­mand mehr neh­men. Aber natür­lich, als wir die fei­nen Blut­ge­fä­ße betrach­te­ten, die unser Gehirn mit Sau­er­stoff ver­sor­gen, wur­de mir bewusst, dass wir doch auch zer­brech­lich sind, dass unser Leben sehr plötz­lich zu Ende gehen kann. Der­zeit will ich dar­an aber nicht den­ken. Ich bin froh hier sein zu dür­fen, ich habe lan­ge dar­auf gewar­tet. Manch­mal gehe ich durch den Saal spa­zie­ren. Wenn ich Lun­gen­flü­gel betrach­te, oder Her­zen, oder Kehl­köp­fe, Lage und Ver­lauf ein­zel­ner Struk­tu­ren, dann erken­ne ich, dass im All­ge­mei­nen alles das, was in dem einen Kör­per anzu­tref­fen ist, auch in dem ande­ren ent­deckt wer­den wird, kein Kör­per jedoch ist genau wie der ande­re, damit wer­de ich in Zukunft zu jeder­zeit rech­nen. — stop
polaroidfähre

///

esmeralda

pic

tan­go : 22.08 — Vor zwei Tagen, spä­ter Nach­mit­tag, über­reich­te mir ein schwer atmen­der Bote ein Päck­chen, auf des­sen Anschrif­ten­sei­te mit wuch­ti­gen Druck­buch­sta­ben eine Anwei­sung notiert wor­den war: Do not shake! Der jun­ge Mann, viel­leicht um mich zu war­nen, deu­te­te auf die Schach­tel in sei­ner Hand und sag­te: Ich rie­che, dass in die­sem Päck­chen etwas lebt! Und schon war er wie­der auf der Trep­pe ver­schwun­den. Tat­säch­lich han­del­te es sich bei dem Päck­chen um einen Lebend­trans­port, der in der ita­lie­ni­schen Hafen­stadt Tala­mo­ne auf­ge­ge­ben wor­den war. Eine Schne­cke hock­te in einer per­fo­rier­ten Schach­tel geduckt unter wel­ken Blät­tern. Als ich das klei­ne Tier vor­sich­tig auf einen Tel­ler setz­te, mach­te es zunächst einen sehr müden, erschöpf­ten Ein­druck. Sein Haus schien bald vom Kör­per zu rut­schen, auch wur­de kei­ner­lei Flucht­ver­such unter­nom­men, statt­des­sen saß die Schne­cke nahe­zu ohne Bewe­gung und schau­te mich an. Selbst, als ich mich mit einem Fin­ger näher­te, zog sie sich nicht in ihr Kalk­ge­win­de zurück. Eine hal­be Stun­de lang betrach­te­ten wir uns gedul­dig. Dann war spä­ter Abend gewor­den, ich hat­te mehr­fach tele­fo­niert, der Schne­cke ein Apfel­stück­chen ange­bo­ten, das Pack­pa­pier, in wel­ches die Sen­dung ein­ge­schla­gen gewe­sen war, auf der Suche nach einer Bot­schaft oder einem Absen­der, ein­ge­hend unter­sucht, und war dann kurz spa­zie­ren gegan­gen. Indes­sen hat­te sich die Schne­cke in Rich­tung der Süd­wand mei­ner Küche in Bewe­gung gesetzt, war von dort aus, eine schim­mern­de Spur hin­ter­las­send, wei­ter zur Die­le hin gewan­dert, erreich­te dort den Boden, um eine hal­be Stun­de spä­ter mein Arbeits­zim­mer zu betre­ten. Der­art lei­se war die Schne­cke wei­ter­ge­zo­gen, dass ich sie bei­na­he ver­ges­sen hät­te. Dann war Sams­tag, der Sams­tag ver­ging, zwei wei­te­re Stück­chen Apfel, und es wur­de Sonn­tag und wie­der Abend und es begann zu reg­nen. In die­sem Moment sitzt die Schne­cke einen hal­ben Meter hoch über dem Fuß­bo­den an der Wand mei­nes Wohn­zim­mers. Sie scheint zu schla­fen. Wie­der­um ist sie nicht in ihrem Häus­chen ver­schwun­den, was höchst merk­wür­dig ist. — stop

nach­rich­ten von esmeralda »

polaroidanemonen

///

prada

pic

tan­go : 5.16 — Die Hand­ta­sche, der ich mich in der ver­gan­ge­nen Nacht ein­ge­hend wid­me­te, ist rot und weiß und von feins­tem Leder. Zwei Fächer sind in ihrem schma­len Bauch zu fin­den, die man mit Druck­knöp­fen ver­schlie­ßen kann. In die­sem Moment steht die Tasche auf vier metal­le­nen Füß­chen vor mir auf dem Schreib­tisch, Schul­ter­rie­men, Tra­ge­hen­kel, Außen­fä­cher, ein wirk­lich ansehn­li­ches Exem­plar, das glänzt und leicht ist. Die Tasche wiegt in nicht befüll­tem Zustand gera­de ein­mal 400 Gramm, so leicht ist die­se Tasche, ganz erstaun­lich. Nun habe ich Fol­gen­des unter­nom­men, ich habe zunächst in sorg­fäl­tigs­ter Wei­se einen präch­ti­gen Haut­bal­lon gefal­tet und in das lin­ke Sei­ten­fach der Leicht­hand­ta­sche abge­legt. Es han­delt sich um ein fili­gra­nes, flug­fä­hi­ges Natur­pro­dukt, wel­ches aus der Schwimm­bla­se eines Mond­fi­sches gefer­tigt wur­de. Ein fei­ner Schlauch, nicht sicht­bar auf den ers­ten Blick, führt vom Hals des Bal­lons wie­der­um zu einem Siphon, in dem sich Heli­um befin­det. Ich habe ihn, nach län­ge­rer Über­le­gung, auf der gegen­über­lie­gen­den Sei­te, im zwei­ten Außen­fach der Tasche unter­ge­bracht. Er ver­fügt über ein Ven­til, wel­ches unkon­trol­lier­tes Aus­strö­men des Gases ver­hin­dert, über einen Ver­schluss also, der mit einer sanf­ten Fin­ger­be­we­gung jeder­zeit geöff­net wer­den könn­te, sodass das Gas im Bruch­teil einer Sekun­de in den Bal­lon schie­ßen, das Fut­te­ral des Bal­lons öff­nen und die Hand­ta­sche mit Auf­trieb ergrei­fen wür­de. Soll­te ich zu die­sem Zeit­punkt das Ven­til der Tasche öff­nen, ende­te ihr Flug an der Decke mei­nes Zim­mers. — Kurz vor fünf Uhr am Mor­gen. Schon zu spät, um inmit­ten der Stadt heim­lich einen Frei­luft­ver­such unter­neh­men zu kön­nen. Noch etwas schla­fen dar­um, dann eine Spin­del mit äußerst fei­nem, aber zug­fes­tem Faden in der Län­ge von 100 Metern an der Tasche befes­ti­gen, dann wie­der Nacht. — stop

polaroidmolluske

///

teilchen

pic

alpha : 2.15 — Bei uns ist es eigent­lich so: Nur wer nicht arbei­tet, macht kei­ne Feh­ler. Und wich­tig ist A, dass man nicht den­sel­ben Feh­ler zwei­mal macht. Und, dass wenn man etwas macht, sich das über­legt hat. Es kann trotz­dem falsch sein. Es kommt vor, dass wir Ent­schei­dun­gen tref­fen, die falsch sind, aber wenn man dann über­legt, das war der Input, den ich hat­te, und dar­aus muss­te ich mir etwas über­le­gen, und ich habe die oder die Alter­na­ti­ve gehabt und ich habe sie so gewählt, dann ist das in Ord­nung. Und das sage ich auch immer unse­ren Leu­ten, gera­de dann, wenn sie sich irgend­wie nicht trau­en. Du kannst Dich trau­en. Du musst Dir nur über­legt haben, was Du getan hast und Du musst die­se Über­le­gung ver­tei­di­gen kön­nen. Und dann ist gut. — Wolf­ram Zeu­ner / Stell­ver­tre­ten­der Koor­di­na­tor des Detek­tors Com­pact Muon Soleno­id / CERN im Gespräch mit Ran­ga Yogeshwar. — stop

ping

///

ai : SUDAN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR: „Ein Anwalt befin­det sich im suda­ne­si­schen Bun­des­staat Süd-Dar­fur ohne Ankla­ge in Haft. Er könn­te gefol­tert und ander­wei­tig miss­han­delt wer­den. / Adam Sha­rief arbei­tet als Anwalt und ist Koor­di­na­tor der Anwalts­ver­ei­ni­gung Dar­fur Bar Asso­cia­ti­on im suda­ne­si­schen Bun­des­staat Süd-Dar­fur. Er wur­de am 26. Sep­tem­ber fest­ge­nom­men und wird ohne Ankla­ge und Zugang zu einem Rechts­bei­stand vom suda­ne­si­schen Geheim­dienst in Nya­la fest­ge­hal­ten. / Sechs Tage vor sei­ner Fest­nah­me gab Adam Sha­rief dem unab­hän­gi­gen Radio­sen­der Radio Daban­ga ein Inter­view. Dar­in kri­ti­sier­te er den Gou­ver­neur von Süd-Dar­fur wegen der schlech­ten Sicher­heits­la­ge in Nya­la, der Haupt­stadt des Bun­des­staa­tes. Er erhob den Vor­wurf, die ört­li­chen Behör­den wür­den Mili­zen für sich arbei­ten las­sen, wel­che die Ver­ant­wor­tung für eine Rei­he von Tötun­gen tra­gen, die in jüngs­ter Zeit in Nya­la began­gen wur­den. Unter ande­rem töte­ten sie Ismail Ibra­him Wadi, einen bekann­ten Geschäfts­mann der Regi­on, sowie des­sen Sohn und Nef­fen. Adam Sha­rief übte zudem Kri­tik dar­an, dass die Sicher­heits­kräf­te am 19. Sep­tem­ber schar­fe Muni­ti­on gegen Demons­trie­ren­de ein­setz­ten, die sich am Tag der Bei­set­zung von Ismail Ibra­him Wadi ver­sam­melt hat­ten. Berich­ten zufol­ge wur­den dabei min­des­tens fünf Men­schen getö­tet und 48 so schwer ver­letzt, dass sie im Kran­ken­haus behan­delt wer­den muss­ten. / Amnes­ty Inter­na­tio­nal befürch­tet, dass Adam Sha­rief allein wegen der fried­li­chen Wahr­neh­mung sei­nes Rechts auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung inhaf­tiert wur­de. Die Orga­ni­sa­ti­on for­dert daher sei­ne sofor­ti­ge Frei­las­sung, sofern er kei­ner als Straf­tat aner­kann­ten Hand­lung ange­klagt wird.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 13. Novem­ber 2013 hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

///

fenster zum fluss

9

sier­ra : 17.08 — Ein Freund, der sich seit län­ge­rer Zeit in Man­hat­tan auf­hält, erzählt via E‑Mail eine hei­te­re Geschich­te, die er selbst erlebt haben will. Vor eini­gen Tagen habe er dem­zu­fol­ge eine Bekann­te besucht, die ein Apart­ment in einem moder­nen Miets­haus der Upper East Side bewohnt. Es han­de­le sich um eine geräu­mi­ge Woh­nung in der 28. Eta­ge mit fas­zi­nie­ren­der Aus­sicht auf den East River. Eine Lei­den­schaft der Woh­nungs­be­sit­ze­rin, eine Pas­si­on gera­de­zu, sei die Beob­ach­tung der Schif­fe gewor­den, die den Fluss tief unten befah­ren. Der Anblick der Käh­ne und Oze­an­damp­fer beru­hi­ge sie, schon von Wei­tem kön­ne sie erken­nen, wenn sich ein grö­ße­res Schiff vom Atlan­tik her nähe­re. Nicht zu ver­ges­sen natür­lich, jene zier­li­chen, wei­ßen und gel­ben Amei­sen­schif­fe, Was­serta­xis bei Tag und Nacht, und das bestän­di­ge Blin­ken der Spie­ren­ton­nen, Pul­se, wel­che sie durch ihr Fern­glas wahr­neh­men kön­ne. Als nun mein Freund sei­nen Besuch tele­fo­nisch ankün­dig­te, wur­de er gewarnt, der Auf­zug des Hau­ses sei seit zwei Wochen defekt, wes­halb vie­le der älte­ren Bewoh­ner das Haus seit Tagen ent­we­der gar nicht oder für län­ge­re Zeit ganz ver­las­sen haben, er müs­se zu Fuß empor­stei­gen und eine hal­be Stun­de Zeit für sei­nen Auf­stieg berech­nen, er sol­le sich etwas Pro­vi­ant mit­neh­men. Mein Freund mach­te sich weni­ge Stun­den spä­ter auf den Weg nach oben. Weil er nicht trai­niert war, ging er lang­sam, zunächst zähl­te er noch sei­ne Schrit­te, aber bereits in der 6. Eta­ge muss­te er sich set­zen und sei­nen Atem beru­hi­gen. Eini­ge Boten, jun­ge Män­ner mit Ruck­sä­cken auf dem Rücken, kamen vor­über. Kurz dar­auf pas­sier­te ihn eine älte­re Dame, schla­fend oder bewusst­los, auf einer Tra­ge lie­gend abwärts. Höhe der 18. Eta­ge stand die Tür einer Woh­nung offen. Tre­ten Sie ein, war auf einem Zet­tel zu lesen. Im Wohn­zim­mer saß eine wei­te­re älte­re Dame hin­ter einem Tisch, reich gedeckt, Obst und kal­ter Fisch und Brot und Was­ser. Ein rei­zen­der Anblick, Kat­zen lagen auf dem Boden her­um. Die alte Frau war­te­te unter einem Son­nen­schirm. Sie sag­te: Komm, komm, in Zei­ten der Not muss man zusam­men­hal­ten, alles ist umsonst, aber Du darfst in der Stadt nicht davon erzäh­len! Eine Stun­de spä­ter erreich­te mein Freund end­lich die Woh­nung sei­ner Bekann­ten. Sie saßen lan­ge Zeit vor dem Fens­ter zum Fluss. Ein­mal näher­te sich ein Hub­schrau­ber. Er lan­de­te auf dem Dach. – stop

polaroidteller

///

PRÄPARIERSAAL : ein arm

pic

gink­go : 0.18 — Pia erzählt: > Manch­mal, wenn ich abends nach dem Prä­pa­rier­kurs nach Hau­se gehe, bemer­ke ich, dass ich die Ein­drü­cke, die ich im Prä­pa­rier­saal gewon­nen habe, nicht mit der Stra­ße, über die ich spa­zie­re oder mit den Gesprä­chen der Men­schen, die ich in der U‑Bahn höre, in eine Ver­bin­dung brin­gen kann. Ich habe das Gefühl, dass der Saal frei schwebt, also ganz für sich ist, iso­liert. Ich rei­se zwi­schen zwei Wel­ten, von da nach dort und wie­der zurück, und das geht gut so hin und her. Ich wun­de­re mich, dass ich bis­her noch nie vom Prä­pa­rier­saal geträumt habe, ich kann mich jeden­falls nicht dar­an erin­nern, geträumt zu haben. Ich glau­be, ich bin in irgend­ei­ner Wei­se geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich schützt, viel­leicht ist es die Freu­de an der Arbeit, die Dich­te der Auf­ga­ben, die mir gestellt sind. Ja, es ist viel zu tun. Lei­der kann ich nicht wirk­lich erzäh­len, was ich erle­be, ich mein Zuhau­se mei­nen Eltern oder mei­nen Freun­den. Die­se eine Geschich­te zum Bei­spiel, wie ich an einem Don­ners­tag in den Prä­pa­rier­saal tre­te und sehe, dass etwas grund­sätz­lich anders gewor­den ist. Ich war natür­lich nicht unvor­be­rei­tet gewe­sen, denn in der Prä­pa­rier­an­lei­tung wur­de ver­zeich­net, dass die Lei­chen auf dem Tisch von den Prä­pa­ra­to­ren an einem Mitt­woch­nach­mit­tag zer­legt wer­den. Und so war es gekom­men. Auf den Tischen lagen nur noch Arme und Bei­ne und die Hälf­ten je eines Kop­fes. Selt­sam, sage ich Ihnen, sehr selt­sam! Aber natür­lich sinn­voll. Von die­sem Moment an ist es mög­lich, einen Arm in die Hand zu neh­men und von allen Sei­ten her zu betrach­ten, oder ein Bein. Ich muss­te mich etwas über­win­den, das natür­lich, aber dann habe ich einen der bei­den Arme auf dem Tisch ange­ho­ben, bin mit ihm durch den Saal gelau­fen und habe ihn unter flie­ßen­dem Was­ser gewa­schen. Als ich auf dem Weg zurück an den Tisch war, kam mir eine Kom­mi­li­to­nin ent­ge­gen, auch sie trug einen Arm vor sich her. Der Arm war sehr groß, rich­tig schwer, eine klei­ne Frau und ein gro­ßer Män­ner­arm. Wir lächel­ten uns an, ich glau­be, weil wir bei­de in unse­ren Augen selt­sam aus­ge­se­hen haben könn­ten. Zurück an den Tisch gekom­men, habe ich das Arm­prä­pa­rat unter­sucht, Mus­keln, wo sie anset­zen, und Seh­nen. Ich erin­ne­re mich, ich habe etwas unter­nom­men, das ich nur des­halb tun konn­te, weil der Arm der Kör­per­spen­de­rin ganz für sich gewe­sen war. Ich habe näm­lich an einer Seh­ne des Unter­ar­mes gezupft und beob­ach­tet, wie sich an der Hand in nächs­ter Nähe ein Fin­ger beweg­te. Ein­mal, viel­leicht zwei oder drei Tage spä­ter, beob­ach­te­te ich, wie Kom­mi­li­to­nen an ihren Tischen, bevor sie ihr Prä­pa­rat mit Tüchern bedeck­ten, Arme und Bei­ne und die Hälf­ten der Gesich­ter, so auf dem Tisch anord­ne­ten, dass sie wie­der an einen voll­stän­di­gen Kör­per erin­ner­ten. Das hat mich beru­higt. - stop

ping

///

am schalter

9

marim­ba : 0.08 — Ich hat­te fol­gen­den Traum. Ich war gestor­ben. Ich saß mit zahl­rei­chen Men­schen in einer Hal­le, die mich an den War­te­saal eines Bahn­ho­fes erin­ner­te. Tat­säch­lich hör­te ich Zug­ge­räu­sche, das Schnau­fen alter Loko­mo­ti­ven. Alle Men­schen in der Hal­le waren tot wie ich, zugleich aber sehr leben­dig, ja fröh­lich. Sie lager­ten auf höl­zer­nen Bän­ken. Libel­len in allen mög­li­chen Far­ben has­te­ten durch den Raum. War­mes Licht ström­te durch Jalou­sien zu uns her­ein. Laut­spre­cher­stim­men ver­la­sen Namen, man­che waren ver­traut, ande­re klan­gen fremd. Ich erin­ne­re mich an Kin­der, sie toll­ten her­um, man­che spiel­ten mit Pup­pen oder Bäl­len. Sobald ein Name auf­ge­ru­fen wur­de, erhob sich eine Per­son und ging zu einem der Schal­ter. Bald wur­de auch mein Name ver­le­sen. Eine Frau stand am Schal­ter vor mir. Die Frau scherz­te mit einem Mann, der hin­ter einer Glas­schei­be saß. Sie sag­te, sie sei erschos­sen wor­den. In den Kopf, frag­te der Mann. Die Frau nick­te und der Mann ant­wor­te­te sofort: Das müs­sen wir mel­den. Plötz­lich rich­te­te er sei­nen Blick auf mich und frag­te: Sie auch? Sie auch in den Kopf? — stop
ping

///

marías

2

echo

~ : oe som
to : louis
sub­ject : MARÌAS
date : aug 10 13 10.58 p.m.

Seit Noe eine Bril­le trägt, liest er zügig und feh­ler­frei wie noch vor Mona­ten aus Büchern, die wir zu ihm in die Tie­fe sen­den. Als ich ihn besuch­te, war er müde von der Lek­tü­re Javier Marí­as soeben ein­ge­schla­fen. Und so konn­te ich für län­ge­re Zeit heim­lich sein Gesicht betrach­ten hin­ter der Schei­be von gepan­zer­tem Glas. Er ist blass gewor­den. Kein Wun­der, kaum Son­nen­licht an der Gren­ze zur Fins­ter­nis. Wäh­rend ich Noe betrach­te­te, wan­der­te eine Put­zer­schne­cke über sei­ne Stirn dahin. Sie stieg bald über Noes Nase abwärts, um kurz dar­auf in aller See­len­ru­he sei­ne lin­ke Wan­ge zu bewan­dern. Er scheint sich an die Exis­tenz der Tie­re auf sei­nem Kör­per gewöhnt zu haben, nach wie vor sind es fünf Schne­cken. Er wird von ihren Berüh­run­gen nie­mals wach, selbst dann nicht, wenn sie sich um sei­ne Lip­pen bemü­hen. Ich über­leg­te, wie der Geruch der Luft in Noes Anzug nach lan­ger Zeit der Abge­schie­den­heit beschaf­fen sein könn­te. Ein Schwarm Hai­füss­lie­re näher­te sich, neu­gie­ri­ge Wesen? Viel­leicht wur­den sie von Noe ange­zo­gen, einem sich lang­sam durch das Zwie­licht dre­hen­den Fin­ger. Er scheint zu fla­ckern. Ich hat­te ver­ges­sen, wie jung Noe doch ist. Ohne ihn aus der Nähe sehen zu kön­nen, nur sei­ne lesen­de Stim­me hörend, war der Tau­cher in mei­ner Wahr­neh­mung geal­tert, ohne dass ich das bemerk­te. Sein Gesicht ist schmal gewor­den. Ich ver­moch­te sei­ne Augen­bäl­le zu erken­nen, die sich unter ihren Lidern hin und her beweg­ten. Plötz­lich sah er mich an. Er lächel­te, und er sprach ein paar Wör­ter, die ich nicht ver­ste­hen konn­te, obwohl ich nur weni­ge Zen­ti­me­ter ent­fernt gewe­sen war. Ich ant­wor­te­te, ich sag­te: Noe, hör zu, Dein Vater ist gestor­ben. Da lach­te Noe, ver­mut­lich dach­te er: Der Mann ist so nah und er spricht und doch kann ich nicht hören, was er sagt. Dann mach­te ich mich an die Arbeit. Ich befes­tig­te Noes Bril­le an sei­nem Helm. — Dein OE SOM

gesen­det am
10.08.2013
2188 zeichen

oe som to louis »

polaroidsecuso

///

von eisbriefboten

9

nord­pol : 6.33 — Ein Eis­brief­bo­te war­te­te ges­tern, es war ein Diens­tag, vor mei­ner Woh­nungs­tü­re im 22. Stock. Der Mann trug blaue Turn­schu­he der Mar­ke Nike, kur­ze, hel­le Hosen und ein wei­ßes Hemd, das viel zu groß gewe­sen war für sei­nen schmäch­ti­gen Kör­per. Er schwitz­te, weil er die Trep­pe neh­men muss­te, da in mei­nem Haus kei­ner­lei Auf­zug exis­tiert, wes­halb das Haus nicht sehr beliebt ist bei Gäs­ten und Boten. Meis­tens bie­te ich den hart arbei­ten­den Män­nern über die Funk­sprech­an­la­ge an, ihnen ent­ge­gen­zu­kom­men. Ich sage: Tref­fen wir uns im 11. Stock in 10 Minu­ten! Ges­tern aber war ich sehr müde gewe­sen. Ich trank einen Kaf­fee, tele­fo­nier­te mit einer Behör­de, und war­te­te dann still in aller Ruhe, bis der Mann bei mir oben unter dem Dach ange­kom­men war. Es sind die­se ers­ten Bli­cke, die ich nie ver­ges­se. Der erschöpf­te Bote öff­ne­te sei­ne Kühl­ta­sche und über­reich­te mir einen wei­te­ren eis­ge­kühl­ten wei­chen Behäl­ter, in wel­chem sich nun unmit­tel­bar ein Brief von Eis befand, den ich zunächst in mei­nen Gefrier­schrank zu wei­te­ren Eis­brie­fen und Eis­bü­chern leg­te. Kurz dar­auf setz­te ich mich ins Trep­pen­haus und hör­te dem jun­gen Mann bei sei­nem Abstieg zu. Er war sehr schnell unter­wegs gewe­sen, er schien zu flie­gen, stürz­te im fünf­ten oder sechs­ten Stock, Minu­ten lang war kein Laut zu hören, dann das Wim­mern einer Ambu­lanz. Da saß ich längst in mei­ner Küche und las, was mir ein Freund notier­te, wie er schrieb, mit gro­ßer Freu­de auf dem ver­gäng­lichs­ten Mate­ri­al, das ihm zur Ver­fü­gung ste­he: Lie­ber Lou­is, die­ser Brief ist geheim. Er wird sich auf­lö­sen, sobald oder bevor Du ihn gele­sen haben wirst. Du musst Dich also beei­len oder den Brief immer wie­der ein­mal in den Kühl­schrank zurück­le­gen oder ihn foto­gra­fie­ren, ehe er geschmol­zen sein wird. Sei behut­sam, mein Lie­ber. Lies bit­te nicht an Tagen, da es warm ist in Dei­ner Woh­nung unter dem Dach, es könn­te sein, dass Du in schwü­ler Luft nicht schnell genug lesen kannst. Ich ver­mu­te, ich habe die Wör­ter an die­ser Stel­le bereits ver­geb­lich geschrie­ben. Dein K. – stop
ping



ping

ping