Aus der Wörtersammlung: grenze

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ai : USA

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MENSCH IN GEFAHR: „Sara Bel­trán Hernán­dez floh vor häus­li­cher Gewalt und Ban­den­kri­mi­na­li­tät im Novem­ber 2015 aus El Sal­va­dor in die USA, um dort bei Ver­wand­ten zu leben. Sie wird seit­her in einer Haft­ein­rich­tung in Texas fest­ge­hal­ten, obwohl sie einen Asyl­an­spruch hat. Sie benö­tigt drin­gend medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und soll­te bis zur Ent­schei­dung über ihren Asyl­an­trag drin­gend auf Bewäh­rung frei­ge­las­sen wer­den. / Sara Bel­trán Hernán­dez befin­det sich in einer Haft­ein­rich­tung der US-ame­ri­ka­ni­schen Ein­wan­de­rungs- und Zoll­fahn­dungs­be­hör­de in Dal­las im Nor­den von Texas und war­tet auf den Gerichts­ent­scheid zu dem von ihr ein­ge­leg­ten Rechts­mit­tel gegen ihre Abschie­bung aus den USA. Sie befin­det sich seit ihrer Ankunft an der US-ame­ri­ka­ni­schen Gren­ze zu Mexi­ko am 4. Novem­ber 2015 in Haft. Obwohl sie Ange­hö­ri­ge mit US-ame­ri­ka­ni­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit hat, die ihr Erschei­nen bei allen zukünf­ti­gen Anhö­run­gen sicher­stel­len kön­nen, ver­wei­gern ihr die US-Behör­den eine Frei­las­sung auf Bewäh­rung und begrün­den dies mit Flucht­ge­fahr. / Sara Bel­trán Hernán­dez bean­trag­te Asyl in den USA, weil sie ihren Aus­sa­gen zufol­ge in El Sal­va­dor Mord­dro­hun­gen von einem Ban­den­füh­rer und Ban­den­mit­glie­dern erhal­ten hat, die bereits Men­schen getö­tet haben sol­len. Sara Bel­trán Hernán­dez hat an Eides statt erklärt, dass sie schwe­re kör­per­li­che und see­li­sche häus­li­che Gewalt erfah­ren hat und sexu­ell miss­braucht wur­de. / Laut ihrem Rechts­bei­stand brach Sara Bel­trán Hernán­dez am 10. Febru­ar 2017 in der Haft­ein­rich­tung zusam­men. Ange­stell­te des Haft­zen­trums brach­ten sie dar­auf­hin in das Hugu­ley-Kran­ken­haus im texa­ni­schen Fort Worth. Am 13. Febru­ar 2017 infor­mier­te sie ihren Rechts­bei­stand dar­über, dass bei ihr ein Gehirn­tu­mor dia­gnos­ti­ziert wor­den sei, der ope­ra­tiv ent­fernt wer­den müs­se. Am 18. Febru­ar, erst acht Tage nach ihrer Ein­lie­fe­rung ins Kran­ken­haus, gestat­te­te die Ein­wan­de­rungs- und Zoll­fahn­dungs­be­hör­de Sara Bel­trán Hernán­dez, ihre Fami­lie anzu­ru­fen. Sie sag­te, sie habe inzwi­schen Krämp­fe, Nasen­blu­ten sowie Kopf­schmer­zen und Pro­ble­me klar zu den­ken. Sie sei aber immer noch nicht ope­riert wor­den. Am 22. Febru­ar teil­te ihr das Kran­ken­haus­per­so­nal mit, dass sie am 27. Febru­ar ope­riert wer­de und brach­te sie in die Haft­ein­rich­tung zurück. / Eine Inhaf­tie­rung soll von Ein­wan­de­rungs­be­hör­den ledig­lich als letz­tes Mit­tel ein­ge­setzt und jeder ein­zel­ne Fall muss begrün­det wer­den. Frei­las­sung auf Bewäh­rung soll­te aus huma­ni­tä­ren Grün­den in den Fäl­len gewährt wer­den, in denen die Per­son kei­ne Bedro­hung für die öffent­li­che Sicher­heit dar­stellt und kei­ne Flucht­ge­fahr besteht. Da die­se Vor­ga­ben auf Sara Betrán zutref­fen, soll­te sie umge­hend aus der Haft ent­las­sen wer­den.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 7. April 2017 hin­aus, unter > ai : urgent action

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aleppo

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romeo : 0.15 — Ärz­te ohne Gren­zen notie­ren am 15. Okto­ber 2016: „Syri­sche und rus­si­sche Luft­an­grif­fe haben inner­halb von 24 Stun­den vier Kran­ken­häu­ser im bela­ger­ten Ost-Alep­po getrof­fen. Eines der Kran­ken­häu­ser wur­de dabei schwer­be­schä­digt, min­des­tens zwei Ärz­te wur­den ver­letzt. Auch ein Kran­ken­wa­gen wur­de bei den Angrif­fen zer­stört und des­sen Fah­rer getö­tet. / Das Gesund­heits­sys­tem im bela­ger­ten Ost-Alep­po erlitt damit am 14. Okto­ber die schwers­ten Schä­den seit dem Schei­tern der kur­zen Waf­fen­ru­he Ende Sep­tem­ber. Die Inten­si­tät der Luft­an­grif­fe auf die nord­sy­ri­sche Stadt nahm in den Tagen zuvor wei­ter zu. / Laut der Direk­ti­on für Gesund­heit sowie dem foren­si­schen Zen­trum in Ost-Alep­po star­ben dort zwi­schen dem 11. und dem 14. Okto­ber min­des­tens 62 Men­schen, 467 Men­schen wur­den ver­letzt, dar­un­ter 98 Kin­der. Die Zahl der Toten und Ver­wun­de­ten liegt mög­li­cher­wei­se noch höher, denn vie­le Fami­li­en begra­ben ihre Toten selbst, ohne sie in ein Kran­ken­haus zu brin­gen. / “Die Stadt bricht immer wei­ter zusam­men” / „Die rück­sichts­lo­sen Luft­an­grif­fe sind ein­deu­tig noch schlim­mer gewor­den“, sagt Car­los Fran­cis­co, Lan­des­ko­or­di­na­tor von Ärz­te ohne Gren­zen für Syri­en. „Eines der Kran­ken­häu­ser, die ges­tern getrof­fen wur­den, wur­de stark beschä­digt. Es ist ein wich­ti­ges chir­ur­gi­sches Zen­trum, das in den ver­gan­ge­nen Wochen schon drei­mal getrof­fen wor­den ist. Die Inten­si­tät der Angrif­fe erstickt die weni­gen medi­zi­ni­schen Kapa­zi­tä­ten, die das Gesund­heits­sys­tem in Alep­po noch hat. Die Stadt bricht immer wei­ter zusam­men, Tag für Tag, Stun­de für Stun­de. Syri­en und Russ­land zer­stö­ren die letz­ten Orte, an denen noch Leben geret­tet wer­den kön­nen. Damit zei­gen sie, dass sie in Ost-Alep­po jeg­li­ches Leben unmög­lich machen wol­len.“ / Laut Berich­ten von Kran­ken­haus­mit­ar­bei­tern in Ost-Alep­po wur­den bei den Angrif­fen vom 14. Okto­ber zwei Ärz­te ver­letzt, ein Lager­ver­wal­ter eines der Kran­ken­häu­ser erlitt Ver­bren­nun­gen. Bis­lang gab es in Alep­po noch 35 Ärz­te für rund 250.000 Men­schen. Nur sie­ben von ihnen sind Chir­ur­gen, die Kriegs­ver­letz­te ope­rie­ren kön­nen. Seit dem Beginn der Bela­ge­rung des Ost­teils im Juli wur­den die weni­gen ver­blie­be­nen Kran­ken­häu­ser 27 Mal getrof­fen, nicht ein ein­zi­ges Kran­ken­haus ist bei den Luft­an­grif­fen ohne Scha­den geblie­ben. / Nur noch elf funk­ti­ons­tüch­ti­ge Kran­ken­wa­gen / Auch ein Kran­ken­wa­gen der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on (NGO) Al-Scham-Huma­ni­ta­ri­an-Foun­da­ti­on (AHF) wur­de am 14. Okto­ber kom­plett zer­stört, der Fah­rer wur­de getö­tet. Die AHF stellt den Men­schen in Syri­en seit 2011 kos­ten­lo­se medi­zi­ni­sche Hil­fe zur Ver­fü­gung. Erst eini­ge Tage zuvor hat­te die Direk­ti­on für Gesund­heit berich­tet, dass auf­grund der Luft­an­grif­fe sowie der feh­len­den Ersatz­tei­le nur noch elf funk­ti­ons­fä­hi­ge Kran­ken­wa­gen in Ost-Alep­po bereit­ste­hen. Frei­wil­li­ge und NGOs nut­zen ein­fa­che Fahr­zeu­ge, um Ver­wun­de­te zu trans­por­tie­ren. / „Wir haben es bereits gesagt und sagen es erneut: Alle Kon­flikt­par­tei­en müs­sen ermög­li­chen, dass schwer Ver­wun­de­te und Kran­ke aus der Stadt gebracht wer­den, bevor es zu spät ist“, sagt Pablo Mar­co, Lei­ter der Nah­ost-Pro­gram­me von Ärz­te ohne Gren­zen. „Über­le­bens­wich­ti­ge Güter und medi­zi­ni­sches Mate­ri­al müs­sen in die Stadt gebracht wer­den kön­nen. Die Men­schen dort lei­den nicht nur unter dem anhal­ten­den Bom­ben­ha­gel, son­dern auch dar­un­ter, dass sie über­haupt kei­ne Unter­stüt­zung erhal­ten.“ / Ärz­te ohne Gren­zen unter­stützt in Ost-Alep­po alle acht ver­blie­be­nen Kran­ken­häu­ser. Lan­des­weit unter­stützt die Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on mehr als 150 Gesund­heits­zen­tren und Kli­ni­ken. Im Nor­den Syri­ens betreibt Ärz­te ohne Gren­zen selbst sechs medi­zi­ni­sche Ein­rich­tun­gen. Zu den von der syri­schen Regie­rung kon­trol­lier­ten Gebie­ten ein­schließ­lich West-Alep­po erhält die Orga­ni­sa­ti­on kei­nen Zugang. - stop

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ein gespräch

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fox­trott : 0.28 – Ein­mal nur für kur­ze Zeit die unver­rück­ba­re Gren­ze des Todes mit­tels eines Funk­ge­rä­tes über­schrei­ten. Ich stell­te mir vor, ich könn­te ein Gespräch füh­ren mit einem Selbst­mord­at­ten­tä­ter, sagen wir mit MMK. Ich berich­te­te O. von die­ser Idee. Ich sag­te, stell Dir ein­mal vor, ich wür­de fol­gen­de Sät­ze spre­chen: Lie­ber MMK, jetzt bist Du also tot, Du hast Dei­nen Auf­trag zur vol­len Zufrie­den­heit Dei­ner Vor­ge­setz­ten erfüllt, Du hast Dich in die Luft gesprengt, in alle Him­mels­rich­tun­gen sind Tei­le Dei­nes Kör­pers davon­ge­flo­gen. Wie geht es Dir jetzt? Wo bist Du, mein Freund? — O., der inter­es­siert zuge­hört hat­te, ant­wor­te­te: Sag, lie­ber Lou­is, was erwar­test Du denn, was MMK ant­wor­ten wür­de? Ehe ich spre­chen konn­te, setz­te O. fort, er sag­te: Ich neh­me an, Du wirst dar­an den­ken, dass er Dir sagen wird: Kein Para­dies. Dun­kel. Nichts. Ich bin allein, ver­dammt. Er schau­te mich bedeu­tungs­voll an. Was aber, lie­ber Lou­is, machst Du, wenn er Dir erzählt, dass er im Para­dies ange­kom­men sei, dass alles noch wun­der­ba­rer sei, als je vor­ge­stellt, ja, was machst Du dann, mein Jun­ge? — stop

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aylan kurdi

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sier­ra : 23.25 — Ich hat­te bis zum spä­ten Abend kei­ne Zei­tung gele­sen und auch die Fern­seh­ma­schi­ne nicht ange­stellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, frag­te, ob ich die Foto­gra­fie mit dem Jun­gen gese­hen hät­te, der aus Kobanê geflüch­tet, vor einem Urlau­ber­strand der Tür­kei ertrun­ken und Land gespült wor­den sei. Er sag­te, er habe mir die Auf­nah­me gera­de eben geschickt, und ich hör­te genau in die­sem Moment das Geräusch einer ankom­men­den E‑Mail mit dem Betreff: Der Jun­ge. Eine hal­be Stun­de spä­ter öff­ne­te ich die Datei. Auf der Foto­gra­fie war der Kör­per eines Kin­des am Strand zu erken­nen, ein­sam, unend­lich ein­sam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrun­ken war, sei­nen Kör­per behut­sam am Strand abge­legt, seht her, schaut, was gesche­hen ist, öff­net die Gren­zen, lasst Flücht­lings­men­schen end­lich mit Flug­zeu­gen zu euch kom­men, wehrt sie nicht ab, errich­tet kei­ne Zäu­ne, hört auf, Waf­fen zu lie­fern, mit wel­chen tat­säch­lich auf Men­schen geschos­sen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekom­men seid. Mil­lio­nen elek­tri­sche Exem­pla­re die­ser Foto­gra­fie eines leb­lo­sen Kin­des sol­len sich inner­halb weni­ger Stun­den um die Welt ver­brei­tet haben, eine Foto­gra­fie, die nie wie­der ver­schwin­den wird, ein Gedächt­nis­bild mög­li­cher­wei­se, wie das Bild (Pulit­zer­preis 1973) der durch fri­end­ly fire schwer ver­letz­ten Kim Phúc und der Geschwis­ter des Mäd­chens, flie­hend auf einer Stra­ße im Süden Viet­nams, ein Gedächt­nis­bild, an das sich die Mensch­heit nun gewöh­nen wird, das Bild betrach­ten und beden­ken, damit es sei­nen Schre­cken ver­liert, bis man es nicht mehr wahr­neh­men wird. Der Name des Jun­gen: Aylan Kur­di. Er wur­de 3 Jah­re alt. Nicht alle wer­den sich gewöh­nen. — stop

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vor neufundland 1.16.28 uhr : kirschblüten

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zou­lou : 0.08 — Die Nach­richt, ein afri­ka­ni­scher Mann von der Elfen­bein­küs­te habe bereits am ver­gan­ge­nen Mitt­woch sei­nen 8 Jah­re alten Sohn in einem Roll­kof­fer über die marok­ka­nisch – spa­ni­sche Gren­ze nach Euro­pa trans­fe­riert. Das Kind wur­de wäh­rend einer Kof­fer­durch­leuch­tung lebend ent­deckt, sein Vater fest­ge­nom­men. Ich erin­ne­re mich, vor zwan­zig Jah­ren ein­mal beob­ach­tet zu haben, wie am Zen­tral­bahn­hof ein Kind in ein Gepäck­schließ­fach klet­ter­te, eine Frau, viel­leicht die Mut­ter des Kin­des, klapp­te die Tür des Schließ­fa­ches zu, war­te­te eini­ge Sekun­den, dann öff­ne­te sie die Tür wie­der und das Kind klet­ter­te aus dem Fach. Das Kind lach­te. — Mel­dung von Noe aus 805 Fuß Mee­res­tie­fe vor Neu­fund­land. ANFANG 01.14.02 | | | > s t o p habe das wort som­mer­zeit notiert. s t o p kurz dar­auf ein­ge­schla­fen. s t o p als ich erwa­che liegt mei­ne hand noch auf der tas­ta­tur der maschi­ne. s t o p ein gel­ber fisch. s t o p behut­sam. s t o p als ob er mit mei­nem hand­schuh spre­chen woll­te. s t o p wer­de bald ohne luft sein. s t o p das ist denk­bar, s t o p ohne erin­ne­rung. h u n t i n g r e d f i s h f r o m a b o v e. s t o p plan­los. s t o p ein laut­lo­ses ende. s t o p der duft der kirsch­blü­ten. s t o p von einem atem­zug zum ande­ren. s t o p stark. s t o p süß. s t o p viel­leicht flie­der? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p | | | ENDE 01.16.28

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galina

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sier­ra : 16.28 — Ges­tern Abend, im Flug­ha­fen­zug, erzähl­te Gali­na, die seit zehn Jah­ren in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land lebt, sie sei vor weni­gen Wochen mit ihrer 85-jäh­ri­gen Groß­mutter nach Ägyp­ten ans Meer geflo­gen, ein Wag­nis, ein Aben­teu­er, weil ihre Groß­mutter, eine feder­leich­te Per­son, kaum noch auf ihren eige­nen Füßen gehen kön­ne. Man habe sie in einem klei­nen, offe­nen Elek­tro­au­to­mo­bil vor das Flug­zeug gefah­ren und das „uralte Mäd­chen“ mit­tels einer spe­zi­el­len Hebe­büh­ne zu einer beson­de­ren Tür am Heck des Flug­zeu­ges trans­por­tiert. Dort sei sie win­kend ver­schwun­den, um ihrer Enke­lin kurz dar­auf freu­de­strah­lend mit­tels eines Rol­la­tors im Gang des Flug­zeu­ges ent­ge­gen­zu­kom­men, als hät­ten sie sich Jah­re nicht gese­hen. Die alte Frau, deren Name Gali­na nicht erwähn­te, soll in ihrem Leben weit her­um­ge­kom­men sein. Sie leb­te in der Ukrai­ne nahe Donezk, eini­ge Jah­re spä­ter zog sie nach Kir­gi­si­en wei­ter, auch dort, nahe der chi­ne­si­schen Gren­ze, wur­de die deut­sche Spra­che in einer Wei­se gespro­chen, dass ich sie nur mit Mühe ver­ste­hen wür­de, bemerk­te Gali­na. In Ägyp­ten habe ihre Groß­mutter stun­den­lang bis zu den Schul­tern mit Was­ser bedeckt im Meer gestan­den, sie habe sich an einem Schwimm­brett fest­ge­hal­ten und gesummt und gewar­tet, dass die Fische zu ihr kom­men. Ihr drei­ecki­ges Kopf­tuch, das sie immer­zu tra­ge, habe sie indes­sen so gebun­den, wie sie es von Grace Kel­ly lern­te. Abends saßen die jun­ge und die alte Frau in lind­grü­ne Bade­män­tel gehüllt im Hotel­zim­mer vor dem Bild­schirm eines Note­books. Sie waren via Sky­pe mit Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in Donezk ver­bun­den, immer wie­der sei die Ver­bin­dung unter­bro­chen wor­den, ein­mal sei­en Deto­na­tio­nen zu hören gewe­sen, da habe sich ihre Groß­mutter ins Bett gelegt. Am nächs­ten Mor­gen schweb­te die alte Frau wie­der lan­ge Zeit im Meer dahin. — stop
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geräusche des krieges

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nord­pol : 2.37 — Immer wie­der ein­mal begeg­ne ich im Nacht­zug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr lei­se, kaum jemand scheint sich von sei­nem Sin­gen gestört zu füh­len. Wäh­rend er singt, sind sei­ne Augen weit geöff­net, er blickt ins Lee­re, sein Mund ist geschlos­sen, Töne, die wir ver­neh­men, kom­men aus sei­nem Hals her­aus, der bebt, wenn er singt. Nur sel­ten habe ich mit dem Mann gespro­chen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im sel­ben Zug in der­sel­ben Rich­tung, es ist müh­sam, mit ihm zu spre­chen, weil er stot­tert. Ich darf ihn nicht anse­hen, wenn ich ihn nicht anse­he, kom­men manch­mal gan­ze Sät­ze aus sei­nem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der per­si­schen Stadt Isfa­han gebo­ren wur­de, Archi­tek­tur stu­dier­te, gegen ira­ki­sche Män­ner kämpf­te, die jung waren wie er selbst, und dass er nur durch einen Zufall über­leb­te. Er konn­te flie­hen. Er floh zu Fuß in die Tür­kei, eine lebens­ge­fähr­li­che Rei­se, Sahin, sei­ne Frau, wur­de von irgend­je­man­dem ange­schos­sen, er trug sie kilo­me­ter­weit durchs Gebir­ge, nahe der Gren­ze begeg­ne­ten sie einem Esel, dem ein Bein fehl­te. Sie schlie­fen unter einem Baum ohne Blät­ter, in der Nacht schlepp­ten sie sich wei­ter, der Mond war heiß wie die Son­ne und auf den Wegen hock­ten Schild­krö­ten mit blau schim­mern­den Augen. Manch­mal kom­men die Geräu­sche vom Krieg, sie kom­men, wann sie wol­len, dann singt der Mann. – stop

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san lorenzo de esmeraldas

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kili­man­dscha­ro : 6.55 — Am Sams­tag der ver­gan­ge­nen Woche erreich­te mich eine Waren­sen­dung, die in einem Dorf namens San Loren­zo de Esme­ral­das bereits im Juli auf­ge­ge­ben wor­den war. Die klei­ne Ort­schaft liegt nahe der Gren­ze zu Kolum­bi­en im Dschun­gel unweit der Pazi­fik­küs­te, lan­ge Näch­te, feuch­te Luft, krei­schen­de Tama­ri­ne. Das Päck­chen, ich hat­te lan­ge dar­auf gewar­tet, ent­hielt ein Käst­chen von Holz in der Grö­ße einer Zigar­ren­schach­tel, das mit­tels eines blau­en Gum­mi­rie­mens ver­schlos­sen wur­de. Ich stell­te das Käst­chen auf mei­nen Schreib­tisch ab, um es vor­sich­tig zu öff­nen. Fei­ner, hel­ler Sand wur­de sicht­bar, Sand, so fein wie gemah­le­ner Kam­pot-Pfef­fer. Bald arbei­te­te ich mich mit einem Pin­sel vor­sich­tig in die Tie­fe vor­an, bis ich auf zwei Kör­per stieß. Es han­del­te sich um Käfer­we­sen, die des­halb etwas Beson­de­res dar­stell­ten, weil sie je über zwei Köp­fe ver­füg­ten und über sechs Füh­ler, die im Moment mei­ner Besich­ti­gung nicht im Gerings­ten auf mei­ne Gegen­wart reagier­ten. Nach einer hal­ben Stun­de, ich hat­te die Käfer bis dahin lie­be­voll betrach­tet, waren end­lich Lebens­zei­chen zu erken­nen, die Füh­ler der Käfer beweg­ten sich, und ich hob sie aus ihrem Sand­bett und sie schlu­gen mit den Flü­geln, als woll­ten sie mich begrü­ßen. Ihre Kör­per waren weich, sie beb­ten, und sie ver­ström­ten einen fei­nen Duft, der mich an Man­deln erin­ner­te. Zur ers­ten Pro­be setz­te ich einen der Käfer an mein lin­kes Ohr, und der Käfer drang unver­züg­lich in mich ein, sehr behut­sam, bis ich bemerk­te, dass sei­ne Füh­ler mein Trom­mel­fell betas­te­ten. Kurz dar­auf wei­te­te sich sein Kör­per, ich hör­te ihn knis­tern, bis er mei­nen Gehör­gang voll­stän­dig füll­te. Ein Pochen war zu ver­neh­men, das mich müde wer­den ließ. Kaum hat­te ich den zwei­ten Käfer in das ande­re mei­ner Ohren gesetzt, schlief ich ein. Zwölf Stun­den lang schlief ich tief und fest, mei­ne Stirn ruh­te auf dem Schreib­tisch. Als ich erwach­te, hat­ten sich bei­de Käfer wie­der in ihr Sand­bett zurück­ge­zo­gen. Es ist jetzt frü­her Mor­gen. — stop
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kleine anatomische geschichte

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echo : 5.01 — Ges­tern ist mir wie­der ein­mal etwa Selt­sa­mes mit mir selbst pas­siert. Ich beob­ach­te­te im Spie­gel ein Augen­lid, das flat­ter­te. Ich war noch nicht lan­ge wach gewe­sen. Als sich das Augen­lid beru­higt hat­te, bemerk­te ich, dass auch ein klei­ner Mus­kel an mei­ner lin­ken Wan­ge beb­te und ich über­leg­te, wel­cher Mus­kel das genau sein könn­te. In die­sem Moment erin­ner­te ich mich an eine klei­ne Geschich­te, die ich vor weni­gen Jah­ren in einem Café erleb­te. Eine Freun­din saß mir gegen­über. Wir spra­chen über dies und das. Plötz­lich beschwer­te sie sich, ich wür­de sie so selt­sam anse­hen. Tat­säch­lich hat­te ich Bewe­gun­gen ihres Gesich­tes beob­ach­tet, in den Momen­ten genau, da sie sprach oder lach­te. Es war ein unwill­kür­li­cher Blick unter die Haut gewe­sen, ein sozu­sa­gen ana­to­mi­scher Blick, der sie irri­tier­te, ohne zu wis­sen, wes­halb genau. Sie mein­te, ich wür­de ihr nicht zuhö­ren, son­dern träu­men. In die­sem Moment wur­de deut­lich: Sobald ich einen Men­schen in ana­to­mi­scher Wei­se betrach­te, wird mein Blick in den Augen des Betrach­te­ten kein schar­fer Blick sein, wie man viel­leicht erwar­ten wür­de, son­dern ein unschar­fer Blick, eine Gren­ze über­schrei­tend, fan­ta­sie­rend. — stop
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