ulysses : 2.05 — Nehmen wir einmal an, es wäre tatsächlich Montag. Ein stürmischer Tag. Es regnet. Der Wind kommt von Westen her. Ich gehe nach links, ich gehe mit dem Regen, mit Wind im Rücken. Vielleicht habe ich die Maschine, die mich in meiner Abwesenheit besuchte, deshalb nicht gesehen. Sie muss über einen Schlüssel verfügen oder über besonderes Geschick. Sie arbeitete schnell, ich war kaum drei Stunden unterwegs. Ich war am Bahnhof, habe etwas Reis mit Huhn gegessen, spazierte am Fluss, viel buntes Laub, traf eine Freundin, die von einer Reise nach Darjeeling erzählte, von den hölzernen Zügen und vom Schnee, der so überraschend gefallen war, dass sie nach einer Nacht im Schlaf, vor einem Fenster stehend, ihren Augen nicht traute. Wie ich also nach Hause komme, sehe ich auf der Straße Bücher liegen, es waren hunderte Bücher, ein kleiner Berg im Vorgarten, auch in den Kronen der Bäume waren Bücher hängengeblieben. Die Wohnungstür war angelehnt, die Fenster im Arbeitszimmer geöffnet. Inmitten dieses Zimmers stand nun jene Maschine, deren Kommen ich nicht wahrgenommen hatte. Ein letztes Buch war in ihren Griff genommen, rasend schnell blätterte sie von einer Seite zur anderen, fotografierte jede der Seiten, und schleuderte das Buch schließlich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Fenster. Die Maschine summte leise. Sie verfügte über einen aufrechten Gang wie ein Mensch. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe. Ich schloss die Tür, auch meine wasserfesten Bücher im Bad waren verschwunden, Notizhefte, Zettelsammlung, alles verschwunden an diesem stürmischen Tag, der ein Montag ist. Es regnet. Und der Wind kommt von Westen her. Noch ist es dunkel, noch drei oder vier Stunden wird es dunkel sein. Gegen fünf Uhr werde ich die erste Straßenbahn hören, wie sie sich nähert, wie sie in eine Kurve fährt, ihr Pfeifen, und die Stimmen schläfriger Menschen. — stop
Aus der Wörtersammlung: fenster
ballon
sierra : 0.58 — Heute ist es mir gelungen, von einem Fenster aus, den ersten Flugkörper meines erwachsenen Lebens aufsteigen zu lassen. Ich hatte eine Flasche Helium bestellt, eine Sammlung roter, kugelförmiger Folienballone, sowie festen Zwirn. Alle diese Dinge wurden an demselben Tag per Post geliefert, ein erstaunlicher Vorgang für sich. Ich notierte also meine Adresse handschriftlich auf eine Karte, die ich etwas später in einen transparenten, wasserfesten Umschlag steckte, sowie eine kleine Botschaft, die davon erzählte, dass vorgefundene Karte, die erste Luftpostkarte gewesen sei, die ich überhaupt jemals abgeschickt haben würde. Es war Nachmittag und es war noch hell. Der Ballon, den ich versuchsweise mit Gas fütterte, stieg an die Decke meiner Küche, um von dort aus langsam in Richtung meines Wohnzimmers zu wandern. Am späten Abend dann, vor Kurzem, es war natürlich dunkel geworden, meinte ich, von der Dichte des Ballons überzeugt zu sein, befestigte meine Karte, öffnete das Fenster, und der Ballon stieg langsam auf. Er ist jetzt seit drei Stunden unterwegs, und selbstverständlich längst unsichtbar geworden. — stop
vom fliegen
echo : 22.08 — Mein Vater verfügte über ein hervorragendes Gedächtnis. Jahrelang konnte er sich an Geschichten erinnern, die unmittelbar mit Lichtbildern, die er aufgenommen hatte, in Verbindung stehen. Nun, da er gestorben ist, existieren viele dieser Geschichten im Verborgenen, weil mein Vater sich nicht mehr an sie erinnert, sie nicht mehr erzählen wird. In seinem Arbeitszimmer, weiterhin unberührt, steht ein schwerer, alter Schrank gleich neben einem Fenster zum Garten, in welchem sich tausende Aufnahmen in Magazinen befinden. Einige der Magazine wurden beschriftet. Ägypten 1986, Chicago 1978 oder Wandern im Wallis 1969. Auf einer kleinen Schachtel ist Folgendes notiert: Andreas läuft. 87 Diafotografien sind in dieser Schachtel enthalten, farbige Aufnahmen, die sich mit meinen ersten Spazierversuchen verbinden. Ich trage weiche, helle Hosen und einen roten Pullover. Ich scheine sehr begeistert gewesen zu sein, mache große, runde Augen, manchmal sitze ich auf dem Boden und lache, ein andermal sitze ich auf dem Boden und weine. Auf der ein oder anderen Fotografie kommen Hände von der Seite her ins Bild oder sie kommen von oben. Einmal sind nur meine Füße zu sehen, sehr kleine Füße in blauen Strümpfen. Man könnte meinen, diese Aufnahme würde dokumentieren, dass ich das Fliegen lernte, noch ehe ich richtig stehen und laufen konnte. Indem ich die Bilder meines Vaters beobachte, wird seine Gegenwart intensiv spürbar, er war bei jeder Aufnahme in meiner Nähe gewesen, in der Nähe eines Kindes, das zur Zeit der Lichtnahme noch keine wirkliche Vorstellung davon haben konnte, was Erinnerung ist. Und tatsächlich, ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich das Laufen lernte. – Später Abend. stop. In Brooklyn, Haus 77, Orange St., soll eine Steinkirsche, Steinkirsche No 632, vollendet worden sein. — stop. — 5.08 Gramm. — stop
bohumil hrabal
tango : 6.56 — Ich beobachte meinen Fernsehbildschirm. Er ist so flach, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von Kriegsvorbereitungen, von chirurgischen, begrenzten Luftschlägen erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Wirklich, wahrhaftig ist dieses seltsame, schmerzende Gefühl, das ich bei dem Gedanken empfinde, man könnte die Armee des Diktators Baschar al-Assad bombardieren, seine Flughäfen, seine Flugzeuge, Raketen. Es ist ein zufriedenes, zustimmendes Gefühl, ein Reflex, wie ich so in meiner friedlichen, sicheren Wohnung sitze, eine Tasse Kaffee in der Hand. Bald wandere ich in die Küche und brate mir einen Fisch, eine kleine Dorade. Ich höre die Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich abwesend bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Vögel fliegen vorüber. Auf der Scheibe eines Fensters sitzt ein Marienkäfer und nascht von den Resten einer Wespe, die ich einen Tag zuvor tötete, weil sie sich in der Dunkelheit meinem Bett näherte. — stop
versuch über nachtsprache
romeo : 22.58 — Vor einem meiner Fenster in der Höhe ist heute Abend eine kleine Spinne aufgetaucht, ein Jäger auf dem Fensterbrett, schnell, geschmeidig, gestreifter Pelz, Augen so klein, dass ich sie nicht sehen kann. Mit diesen Augen, die ich nicht sehen kann, beobachtete mich die Spinne vermutlich, während ich in ihrer Nähe am Fenster stand und Sätze wiederholte, die derart verknotet waren, dass ich sie kaum aussprechen konnte. Die Spinne bewegte sich nicht, und ich dachte, vielleicht hörte sie mir zu, hört, was N., die seit zwölf Jahren als Sachbearbeiterin in der Nähe eines Flughafens arbeitet, erzählte, warum nämlich die Begrüßung in der Nacht unter Nachtarbeitern eine seltsame Angelegenheit sein kann. N’s Aussage zur Folge soll es jeweils nach Mitternacht zu Schwierigkeiten deshalb kommen, weil man bis zur Mitternachtsstunde noch einen guten Abend wünschen könne, indessen eine Person, der man im Aufzug begegne, in den ersten Minuten eines neuen Tages bereits mit einem fröhlichen guten Morgen zu begrüßen sei, obwohl doch der nächste Morgen mit Licht oder Aussicht auf Feierabend zu diesem Zeitpunkt noch viele Stunden weit entfernt sein müsste. Ein eigentümliches Gefühl, sagte N., das dieser vorauseilende Morgen inmitten der Nacht noch nach Jahren in ihr erzeuge. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass inmitten der Nacht die Nacht selbst in einer Begrüßungsformel nicht angesprochen werden kann, weil die Formulierung Gute Nacht im allgemeinen Abschied bedeutet unter Menschen, die zur üblichen Wachzeit existieren, obwohl man doch im Moment des Abschiedes vielleicht gerade Stirn an Stirn in einem Bett liegt, man macht die Augen zu und schläft, sofern man glücklich und zufrieden ist. Zwei Schlafende. Es ist so, als wären sie beide verreist, als wären sie beide nicht anwesend, nicht erreichbar, auch nicht für sich selbst, weil ein Schlafender niemals zuverlässig in der Lage sein wird, sich persönlich zu wecken, ohne vorbeugend externes Glockenwerk programmiert zu haben. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte. — stop
fenster zum fluss
sierra : 17.08 — Ein Freund, der sich seit längerer Zeit in Manhattan aufhält, erzählt via E‑Mail eine heitere Geschichte, die er selbst erlebt haben will. Vor einigen Tagen habe er demzufolge eine Bekannte besucht, die ein Apartment in einem modernen Mietshaus der Upper East Side bewohnt. Es handele sich um eine geräumige Wohnung in der 28. Etage mit faszinierender Aussicht auf den East River. Eine Leidenschaft der Wohnungsbesitzerin, eine Passion geradezu, sei die Beobachtung der Schiffe geworden, die den Fluss tief unten befahren. Der Anblick der Kähne und Ozeandampfer beruhige sie, schon von Weitem könne sie erkennen, wenn sich ein größeres Schiff vom Atlantik her nähere. Nicht zu vergessen natürlich, jene zierlichen, weißen und gelben Ameisenschiffe, Wassertaxis bei Tag und Nacht, und das beständige Blinken der Spierentonnen, Pulse, welche sie durch ihr Fernglas wahrnehmen könne. Als nun mein Freund seinen Besuch telefonisch ankündigte, wurde er gewarnt, der Aufzug des Hauses sei seit zwei Wochen defekt, weshalb viele der älteren Bewohner das Haus seit Tagen entweder gar nicht oder für längere Zeit ganz verlassen haben, er müsse zu Fuß emporsteigen und eine halbe Stunde Zeit für seinen Aufstieg berechnen, er solle sich etwas Proviant mitnehmen. Mein Freund machte sich wenige Stunden später auf den Weg nach oben. Weil er nicht trainiert war, ging er langsam, zunächst zählte er noch seine Schritte, aber bereits in der 6. Etage musste er sich setzen und seinen Atem beruhigen. Einige Boten, junge Männer mit Rucksäcken auf dem Rücken, kamen vorüber. Kurz darauf passierte ihn eine ältere Dame, schlafend oder bewusstlos, auf einer Trage liegend abwärts. Höhe der 18. Etage stand die Tür einer Wohnung offen. Treten Sie ein, war auf einem Zettel zu lesen. Im Wohnzimmer saß eine weitere ältere Dame hinter einem Tisch, reich gedeckt, Obst und kalter Fisch und Brot und Wasser. Ein reizender Anblick, Katzen lagen auf dem Boden herum. Die alte Frau wartete unter einem Sonnenschirm. Sie sagte: Komm, komm, in Zeiten der Not muss man zusammenhalten, alles ist umsonst, aber Du darfst in der Stadt nicht davon erzählen! Eine Stunde später erreichte mein Freund endlich die Wohnung seiner Bekannten. Sie saßen lange Zeit vor dem Fenster zum Fluss. Einmal näherte sich ein Hubschrauber. Er landete auf dem Dach. – stop
im zug
marimba : 2.32 — Am Abend spät betrat ein junger Mann einen Zug der Schnellbahnlinie, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet. Er schleppte ein Fahrrad hinter sich her, das so schwer bepackt gewesen war, dass er sich, genau genommen, nicht auf das Fahrrad setzen konnte, es war kein Platz für seinen schmalen Körper. Auf der Spitze des Gepäckberges von Taschen und Tüten, ruhte ein Körbchen, dort schlief eine Katze. Es war still, der Zug an diesem Abend beinahe leer, ein Zug, der über Gepäckabteile oder Nischen für Fahrräder, Kinderwagen und große Koffer verfügte. An keiner dieser geeigneten Stellen war der junge Mann mit seinem Fahrrad und seiner Katze jedoch eingestiegen, vielmehr in ein Abteil, in welchem sich ausschließlich Sitzplätze befanden. Nun geschah Folgendes: Eine Stimme in deutscher Sprache ersuchte den jungen Mann an der nächsten Haltestelle, auszusteigen und sich in ein Abteil zu begeben, das für ihn und sein Fahrrad vorgesehen war. Da der junge Mann nicht reagierte, wiederholte die Stimme ihr Anliegen in eben der deutschen Sprache. Auch diese zweite Aufforderung blieb ohne Erfolg, weshalb kurz darauf eine Ansprache zunächst in englischer, dann in französischer, schließlich in spanischer, zuletzt in portugiesischer Sprache zu vernehmen war. Es handelte sich je um Tonkonserven, die vermutlich alle genau denselben Text enthielten, dieselbe Botschaft oder Bitte, den Hinweis darauf, dass Fahrräder nur in den dafür vorgesehenen Abteilen befördert werden dürfen. Die Stimmen waren freundlich in ihrem Klang, angenehme Stimmen, sie wickelten sich ab in einem Zeitraum von drei oder vier Minuten. Es war vergeblich, der junge Mann bewegte sich nicht. Nach einer kurzen Phase der Stille hob sich die Stimme des Fahrers erneut. Er formulierte nun in chinesischer Sprache, ich nehme an, dieselbe Botschaft wie zuvor, ein bemerkenswerter Vorgang, ein Beispiel von Beharrlichkeit. Als der Zug kurz darauf in einem kleinen Bahnhof stoppte, erschien ein zierlicher Mann im Abteil. Er trug eine blaue Uniformhose und ein weißes Hemd, es handelte sich um einen Mann chinesischer Herkunft. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Er näherte sich dem jungen Mann, gestikulierte heftig, deutete mal auf den Besitzer des Fahrrades, dann auf das Fahrrad selbst, hob die Hände zum Himmel, um bald wieder zu verschwinden. Dann setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Vor den Zugfenstern schimmerte Schnee in den Bäumen. Ein Gespräch unter Reisenden war zu hören. Die Katze in ihrem Körbchen hatte für einen Moment die Augen geöffnet. — stop
lunar caustic
sierra : 22.02 — Wie ich an diesem schönen warmen Sonntagabend aus dem Fenster sehe, entdeckte ich eine Eidechse, die sich bis zu mir hinauf unter das Dach vorgearbeitet hatte. Sie saß nur eine Armlänge entfernt, gelbe Augen, blaugrün schillernde Haut und beobachtete mich natürlich. Ich konnte nicht entscheiden, ob sie mich nun mit den Augen oder mit ihrer nervösen Zunge präziser zu erfassen vermochte. Ich schien ihr nicht verdächtig gewesen zu sein, das schlanke Tier flüchtete nicht. Im Gegenteil, die Eidechse kam noch näher heran, kauerte bald auf dem Fensterbrett, das warm von der Sonne war, und schaute wie ich gegen den Himmel. Es war ein schöner Himmel voll bauschiger Wolken, die sich kaum bewegten. Nach einer Viertelstunde zog ich mich vorsichtig vom Fenster zurück, hoffte, die Eidechse würde in mein Zimmer kommen, würde einige Wochen Lebenszeit bei mir verbringen, über die Wände meiner Wohnung huschen, Fliegen und Falter jagen, die meine Räume in großer Zahl bewohnen. Es ist jetzt 22 Uhr. Bislang ist am Fenster noch nichts geschehen. Ich wüsste gerne, ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll wäre, das kleine Tier mit etwas Fleisch oder Musik anzulocken, Strawinsky, zum Beispiel, oder Coltrane. Ja, dieser Abend ist ein sehr angenehmer Abend. Endlich ist es mir gelungen, für Mr. Oe Som eine Liste von Büchern zu erstellen, die unbedingt in die Sphäre wasserfester Lektüren transkribiert werden sollten. Ich habe folgende Auswahl übermittelt: Alice Munro Collected Stories . Louis Begley Novels . Max Frisch Montauk . Don DeLillo The Body Artist . James Salter Collected Srories . Jeffrey Eugenidis Middkesex . Bruce Chatwin The Songlines . Conrad Aiken Strange Moonlight . Samuel Beckett Krapps Last Tape . Italo Calvino Der Baron auf den Bäumen . Elias Canetti Die Stimmen von Marrakesch . Jürg Federspiel Die Ballade von der Typhoid Mary . Albert Sanchez Pinol Im Rausch der Stille . John Steinbeck Travels with Charley . José Saramago Kleine Erinnerungen . H.G.Wells The Island of Dr. Moreau . Paul Auster Red Notebook . Charles Simmons Salt Water . Jack Kerouac Book of Dreams . Malcolm Lowry Lunar Caustic . Patricia Highsmith Stories . Natalie Sarraute Kindheit . Herta Müller Herztier . Lutz Seiler Die Zeitwaage — stop
3 uhr
echo : 3.57 — Während der Nacht lange sitzen. Nichts tun. Nur atmen. Gegen drei Uhr Abstieg zur Straße. Die Treppe knarrt bei jedem Schritt vor Türen, hinter welchen Menschen schlafen. Auf der Straße ein leichter Wind. Es ist kühl geworden. In den Bäumen Geräusche, leise, leise, als würden die Vögel murmeln im Schlaf. Es ist aber deshalb, weil es nie wirklich dunkel wird in der Stadt. Stundenlang kann man sich über das Nahen des Morgens streiten. Wie ich zurückkomme, Licht weit oben, vier Fenster, beleuchtet, alle weiteren Fenster sind dunkel. Der Blick auf ein Haus, in dem ein Nachtmensch wohnt. Plötzlich bin ich wieder bei mir, trete in Zimmer, die vor Kurzem noch ohne mich gewesen sind. Mein Heft auf dem Tisch. Ich notiere: Es ist sinnvoll, Süsswasserkiemenmenschen von Salzwasserkiemenmenschen zu unterscheiden. Ich muss den Satz nicht begründen. Noch Dunkel. — stop
kekkola
ulysses : 22.00 — Schnell erzählen, was ich entdeckte, als ich Kekkola besuchte, dem ich seit einigen Jahren verbunden bin, weil er gern sehr seltsame Dinge tut. Eigentlich ist er nicht sonderlich verrückt, vielmehr sind die Menschen verrückt, von deren Leben Kekkola erzählt. Ich habe keine Ahnung, ob sie tatsächlich jemals existierten, jedenfalls nimmt es Kekkola sehr genau damit, sie zu verstehen, sich in sie einzufühlen. Einmal soll er drei Tage lang mit einem Luftgewehr reglos auf seinem Balkon gekauert haben. Er zielte gegen einen weiteren Balkon, oder auf ein Fenster, das sich hinter diesem Balkon befand. Er wartete. Es war im Winter gewesen und es war kalt im 38. Stock, ein Schneesturm passierte, ohne Kekkola vom Balkon vertreiben zu können. Als ich gestern mit ihm telefonierte, hörte ich im Hintergrund Wassergeräusche. Ich fragte, ob er zu Hause sei und ob ich vorbeikommen solle. Ich hatte den Eindruck, dass er vielleicht Fieber haben könnte, weil er nicht sehr deutlich formulierte, schläfrig und etwas irr. Also eilte ich zu ihm. Er bemerkte noch, dass er mir nicht öffnen würde, weil er sich in einem Versuch befände, der Schlüssel zur Wohnung sei in der Lobby abzuholen. Kekkola saß im Bad auf einem Stuhl vor seiner Wanne. Um ihn herum auf dem Boden lagen Wasserflaschen, auch Whiskey, Brotstangen, Bücher und eine Decke, die ihm von den Schenkeln gerutscht sein musste. Seine Füße standen in der Badewanne in Salzwasser, das von einer grünlichen Farbe war. Es roch moorig in der Zelle gleich neben der Küche. Glücklicherweise war Kekkola noch am Leben. Er hatte tatsächlich hohes Fieber. Ich bat einen Nachbarn um Hilfe. Wir hoben seine Beine vorsichtig aus dem Wasser, sie waren schwer entzündet, an seinen Zehen begann sich die Haut vom Körper zu lösen, eine Blaukrabbe hatte sich in seine linke Wade verbissen. Kekkola’s Füße stanken fürchterlich, er fluchte, wie wir ihn ins Schlafzimmer schleppten. Vier Tage hatte er in beschriebener Haltung ausgeharrt, fünf Tage wollte er schaffen. Als ich die Badewanne, der Ausfluss war verstopft, von Hand auszuschöpfen begann, entdecke ich einen jungen Hornhecht, drei Atlantikaale, Sandwürmer, Glasscherben, Schlickgarnelen, Muschelschalen und fünf weitere Blaukrabben, die sich heftig wehrten. — stop