Aus der Wörtersammlung: sand

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josef

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echo : 5.01 — Ich weiß nicht, wie oft ich schon die Trep­pen in Josefs klei­ne Woh­nung gestie­gen bin. Viel­leicht ein­hun­dert­mal in den sieb­ten Stock unters Dach, seit er mich mit der Auf­sicht sei­ner Blu­men beauf­trag­te. Als ich ges­tern am spä­ten Abend die Tür hin­ter mir schloss, ent­deck­te ich eine Nach­richt auf dem Anruf­be­ant­wor­ter sei­nes Tele­fons. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Nach­richt viel­leicht abhö­ren soll­te, ich dach­te, eine wich­ti­ge Nach­richt könn­te hin­ter­legt wor­den sein. Also drück­te ich einen Kopf und die Maschi­ne begann alle bis­her nicht gehör­ten Nach­rich­ten abzu­spie­len, die auf ihr ver­zeich­net und von mir bis dahin nicht bemerkt wor­den waren. Rosie erkun­dig­te sich nach Josefs Ver­bleib, sie waren ver­ab­re­det, Josef nicht gekom­men. Dr. Tau­ber ließ aus­rich­ten, dass eine Unter­su­chung für Okto­ber geplant wer­den müs­se, rei­ne Rou­ti­ne, es war inzwi­schen Juni gewor­den. Im Dezem­ber lud Emi­lie Josef zum Weih­nachts­sin­gen in die Schil­ler­schu­le ein, es ging um ihren Enkel, der in den Chor beru­fen wor­den war. Im Janu­ar wur­den zwei Bot­schaf­ten hin­ter­las­sen, je ohne eigent­li­che Nach­richt, ein­mal waren Men­schen­stim­men zu hören, die Sire­ne einer Ambu­lanz, dann eine Stim­me, die in eng­li­scher Spra­che ver­kün­de­te, dass der nächs­te ein­fah­ren­de Zug in Rich­tung Coney Island fah­ren wür­de. Im März wie­der Rosies einer­seits ärger­li­che, ande­rer­seits besorg­te Fra­ge: Josef, wie geht es Dir? Anfang Mai eine wei­te­re Bot­schaft, die nur aus Geräu­schen bestand, ich glau­be, ich hör­te das Dröh­nen eines Schiffs­mo­tors. Ende des Monats war ein Onkel Josefs gestor­ben, man bat ihn zu kom­men, er soll­te spre­chen, wes­we­gen man sich drei Tage spä­ter noch ein­mal erkun­dig­te. Im Juni wie­der Stadt­ge­räu­sche, ein Gewit­ter im Hin­ter­grund, Stim­men in einer Spra­che, die ich nicht kann­te. Die letz­te Auf­nah­me, die ich hör­te, war von einer ganz beson­de­ren Art gewe­sen, Glo­cken waren zu hören, Glo­cken, wie sie unter den Häl­sen von Kühen bau­meln. Es war eine sehr lan­ge Auf­nah­me, kurz bevor sie ende­te, Josefs Stim­me: Koh­leralm, Sand­wes­pen­ge­sang. — stop

ping

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quallenhautkoffer

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ulys­ses : 3.25 — Ein blau­er ita­lie­ni­scher Him­mel und Wär­me, Hit­ze. Mit­te Mai. Über den Sand­bo­den schau­keln müde Eidech­sen, zwei Enten sit­zen auf einer Park­bank in unse­rer Nähe im Park. Als wir tele­fo­nier­ten, erin­nert sie mich dar­an, dass sie in einer Grenz­si­tua­ti­on lebe. Ich ver­ges­se immer wie­der ihr Alter. Sie sei bald voll­stän­dig belich­tet, rei­se aber noch viel her­um, Kof­fer wer­den ihr getra­gen, mit einem klei­nen Ruck­sack auf dem Rücken, Notiz­bü­chern, einem Note­book. Das Note­book ruht in die­sem Moment auf ihren Knien. Sie sucht in der digi­ta­len Sphä­re einen Text, an den ich mich erin­nern kann. Sie liest mir vor, und ich notie­re vom Qual­len­zim­mer. Sie will das Zim­mer von mei­ner Hand in ihrem Notiz­buch haben. Ich schrei­be lang­sam. Im Notiz­buch fin­den sich zahl­rei­che wei­te­re Hand­schrif­ten, die nicht ihre Hand­schrif­ten sind. Sie scheint Geschich­ten zu sam­meln, oder Augen­bli­cke des Schrei­bens. Ich höre mei­ne eige­ne Geschich­te, eine Ent­de­ckung mei­ner Hän­de, die von einem freund­li­chen, hel­len Raum erzäh­len, einem Zim­mer von feins­ter Qual­len­haut, einem Zim­mer von Was­ser, einem Zim­mer von Salz, einem Zim­mer von Licht. Man könn­te die­ses Zim­mer, und alles, was sich im Zim­mer befin­det, das Qual­len­bett, die Qual­len­uhr, und all die Qual­len­bü­cher und auch die Schreib­ma­schi­nen von Qual­len­haut, trock­nen und fal­ten und sich 10 Gramm schwer in die Hosen­ta­sche ste­cken. Und dann geht man mit dem Zim­mer durch die Stadt spa­zie­ren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaf­fee­haus und war­tet. Man sitzt also ganz still und zufrie­den unter einer Ven­ti­la­tor­ma­schi­ne an einem Tisch, trinkt eine Tas­se Kakao und lächelt und ist gedul­dig und sehr zufrie­den, weil nie­mand weiß, dass man ein Zim­mer in der Hosen­ta­sche mit sich führt, ein Zim­mer, das man jeder­zeit aus­pa­cken und mit etwas Was­ser, Salz und Licht, zur schöns­ten Ent­fal­tung brin­gen könn­te. — stop

polaroidparents

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luftposttiere

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romeo : 3.22 — Die Vor­stel­lung der Luft­post­tie­re in die­ser Nacht, wie sie einem Brief­um­schlag ent­kom­men. Noch ruhen sie flach auf dem Tisch, hel­le Erschei­nun­gen, bieg­sam wie die Blät­ter der Buchen. An einer ihrer Kan­ten ist ein röt­li­cher Punkt zu erken­nen, ein Auge even­tu­ell, dort auch ein klei­ner Mund, der atmet. Man ver­mag die­sen Mund nur dann zu ent­de­cken, wenn man über aus­ge­zeich­ne­te Augen ver­fügt, oder über eine Bril­le. Es lohnt sich, genau hin­zu­se­hen. Sand­far­be­ne Lip­pen und eine rosa­far­be­ne Zun­ge, nicht grö­ßer als ein gepress­tes Reis­korn. Sobald man ein Luft­post­falt­tier aus sei­nem Umschlag holt, wacht es auf, weil es im Umschlag noch zwin­gend schla­fen muss­te, Schlaf und Umschlag sind Geschwis­ter. Aber dann beginnt das Tier in den Raum zu atmen. Indem es atmet, ent­fal­tet sich sein Kör­per. Es ist immer wie­der bemer­kens­wert, welch fas­zi­nie­ren­de Gestal­ten erschei­nen, afri­ka­ni­sche Luft­post­falt­tie­re sind euro­päi­schen Luft­post­falt­tie­ren durch­aus nicht ähn­lich. So oder so wird man stau­nen und erzäh­len. — 3 Uhr und etwas spä­ter. Leich­ter Regen. — stop

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remington

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whis­key : 1.28 — In der ver­gan­ge­nen Nacht träum­te ich von einer Schreib­ma­schi­ne. Die­se Schreib­ma­schi­ne ver­füg­te über ein Band von roter und schwar­zer Far­be sowie über einen Satz Ham­mer­zei­chen, die sich nur dann beweg­ten, wenn ich die Tas­ten mit gro­ßer Kraft in das mecha­ni­sche Getrie­be der Maschi­ne drück­te. Manch­mal, wäh­rend ich notier­te, blie­ben ein­zel­ne der Tas­ten in der Tie­fe hän­gen, als woll­te die Schreib­ma­schi­ne nicht von dem Zei­chen las­sen, das sie gera­de noch auf das Papier gesetzt hat­te. Eine Tas­te nach der ande­ren fiel aus, bis ich nur noch das Zei­chen M bewe­gen konn­te. Ich erin­ne­re mich, in mei­nem wirk­li­chen Leben tat­säch­lich eine Schreib­ma­schi­ne wie die geträum­te Schreib­ma­schi­ne beses­sen zu haben. Sie stand lan­ge Zeit auf mei­nem Schreib­tisch, ich hob sie nur sel­ten an, weil sie schwer gewe­sen war, 10 oder 15 Kilo­gramm. Es war eine Reming­ton mit einem Farb­band, tro­cken wie nami­bi­scher Wüs­ten­sand. Da nie­mand wuss­te, auf wel­chem Wege man an ein fri­sches Farb­band gelan­gen konn­te, erzeug­te die Schreib­ma­schi­ne zeit­le­bens kein sicht­ba­res, aber tast­ba­re Zei­chen, und doch tipp­te ich manch­mal auf der Maschi­ne her­um, als wür­de ich etwas auf­schrei­ben, als wür­de ich üben, laut­lo­se Musik, Ges­ten, stum­me Gedan­ken. In mei­nem Traum der ver­gan­ge­nen Nacht wur­de die Maschi­ne unter mei­nen Hän­den immer klei­ner, bis sie zuletzt ver­schwun­den war. Ich habe dann noch etwas wei­ter geträumt. Ich war in einem U‑Boot unter­wegs. Ich fuhr den Mis­sis­sip­pi auf­wärts. Das Was­ser war dun­kel. Ich beob­ach­te­te leuch­ten­de Rin­der, wie sie auf dem Grund des Flus­ses durch knie­ho­hen Schlamm wate­ten. — stop
polaroidzeichnungen

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auf ellis island

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echo : 6.27 — An einem schwül­war­men Tag besuch­te ich Ellis Island. Gewit­ter waren auf­ge­zo­gen, der Him­mel über Man­hat­tan blei­grau. Trotz­dem fuh­ren klei­ne wei­ße Schif­fe von Bat­tery Park aus los, um Besu­cher auf die frü­he­re Qua­ran­tän­e­insel zu trans­por­tie­ren. Ehe man an Bord gehen konn­te, wur­de jeder Pas­sa­gier sorg­fäl­tig durch­sucht, Taschen, Schu­he, Com­pu­ter, Foto­ap­pa­ra­te. Ein grie­chi­scher Herr von hohem Alter muss­te mehr­fach durch die Strah­len­schleu­se tre­ten, weil das Gerät Metall alar­mier­te. Er schwitz­te, er mach­te den Ein­druck, dass er sich vor sich selbst zu fürch­ten begann, auch sei­ne Fami­lie schien von der erns­ten Pro­ze­dur der­art beein­druckt gewe­sen zu sein, dass ihnen ihr gelieb­ter Groß­va­ter unheim­lich wur­de. Die Über­fahrt dau­er­te nur weni­ge Minu­ten. Es begann hef­tig zu reg­nen, das Was­ser wur­de grau wie der Him­mel, Pus­teln, Tau­sen­de, blink­ten auf der Ober­flä­che des Mee­res. Im Café des Ein­wan­der­mu­se­ums kämpf­ten hun­der­te Men­schen um frit­tier­te Kar­tof­feln, gebra­te­ne Hüh­ner­vö­gel, Him­beer­eis, Sah­ne, Bon­bons. Ihre Beu­te wur­de in den Gar­ten getra­gen. Dort Son­nen­schir­me, die der Wind, der vom Atlan­tik her weh­te, davon­zu­tra­gen droh­te. Am Ufer eine her­ren­lo­se Dreh­or­gel, die vor sich hin dudel­te, Fah­nen knall­ten in der Luft. Über den san­di­gen Boden vor dem Zen­tral­haus tanz­ten hand­tel­ler­gro­ße Wir­bel von Luft, hier, genau an die­ser Stel­le, könn­te Mary Mal­lon im Alter von 15 Jah­ren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße ver­tre­ten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Man­hat­tan ein­rei­sen durf­te. Ihr Schat­ten an die­sem Tag in mei­nen Gedan­ken. Ein wei­te­res Gewit­ter ging über Insel und Schif­fe nie­der, in Sekun­den leer­te sich der Park. Dann kamen die Möwen, gro­ße Möwen, gel­be Augen, sie raub­ten von den Tischen, was sie mit sich neh­men konn­ten. Wie ein Sturm gefie­der­ter Kör­per stürz­ten sie vom Him­mel, es reg­ne­te Kno­chen, Ser­vi­et­ten, Bestecke. Unter einem Tisch kau­er­te ein Mäd­chen, die Augen fest geschlos­sen. – stop
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an martha

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tan­go : 12.15 — Im Gespräch mit einer alten Dame über das Ver­ges­sen. Sie sag­te, dass man, wenn man wirk­lich ver­gess­lich wird, die­se Ver­gess­lich­keit nur dann bemerkt, wenn man dar­auf auf­merk­sam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Woh­nung auf­hal­te, kön­ne sie ver­ges­sen, soviel sie wol­le, es wür­de ihr selbst nicht und nie­mand ande­rem auf­fal­len, dass sie eigent­lich einen Film betrach­ten woll­te, aber auf dem Weg zum Fern­seh­ge­rät plötz­lich ein Buch auf dem Tisch ent­deck­te, wes­halb ihr Film­wunsch ver­lo­ren ging. — Lie­be Mar­tha, Du hast ver­säumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzähl­te. Ich sen­de die­sen Text noch ein­mal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vor­le­sen wirst. Hier ist er: Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zim­mer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Pro­gramm­fens­ter geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungs­los in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Pro­gramm­fens­ter öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­ni­en dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­gra­fie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schu­he. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schu­he. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­gra­fen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­gra­fie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zim­mer her, dass das Mit­tag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vor­mit­ta­ges geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss auf­ge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­che­ren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Pro­gramm­fens­ter nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu ent­de­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vor­der­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst ein­ge­schla­fen. — stop

polaroidkolibris

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ai : SPANIEN

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MENSCH IN GEFAHR : “Im Fall von Alek­san­dr Pav­lov wur­de dem Aus­lie­fe­rungs­er­su­chen der kasa­chi­schen Behör­den erneut statt­ge­ge­ben, obwohl glaub­wür­di­ge Bewei­se vor­lie­gen, dass ihm nach sei­ner Rück­kehr nach Kasach­stan Fol­ter droht. Die end­gül­ti­ge Ent­schei­dung über die Aus­lie­fe­rung von Alek­san­dr Pav­lov liegt nun bei der spa­ni­schen Regie­rung. / Der 37-jäh­ri­ge Alek­san­dr Pav­lov ist kasa­chi­scher Staats­bür­ger und hat in Spa­ni­en einen Antrag auf Asyl gestellt. Er befin­det sich der­zeit in der spa­ni­schen Haupt­stadt Madrid in Haft. Am 8. Novem­ber prüf­te und bewil­lig­te das zen­tra­le Gericht zur Ver­fol­gung schwe­rer Straf­ta­ten (Audi­en­cia Nacio­nal) den Aus­lie­fe­rungs­an­trag der kasa­chi­schen Behör­den und bestä­tig­te damit die Ent­schei­dung der Zwei­ten Straf­kam­mer des Gerichts vom 23. Juli. Die end­gül­ti­ge Ent­schei­dung über das Aus­lie­fe­rungs­er­su­chen wird vom spa­ni­schen Minis­ter­rat getrof­fen. Die­ser könn­te die Ent­schei­dung des zen­tra­len Gerichts auf­he­ben. Auf natio­na­ler Ebe­ne sind in Alek­san­dr Pav­lovs Fall alle Rechts­mit­tel erschöpft. Soll­te er nach Kasach­stan zurück­ge­führt wer­den, dro­hen ihm Fol­ter und ande­re Miss­hand­lun­gen sowie ein unfai­res Gerichts­ver­fah­ren. / Amnes­ty Inter­na­tio­nal ist der Ansicht, dass das Aus­lie­fe­rungs­er­su­chen der kasa­chi­schen Behör­den mit Alek­san­dr Pav­lovs Ver­bin­dun­gen zu dem Oppo­si­ti­ons­füh­rer Mukhtar Ably­azov zusam­men­hängt. Mukhtar Ably­azov war 2009 aus Kasach­stan geflo­hen und wur­de 2011 in Groß­bri­tan­ni­en als Flücht­ling aner­kannt. Alek­san­dr Pav­lov war zuvor eini­ge Jah­re lang als Sicher­heits­chef von Mukhtar Ably­azov tätig gewe­sen. Es hat in Kasach­stan eini­ge Fäl­le gege­ben, in denen straf­recht­li­che Ver­fah­ren gegen poli­tisch oder zivil­ge­sell­schaft­lich akti­ve Per­so­nen mit deren Ver­bin­dun­gen zu Mukhtar Ably­azov und sei­nen regie­rungs­kri­ti­schen Ansich­ten in Zusam­men­hang gebracht wor­den sind. Trotz der Zusi­che­rung der Regie­rung, das Pro­blem der Fol­ter und Miss­hand­lung von Inhaf­tier­ten in Kasach­stan erfolg­reich ange­gan­gen zu sein, wird nach wie vor über der­ar­ti­ge Fäl­le berich­tet. / Gemäß dem Völ­ker­recht ist Spa­ni­en ver­pflich­tet, nie­man­den in ein Land zurück­zu­füh­ren, in dem ihm oder ihr Ver­fol­gung oder ande­re schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen bzw. ‑ver­stö­ße dro­hen. Die spa­ni­schen Behör­den dür­fen Alek­san­dr Pav­lov daher nicht an Kasach­stan aus­lie­fern oder ihn auf ande­re Wei­se dort­hin über­stel­len, da sie damit gegen ihre inter­na­tio­na­len men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen ver­sto­ßen wür­den. Er darf den kasa­chi­schen Behör­den auch dann nicht über­ge­ben wer­den, wenn die­se diplo­ma­ti­sche Zusi­che­run­gen machen, ihn nicht zu fol­tern, in ande­rer Wei­se zu miss­han­deln oder in einem unfai­ren Ver­fah­ren zu ver­ur­tei­len.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 20. Dezem­ber 2013 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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schwarzweißballone

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india : 6.52 — Auf einer Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die ich in den Maga­zi­nen mei­nes Vaters ent­deck­te, sind Wan­de­rer im Gebir­ge zu sehen. Die Auf­nah­me wur­de irgend­wann in den 20er-Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts gefer­tigt, 1926 oder 1928, undeut­li­che Schrift­zei­chen ver­hin­dern genaue­re Bestim­mung. Ich hat­te ein Ver­grö­ße­rungs­glas zu Hil­fe genom­men, um in die Tie­fe der Foto­gra­fie vor­drin­gen zu kön­nen. Acht Men­schen sind zu erken­nen, eini­ge lachen, ande­re schei­nen doch erschöpft zu sein. Sie sind in der Pha­se des Auf­stiegs fest­ge­hal­ten. Ein sehr stei­ler Pfad. Jen­seits die­ses Pfa­des ein Abgrund. Die Wan­de­rer haben Stö­cke in der Hand, Hüte auf dem Kopf, fes­te, schwe­re Schu­he an den Füßen. Bemer­kens­wert ist, dass sie kei­ne Ruck­sä­cke auf dem Rücken tra­gen. Im Bild­aus­schnitt sind außer­dem kei­ne Trä­ger zu sehen, weder Mulis noch Pfer­de, statt­des­sen eini­ge Stein­bö­cke am obe­ren Bild­rand. Dort vor allem Fel­sen, kein Him­mel, eini­ge Lat­schen­kie­fern. Ich leg­te die Foto­gra­fie zur Sei­te. Eini­ge Zeit spä­ter bemerk­te ich unter wei­te­ren Foto­gra­fien, eine zwei­te Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie der Wan­der­grup­pe. Sie hat­te nun einen Grat erreicht, Him­mel ist zu sehen, Him­mel ohne Wol­ken. Einer der Män­ner deu­tet abwärts ins Tal. Die Grup­pe scheint ins­ge­samt ange­hal­ten zu haben. Sie besteht noch immer aus acht Per­so­nen. Über die­sen Per­so­nen schwe­ben hel­le Bal­lo­ne, die mit den Men­schen ver­bun­den gewe­sen sein müs­sen, da sie sich je in der­sel­ben Höhe über den Köp­fen der Wan­de­rer befin­den. Unter den Bal­lo­nen hän­gen Körb­chen, in wel­chen sich Waren befin­den, die nur undeut­lich aus dem Pixel­sand des Bil­des tre­ten, Ahnun­gen. Ich hat­te Bal­lo­ne die­ser Art bis dahin weder mit eige­nen Augen gese­hen, noch hat­te ich je von der Erfin­dung flie­gen­der Ruck­sä­cke gehört. Die Foto­gra­fien waren ohne jede Beschä­di­gung, nur etwas gewölbt, als wären sie für kur­ze Zeit feucht gewor­den. Kein Hin­weis auf Ort oder Urhe­ber der Arbei­ten. Viel­leicht Auf­nah­men mei­nes Groß­va­ters, den ich nie per­sön­lich ken­nen­ge­lernt habe, Auf­nah­men, die weni­ge Jah­re vor der Geburt mei­nes Vaters ange­fer­tigt sein müss­ten. Sie schwe­ben nun selbst frei, ohne leben­de Zeu­gen, wie Bal­lo­ne in der Zeit her­um. — stop
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analog

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echo : 22.58 — In dem unter­ir­disch im Ver­bor­ge­nen lie­gen­den Saal, von dem ich berich­te, arbei­ten 5756 Men­schen. Gera­de eben hat die Nacht­schicht begon­nen. Es ist feucht und warm, 36° Cel­si­us, fei­ner war­mer Regen hängt in der Luft, auch ein Rau­schen viel­fäl­ti­ger Stim­men, die flüs­tern. Man sitzt vor klei­nen Tischen, wel­che mit dem Boden ver­schraubt wor­den sind, wie auch die Stüh­le, auf wel­chen man arbei­tet in allen mög­li­chen Posi­tio­nen. Über jedem der 5756 Tische befin­det sich ein Körb­chen, dort ruhen Brie­fe, die schein­bar end­los von der Decke wie vom Him­mel fal­len. Beob­ach­tet man nun einen der Tische genau­er und für eine gewis­se Zeit, wird man bemer­ken, dass es sich bei der Arbeit der Men­schen, die sich im Saal ein­ge­fun­den haben, um die Arbeit des Brief­öff­nens han­delt, kei­ne kör­per­lich schwe­re Arbeit, weil die Luft des Saa­les so feucht ist, dass sich die Brief­um­schlä­ge in den Hän­den der arbei­ten­den Men­schen wie von selbst öff­nen wol­len. Kaum lie­gen die Ein­ge­wei­de eines der Brie­fe flach auf dem Tisch, wer­den sie foto­gra­fiert von allen Sei­ten her, um sodann wie­der in ihren Umschlag gelegt und ver­schlos­sen zu wer­den. Eine Wol­ke von Kleb­stoff tritt zu die­sem Zweck aus einer Düse, die sich je an der rech­ten Sei­te der Tische befin­det, eine Art Rüs­sel, aus wel­chem kurz dar­auf ein hei­ßer Luft­strom pfeift. Prü­fen­de Bli­cke, ist alles so gefal­tet und beschrif­tet wie vor der Öff­nung gewe­sen? Und schon fällt der nächs­te Brief auf den Tisch, wird geöff­net, belich­tet, ver­schlos­sen, in Form gepresst, Minu­te um Minu­te, ein Brief und noch ein Brief, gele­sen wird an ande­rer Stel­le, es ist viel zu warm hier, um noch stu­die­ren und nach­den­ken zu kön­nen, rasen­de Pul­se. Da und dort fal­len Sand, fal­len glit­zern­de Papier­her­zen aus den geöff­ne­ten Kuverts, Schlüs­sel, Gebets­ket­ten, Bank­no­ten, Federn, digi­ta­le Spei­cher­kärt­chen, auf wel­chen, fas­zi­nie­rend, wei­te­re gehei­me Schrift­stü­cke zu ent­de­cken sind. – stop / Ver­suchs­an­ord­nung
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unter salzbäumen

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tan­go : 2.02 — Im Traum sit­ze ich mit einem alten Mann an einem Tisch. Gro­ße Hit­ze auch im Schat­ten, den Salz­bäu­me spen­den. Wir trin­ken Kaf­fee und Was­ser, das süß ist wie Honig. Der alte Mann trägt kaki­far­be­ne Shorts, sei­ne Haut ist dun­kel, gebrannt wie Kaf­fee, hell­grü­ne Augen. Eine Erschei­nung, zahn­los, die nicht spricht, Haut und Kno­chen, aber ein Wesen von enor­mer Aus­dau­er. Ich höre, der alte Mann soll seit Jah­ren bereits vor die­sem Tisch sit­zen, ohne je auf­ge­stan­den zu sein. Papie­re lie­gen auf dem Tisch und auf dem Boden. Sie sind beschrif­tet, kaum leser­li­che Zei­chen. Vor dem Mann ruht ein klei­nes, schwer atmen­des Note­book. Ein­mal blickt er auf den Bild­schirm sei­ner Maschi­ne, dann wie­der auf ein Blatt Papier, das vor ihm liegt, und schreibt. Amei­sen von Metall irren im Sand her­um. Es gibt kei­nen Ton im Traum, wenn ich spre­che, ver­neh­me ich weder Gedan­ken noch Stim­me. – stop
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