alpha : 3.28 — Ich denke an eine Apparatur, die in der Lage sein könnte, ein Buch in einem vorgegebenen Rhythmus selbstständig umzublättern. Ich habe von dieser Maschine vor zwei Jahren bereits schon einmal berichtet. Auch davon, dass ich die Maschine in meinem Kopf zusammensetzte, während ich zur gleichen Zeit die Anzahl der Schrauben notierte, die im wirklichen Leben zur Fertigung nötig sein werden. Ich könnte diese Geschichte im Grunde Wort für Wort noch einmal erzählen, weil ich sie gerade erlebte oder weil ich mich an sie erinnerte. Die Maschine in meiner Geschichte sollte über zwei Arme verfügen, gleichwohl über fingerähnliche Fortsätze, einen Motor und Sensoren, empfindlich für Licht. Während ich die Maschine in meinem Kopf zusammensetzte, notierte ich wiederum die Anzahl der Schrauben, die im wirklichen Leben zur Fertigung nötig sein werden, handschriftlich auf ein Blatt Papier. Immer wieder, wenn ich in meiner Arbeit gestört wurde, setzte ich neu an. Das ist nämlich nach wie vor sehr merkwürdig mit Maschinen, die ich erfindend montiere, sie verschwinden vollständig aus dem Kopf, sobald ich nur für eine Sekunde meine Arbeit zu unterbrechen habe, sagen wir, weil ich höre, wie draußen weit unten auf der Straße Schritte laufen. — Noch zu tun: Das Wort Zitronenbach untersuchen. — stop
Aus der Wörtersammlung: hand
sophia
echo : 2.10 — Ludwig schickte mir einen Wecker, der es in sich hat. Als würden fünf oder sechs Bienen im Weckergehäuse ihre Runden drehen, solch ein Geräusch kommt aus dem Wecker. Eigentlich sieht der Wecker aus wie jeder andere Wecker seiner Art, etwas altmodisch in der Gestaltung. Er ruht auf drei Beinchen, und sein Zifferblatt ist rund und mit einer Zeichnung geschmückt, irgendwelche Blumen, Blüten, weiß, rot und blau. Oben auf dem Wecker sitzen zwei metallene Schirme fest, zwischen ihnen ruht ein Kegel, damit könnte der Wecker sich verständigen, wenn man ihn dazu auffordern sollte. Natürlich handelt es sich bei diesem Wecker, den Ludwig mir schickte, um einen besonderen Apparat, der nicht nur die Zeit messen, sondern angeblich auch Zeiträume auslöschen kann, in dem er jedes menschliche Wesen, das sich in seiner Nähe aufhält, in den Schlaf zu schicken vermag. Ja, tatsächlich, kein Irrtum. Man habe, hörte ich, Ludwigs Geliebte Sophia unlängst aufgefunden, wie sie vor einem Wecker saß, genau so einem Wecker, wie Ludwig ihn mir schickte. Lange Zeit war sie verschwunden gewesen. Als man ihre Wohnung gewaltsam öffnete, war nichts zu hören als ein Radio, das leise spielte. Sophia saß in der Küche vor dem Küchentisch, ihr Kopf war etwas geneigt von der Schwerkraft, ihre Hände lagen im Schoss, ein Glas, das Wasser darin weitgehend verdunstet, stand neben dem Wecker auf dem Tisch. Sie wirkte friedvoll, schien zu lächeln, vermutlich hatte sie bis zuletzt geschlafen. Schmal war sie geworden und blass, ihre Haut fühlte sich an, als wäre sie von Papier. Die Luft im Raum muss schwer gewesen sein, und süß und scharf in gleicher Weise. Alle, die sich dem Wecker auf dem Tisch näherten, schliefen auf der Stelle ein, sodass man sich nicht anders zu helfen wusste, als auf den Wecker zu schießen. — stop
vor den mangroven
delta : 2.25 — Es darf nicht sein, dass Leute einem den Film kaputt machen. Manchen habe ich schon das Essen aus der Hand gerissen und weggeworfen. Man muss sie verprügeln oder bedrohen, sonst ist der Film verdorben, man hat das Recht sie umzubringen, damit sie aufhören. Aber Mord ist keine sehr gute Lösung, nachher wird man noch verhaftet, bevor der Film zu Ende ist. Als ich die „Lady von Shanghai“ das letzte Mal gesehen habe, wollte ich nicht einfach nur mit Rita Hayworth schlafen: Ich wollte Sex mit ihr in Schwarzweiß! Vielleicht könnte man das mit Kontaktlinsen oder einer Brille hinkriegen, die alles in Monochrom verwandelt. Das ist eine seltsame Sache, dass ihre Lippen nicht rot sind. Und das liegt nicht am Lippenstift. Ihr Mund hat diese besondere Farbe, weil er in diesem silbrigen Schwarzweiß gefilmt worden ist. Sie ist ein Fetischobjekt, nicht nur, weil sie so schön ist, sondern weil Welles’ Kamera sie fotografiert hat. Deshalb möchte man nicht nur einfach Sex mit Rita Hayworth, man möchte genau mit dieser Figur aus dem Film schlafen. Der Grund, warum ich sexuell total verkümmert bin, liegt in meinem Scheitern, den filmischen Vorbildern gerecht zu werden. Im echten Leben spielt sich Sex niemals in Schwarzweiß ab. — Diese kleine Geschichte, die eigentlich aus zwei Geschichten besteht, erzählte Jack Angstreich gerade noch in dem wundervollen Film Cinemania von Angela Christlieb und Stephen Kijak, einer Dokumentation, die von dem Leben leidenschaftlicher Kinogänger in New York berichtet. — 2:15 Uhr. Regen nach wie vor, kühler, hellgrauer Herbstregen. Es könnte sein, dass dieser Regen nie wieder aufhören wird. In einigen tausend Jahren bald bewegten sich amphibische Eichhörnchen vor meinem Fenster durchs Mangrovengebiet. Ebenso denkbar ist, dass ich zu diesem Zeitpunkt über zugespitzte Fingerbeeren verfügen werde, geeignet, jede der filigranen Tastaturen moderner Telefonapparate fehlerfrei und gelassen bespielen zu können. — stop
ein zeppelinkäfer
echo : 2.54 — Wann war es, dass ich zum ersten Mal bemerkte, wie meine Briefe kleiner und kleiner wurden? Wesen von wirklichem Papier, Bögen in Umschlägen, mit einem Postwertzeichen, das zuletzt die Anschriftenseite meines Schreibens vollständig bedeckte. Im Postamt werde ich seither ernst genommen. Vor einigen Wochen kaufte ich sinnvollerweise ein handliches Mikroskop und einen Satz Bleistifte von äußerster Härte. Ich spitzte das Schreibwerkzeug eine Viertelstunde lang, dann legte ich einen Bogen Papier in das Licht einer Linse mittlerer Stärke. Ich näherte mich mit bebenden Fingern. Man sollte mich in diesem Moment gesehen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das kleine Blatt notierte, hielt ich die Luft an. Tatsächlich habe ich in meinen Leben noch nie zuvor in einer derart sorgfältigen Weise geschrieben. Ich brauchte drei Stunden Zeit, um das Papier, das nicht größer gewesen war als eine Briefmarke von 1,5 cm Kantenlänge, vollständig zu beschriften. Ich schrieb folgende Zeilen an einen Freund: Lieber Stanislaw, Du wirst es nicht glauben, nach 1 Uhr heute Nacht schwebte ein Zeppelinkäfer einer nicht sichtbaren, schnurgeraden Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. – Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. – Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit sechs recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. Dein Louis, herzlichst. — Es war eine wirklich harte Arbeit, all diese Zeichen zu notieren. Dann faltete ich das Blatt Papier einmal kreuz und quer. Ich arbeite mit zwei Pinzetten wiederum unter starkem Licht, steckte den Brief in ein Couvert, dessen Herstellung noch mühevoller gewesen war als das Schreiben des Briefes selbst, und machte mich auf den Weg in das nächste Postamt. Dort wurde ich unverzüglich an den Schalter für besondere Briefformate weitergeleitet, wo mein Brief, den ich mit einer Pinzette auf den Tresen befördert hatte, von einer weiteren Pinzette entgegengenommen wurde. Ich war sehr glücklich. Ich beobachtete, wie der Beamte eine Briefmarke von der Größe eines Reiskorns behutsam auf meinen Brief legte und mittels eines Stempels, der vor meinen bloßen Augen kaum noch sichtbar gewesen war, entwertete. Dann ging mein Brief auf Reisen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kurze Zeit vergessen. Nun aber, vor wenigen Stunden, wurde mir von einem Sonderboten der Post ein Brief von derart leichter Gestalt übergeben, dass ich zunächst die Anweisung erhielt, alle Fenster meiner Wohnung zu schließen. Dieser Brief, eine Depesche meines Freundes, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein kleines Kunstwerk. Auf seiner Briefmarke sollen sich zwei Paradiesvögel befinden, die ihre Schnäbel kreuzen. Ich werde das gleich überprüfen. — Es ist Freitag! Guten Morgen! — stop / fürs mariechen
jean paul
charlie : 3.08 — Während eines Gespräches im Gehen erzählte ich Mutter, dass ich vor Jahren einmal fürchtete, ihr Leben könnte vor dem Leben meines Vaters enden. In Bruchteilen einer Sekunde antwortete sie, dass Vater ihr in diesem Falle unmittelbar nachgestorben wäre. Ich war sofort stehen geblieben, das Wort nachsterben irritierte. Ich meinte dieses Wort noch nie zuvor gehört zu haben, und überlegte, ob Mutter das Wort vielleicht erfunden haben könnte, ein Wort also für eine Situation, die sie sich selbst vorgestellt haben mochte. Einige Stunden später suchte ich nach dem Wort in der digitalen Sphäre. Tatsächlich existiert dieses Wort bereits seit langer Zeit. Ich war nun ein altes Kind gewesen, das Wörter lernt, in dem es Geräusche von den Lippen seiner Mutter liest. Habe auf der Suche nach den Spuren jenes Wortes eine feine Beobachtung Jean Pauls entdeckt: Außerhalb des Traums kommen uns Empfindbilder öfter von Tönen als von Reden und Schällen vor; nach einer Musiknacht kann die bewegte Seele sich willkürlich die Melodien, aber nicht die Gespräche wiederklingen lassen; denn wie sehr der Musikton, die Poesie des Klanges, so tief mehr in uns als um uns zu spielen und unter allen Empfindungen von uns mehr geschaffen als empfangen zu werden scheint, beweiset die schon angeführte Erfahrung, daß wir an einem Singen und Flöten, das in immer weitere Ferne verfließt, gerade mit dem gespanntesten Ohre die letzten aussterbenden Töne von Außen nicht von den nachsterbenden von Innen sondern können. — stop. Drei Uhr. stop. Heute Nacht pfeift ein Vogel im Dunkeln, obwohl es noch lange Zeit nicht hell werden wird. Das ist seltsam. Er scheint mich im Auge zu behalten. Ich stehe am Fenster und bewege einen Arm und eine Hand, als würde ich winken. Diese Geste lässt den Vogel verstummen, warum? — stop
capote
nordpol : 1.22 — Gegen sechs Uhr rief ich bei Lions Writers Support Services an. Guten Abend, sagte ich, ich benötige dringend einen Capote zum Spazieren am kommenden Samstag. Haben Sie vielleicht einen für mich frei, den Sie mir leihen könnten von 3 Uhr am Nachmittag bis in die Nacht irgendwann? Das Fräulein am anderen Ende der Leitung antwortete: Einen Capote? Bitte warten Sie einen Moment. Also wartete ich. Ich wartete ungefähr fünf Minuten, hörte, wie sie mit irgendwelchen Leuten diskutierte. Ich glaube, sie bedeckte, während sie sprach, mit einer Hand die Mikrofonmuschel ihres Telefonhörers zu. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück: Ja, sagte sie, wir haben einen Capote frei am kommenden Samstag. Wo wollen sie ihn treffen? Ich antwortete, dass ich unbedingt am Strand von Coney Island spazieren müsse, Treibgut sammeln, Sturmzeichen notieren, das Meer betrachten, mit Truman über das Wasser sprechen, über digitale Schreibmaschinen, Funkbücher und alle diese Dinge. Treffpunkt also Brighton Beach Avenue Ecke 3th Street! Wird gemacht, bestätigte das Fräulein, Sie wissen schon, Capotes sind nicht ganz billig? Oh, ja, sagte ich, das will ich gerne glauben. Wie viel, fragte ich, was habe ich zu erwarten? — 150 Dollar die Stunde, antwortete das Fräulein. Sie machte eine kurze Pause, um bald hinzuzusetzen, dass sie etwas weniger berechnen würde, weil jener Capote, der für mich reserviert war, bereits für eine Freitagsparty gebucht worden sei. Er wird nicht ganz frisch am Samstag vor Ihnen erscheinen, sagen wir 120 Dollar, wäre das in Ordnung? — Aber natürlich wäre das in Ordnung, ich jubilierte, ein verkaterter Capote, eventuell leicht betrunken, wundervoll! Ich quittierte 1200 Dollar für zehn Stunden und notierte: Spaziergespräch mit Truman Capote. Samstag, 18. Mai, 15 Uhr. Das war also gestern gewesen. Vor wenigen Minuten wurde mir per Kurier eine Gebrauchsanweisung für Herrn Truman Capote übermittelt. Ein Handbuch. 15 Seiten. — stop
echoes
sierra : 5.28 — Eine Ameise hatte trotz der großen Höhe, in der sich meine Wohnung befindet, zu mir gefunden. Sie kletterte vorsichtig gegen den Boden zu, tastete sich über warmes Holz, erreichte ein Tischbein, um kurz darauf direkt vor meinen Augen zu erscheinen. Vielleicht wird sie meinen Atem wahrgenommen haben, einen Wind, denn sie duckte sich kurz, ich hatte den Eindruck, dass sie mich betrachtete. Aber dann lief sie weiter, umrundete meine Schreibmaschine, kreuzte über den Tisch, um auf der anderen Seite wieder abzusteigen und in der Dunkelheit des Fensters zu verschwinden. Nur wenige Minuten später, ich hatte das Zimmer kurz verlassen, bewegte sich eine dunkel schimmernde Ameisenherde exakt auf dem Pfad, den zuvor das einsame Tier genommen hatte, durch den Raum. Ein doch äußerst bemerkenswerter Vorgang. Möglicherweise hatte es sich zunächst um eine Kundschafterameise gehandelt, die mich besuchte. Ihre Brüder, ihre Schwestern waren nun sehr zielstrebig in meinem Zimmer unterwegs. Ich meinte, das Geräusch hunderter Beine vernehmen zu können. Sie trugen Papiere in ihren Zangen wie Fahnen. Tatsächlich waren Zeichen oder Teile von Zeichen auf der Ameisenbeute zu erkennen, die sie gleich hinter meiner Schreibmaschine zu einem Berg schichteten, um sofort wieder zum Boden hin abzusteigen. Nach einer halben Stunde, alle Ameisen waren verschwunden, schloss ich das Fenster. Ich hätte schwören können, mir den Besuch der Ameisen nur eingebildet zu haben, wenn nicht auf dem Tisch das Papierwerk der Wanderer als Beweis zurückgeblieben wäre. Natürlich machte ich mich sofort an die Arbeit. Eine Stunde verging, dann war ich mir sicher gewesen, dass es sich bei dem Artefakt auf meinem Tisch um eine einzelne, zerteilte Buchseite handeln musste. Vier weitere Stunden später hatte ich die Seite und ihre Zeichen rekonstruiert. Folgender Text wurde sichergestellt: ZUVIEL / Die Welt ist „unzählbar“, gefüllt mit Dingen, Büchern, Büchern, die über Dinge sprechen, / die Welt trägt zusammen und die Bücher tragen zusammen, was die Welt zusammenträgt, / und auf seinem Tisch Bücher und nochmals Bücher zu sehen / und Fotobücher, Kunstbücher und Bücher, die von anderen Büchern reden, und sich nun selbst ebenfalls anschicken, die Welt auf einem Blatt Papier zu erfassen, diese verfluchte Summe von Auslassungen zu erfassen, um dem Stapel noch ein eigenes Echo hinzuzufügen … Es ist fünf Uhr geworden. Ich bin zufrieden. Ich habe den Ursprung des Textes erinnert. Er wurde von Yasmina Reza in ihrer Sonate Hammerklavier veröffentlicht und von Eugen Helmlé aus der französischen in die deutsche Sprache übertragen. Draußen wird es langsam hell, Regen fällt. — stop
stehen … schlafen
nordpol : 3.08 — Wenn man ein Hotel für Stehschläfer betritt, ist das meistens spät in der Nacht, alle weiteren Hotels, welche geeignet wären, im Liegen zu schlafen, sind ausgebucht. Auch mit kleineren Spenden, die man gerne offeriert, weil man müde ist, weil man keinen weiteren Schritt zu tun in der Lage zu sein glaubt, war an den Rezeptionen nichts zu machen. Jetzt ist man also hier, wo man sehr preiswert in Schlafspinden oder ganz einfach an Wänden lehnend schlafen kann. Das Besondere an einem Hotel für Stehschläfer ist, dass sich das Personal um schlafende Gäste auch dann noch bemüht, wenn das Licht längst ausgeschaltet ist. Gurte, welche zur Stabilität um Ober,- und Unterschenkel gewickelt sind, werden straff gehalten, fallende Personen wieder aufgerichtet. Auch für einen tiefen Schlaf wird gesorgt, wie das gemacht wird, davon sollte ich nicht erzählen, nicht das leiseste Wort, niemand will das wirklich wissen, selbst die Schlafenden nicht. Man schläft behütet, man schläft so lange man will, eine Stunde oder eine Nacht oder mehrere Tage. Sobald man nun erwacht, nimmt man seinen Koffer vom Boden auf und geht ganz einfach davon. Es ist schon ein merkwürdiger Anblick, hunderte Menschen, die entlang der Wände eines Saales neben ihren Koffern stehen. Manche sprechen, andere singen leise im Schlaf. Vögel fliegen umher oder sitzen auf den Schlafenden selbst, die sich nicht rühren, obwohl sie noch leben. Irgendwo muss ein Fenster offen stehen. Ein leichter Wind geht. Ich höre das Horn eines Schiffes, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Schiff wirklich existiert. Für einen Moment wird es hell wie am Tag, als ob die Sonne mir direkt ins Auge leuchtet. Eine Hand fährt über meine Stirn, ich höre ein Flüstern, ich meine gehört zu haben, wie jemand sagte: Er ist schon vier Wochen hier, wir müssen ihn wecken oder baden. Ja, irgendwo muss ein Fenster offen stehen. Ein leichter Wind. — stop
+1 (212) 439–5XXX
echo : 5.26 — Kurz nach Mitternacht europäischer Zeit führte ich ein Gespräch mit Herrn Hiko Aoi, dessen Telefonnummer ich nicht bekannt geben darf, weil er andernfalls jede weitere Unterredung mit mir für immer vermeiden würde. Es dauerte nicht lange, bis im Haus 818, Lexington Avenue, mein Anruf entgegengenommen wurde. Eine verzerrt klingende Stimme meldete sich, es war die Stimme einer Frau, die sich erkundigte, wer ich sei und was ich von Herrn Aoi wissen wolle. Ich gab meinen Namen zu Protokoll, weiterhin, dass ich dringend eine Frage an Herrn Aoi richten müsse, deren Beantwortung für mich dringend sei, und zwar noch in dieser Nacht. Ich ahnte, dass ich zunächst lange warten würde, es handelt sich bei Herrn Aoi um einen hochbetagten Mann, der sich sehr vorsichtig durch seine Wohnung bewegt. Wie er sich dem Telefonapparat näherte, hörte ich seinen Atem, ein feuchtes, rasselndes Geräusch, um mich dann freundlich zu begrüßen. Ich stellte mir vor, dass er vielleicht lächelte. Was gibt’s, Louis? fragte er. Ich erkundigte mich zunächst nach dem Wetter: Wie ist das Wetter bei Euch drüben? Nun, lassen wir das, ich erklärte, dass ich eine Frage haben würde, eine quälende Frage, dass ich nämlich dringend in Erfahrung bringen müsse, ob er, Mr. Hiko Aoi, sich für Fliegentiere interessiere, für die Art und Weise wie sie sich durch die Luft bewegen, wie sie landen, und wie sie schlafen. Ist es denkbar, dass Sie sich vielleicht für fliegende Tiere erwärmen könnten? Herr Aoi lachte. Ich hörte ihn tatsächlich lachen, ein gleichfalls feuchtes, heulendes Geräusch. Der alte Mann bat mich um die Möglichkeit eines Rückrufes. Ich wartete drei Stunden, machte nichts in dieser Zeit als einmal einen Kopfstand. Gegen vier Uhr mitteleuropäischer Zeit klingelte das Telefon. — stop
handtasche rot
sierra : 6.35 — Im Haus, in dem ich manchmal wohne, existierte vor langer Zeit eine alte Frau. Sie war so alt geworden, dass sie von Nächten erzählen konnte, die sie im Keller desselben Hauses verbracht hatte, weil Bomben vom Himmel fielen. Damals, als der Krieg endete, muss sie eine junge Frau gewesen sein, sie heiratete, gebar fünf Kinder, wurde geschieden. Ihr Mann und ihre Kinder waren längst gestorben, bis auf einen Sohn, der in ihrem Leben zuletzt kaum noch eine Rolle spielte, ihr einziger Enkel hatte sie ausgeraubt, sie war eine wirkliche einsame Person. Jedes Jahr zu Silvester stellte sie kleine Marmorkuchen vor die Wohnungstüren ihrer Nachbarn wie zur Erinnerung, dass sie noch lebte. Ich erinnere mich gut, der Kuchen schmeckte nach Nelken. Wenige Monate vor ihrem Tod kaufte sie noch drei Katzen und verursachte einen Wasserschaden. Von diesem Zeitpunkt an wurde offen über ihren Geisteszustand gesprochen, man fürchtete, mit der alten Frau in die Luft zu fliegen, weil sie mit Gas kochte und mit Kohlen heizte. Noch heute scheint der Keller nach der alten Frau zu riechen, nach Öl und nach Eierbriketts. Gestern nun habe ich mich wieder einmal an die alte Frau erinnert. Ich war bei einem jungen Mann eingeladen, in dessen Wohnzimmer auf einem Gestell von Holz eine schwere Stahltür ruhte. Diese Tür hatte sich bis vor Kurzem noch im Keller aufgehalten. Es war die Tür zum Luftschutzbunker. In der Mitte der Tür befand sich ein Spion von gepanzertem Glas, ein winziges Auge, durch das die Frau, von der ich erzählte, als Mädchen noch gesehen haben könnte. Immer wieder an diesem Abend betrachtete ich jenes seltsame Auge in der Tür, das gegen die Zimmerdecke schaute. – Samstag, kurz nach 3 Uhr. Es regnet, die Luft ist hell vom Wasser. Gerade eben habe ich nach einem Text gesucht, den ich notierte an dem Tag als die alte Frau gestorben war. Der Text ging so: Die alte Frau mit der roten Handtasche ist tot. Während des Tages irgendwann muss sie im Hospital gestorben sein. Jetzt, es ist ohne sie wieder Abend geworden, verlässt ihr Fernsehgerät das Haus. Ein Hin und Her auf der Straße, noch nie gesehene, tief fliegende Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampfgeräusche, auch zartes Gezeter, Verwünschungen, Empfehlungen, heisere Stimmen. Der Sohn ist da und der Sohn des Sohnes, betrunken steht der blutjunge Geier auf der Straße herum und regelt den Verkehr. Wohnungsauflösung. Nun, zu vorgerückter Stunde, hat sich mir das Wort erschlossen. Ein Prozess der Entropie, der Verwertung, des Verschwindens. Ich sehe die Verschwundene, eine 89-jährige Frau in bunter Kleidung, Stehlampe in der Hand, das Haus verlassen. Unlängst noch war sie unterwegs gewesen. Sie hatte bereits den Gang der Hochseematrosen. Manchmal rastete sie im Schatten der Bäume. Sie ging spazieren, als melde sie sich an, Tag für Tag, und zurück. Niemand weiß genau wie lange sie in der Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung lebte, sie war schon da als Bomben fielen, und noch immer, bis gestern, stolz, einsam und zu langsam für die rasende Stadt. Jawohl, sie war stolz gewesen, ließ sich nicht helfen, niemand durfte ihr Milch oder den Sand für ihre Tiere durch das Treppenhaus in die Wohnung tragen. Manchmal heulte das Fernsehgerät durch die Wand. Jetzt ist es vorbei, jetzt werden Monteure und Maler kommen. Es ist vorbei, auch für die Katzen. — stop