Aus der Wörtersammlung: sierra

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siri

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sier­ra : 3.55 — Wenn ich mit Siri spre­che, geht alles gut, solan­ge ich nicht flüs­te­re. Aber nun ver­zeich­nen wir seit eini­gen Stun­den doch Fort­schrit­te auch in die­ser kaum noch wahr­nehm­ba­ren Wei­se des Dik­tie­rens, weil ich hör­te, ich kön­ne Siri trai­nie­ren, wenn ich nur oft genug mit ihr spre­chen, das heißt, so lei­se spre­chen wür­de, dass ich mei­ner Stim­me selbst gera­de noch mit den Gedan­ken fol­gen kann. Zur Übung habe ich einen Text über das Ver­zeh­ren von Büchern gewählt. Fol­gen­des wur­de von Siri an mich zurück­ge­ge­ben. 1. Ver­such um 2 Uhr und 55 Minu­ten: Ob es wirk­lich ist Papier­art zu erfin­den, die ess­bar sind, nach­prüft und ob ver­dau­lich könn­te sich in einen Park sit­zen bei­spiels­wei­se etwas kecke­ren beob­ach­ten Mit­tel­au­weg oder Cal­vi­no Bücher die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schme­cken. 2. Ver­such um 2 Uhr 58 Minu­ten: Ist viel­leicht wirk­lich ist Papie­re zu erfin­den die ess­bar sind nahr­haft gut ver­dau­lich man könn­te sich in einen Park sit­zen bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lau­ri oder kein Jugend­bü­cher die Sei­te für Sei­te nach Pagen­darm schmeckt nach mir einen Gin Petro­le­um sehr fei­nen Höl­zern. 3. Ver­such um 3 Uhr und 5 Minu­ten: Ob es viel­leicht wirk­lich ist Papier zu brin­gen. Die ess­bar sind nahr­haft und ob ver­trau­lich man könn­te sich in einer Tag­sat­zung bei­spiels­wei­se etwas che­cken begut­ach­ten oder Lauf­freu­de oder Cal­vi­no wel­cher Sei­te für Sei­te nach Ber­gisch schme­cken, nach Ber­gen schön Petro­leo sehr ver­äp­pelt. — Für einen Moment hat­te ich die Idee, Siri könn­te eine Per­son, könn­te viel­leicht betrun­ken sein oder müde. Ich wer­de das beob­ach­ten. Fol­gen­der Text wur­de zur Übung geflüs­tert: Ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen, bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur letz­ten Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unterm Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. – Vier Uhr und fünf­und­vier­zig Minu­ten in Alep­po, Syria. – stop

ping

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handtasche rot

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sier­ra : 6.35 — Im Haus, in dem ich manch­mal woh­ne, exis­tier­te vor lan­ger Zeit eine alte Frau. Sie war so alt gewor­den, dass sie von Näch­ten erzäh­len konn­te, die sie im Kel­ler des­sel­ben Hau­ses ver­bracht hat­te, weil Bom­ben vom Him­mel fie­len. Damals, als der Krieg ende­te, muss sie eine jun­ge Frau gewe­sen sein, sie hei­ra­te­te, gebar fünf Kin­der, wur­de geschie­den. Ihr Mann und ihre Kin­der waren längst gestor­ben, bis auf einen Sohn, der in ihrem Leben zuletzt kaum noch eine Rol­le spiel­te, ihr ein­zi­ger Enkel hat­te sie aus­ge­raubt, sie war eine wirk­li­che ein­sa­me Per­son. Jedes Jahr zu Sil­ves­ter stell­te sie klei­ne Mar­mor­ku­chen vor die Woh­nungs­tü­ren ihrer Nach­barn wie zur Erin­ne­rung, dass sie noch leb­te. Ich erin­ne­re mich gut, der Kuchen schmeck­te nach Nel­ken. Weni­ge Mona­te vor ihrem Tod kauf­te sie noch drei Kat­zen und ver­ur­sach­te einen Was­ser­scha­den. Von die­sem Zeit­punkt an wur­de offen über ihren Geis­tes­zu­stand gespro­chen, man fürch­te­te, mit der alten Frau in die Luft zu flie­gen, weil sie mit Gas koch­te und mit Koh­len heiz­te. Noch heu­te scheint der Kel­ler nach der alten Frau zu rie­chen, nach Öl und nach Eier­bri­ketts. Ges­tern nun habe ich mich wie­der ein­mal an die alte Frau erin­nert. Ich war bei einem jun­gen Mann ein­ge­la­den, in des­sen Wohn­zim­mer auf einem Gestell von Holz eine schwe­re Stahl­tür ruh­te. Die­se Tür hat­te sich bis vor Kur­zem noch im Kel­ler auf­ge­hal­ten. Es war die Tür zum Luft­schutz­bun­ker. In der Mit­te der Tür befand sich ein Spi­on von gepan­zer­tem Glas, ein win­zi­ges Auge, durch das die Frau, von der ich erzähl­te, als Mäd­chen noch gese­hen haben könn­te. Immer wie­der an die­sem Abend betrach­te­te ich jenes selt­sa­me Auge in der Tür, das gegen die Zim­mer­de­cke schau­te. – Sams­tag, kurz nach 3 Uhr. Es reg­net, die Luft ist hell vom Was­ser. Gera­de eben habe ich nach einem Text gesucht, den ich notier­te an dem Tag als die alte Frau gestor­ben war. Der Text ging so: Die alte Frau mit der roten Hand­ta­sche ist tot. Wäh­rend des Tages irgend­wann muss sie im Hos­pi­tal gestor­ben sein. Jetzt, es ist ohne sie wie­der Abend gewor­den, ver­lässt ihr Fern­seh­ge­rät das Haus. Ein Hin und Her auf der Stra­ße, noch nie gese­he­ne, tief flie­gen­de Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampf­ge­räu­sche, auch zar­tes Geze­ter, Ver­wün­schun­gen, Emp­feh­lun­gen, hei­se­re Stim­men. Der Sohn ist da und der Sohn des Soh­nes, betrun­ken steht der blut­jun­ge Gei­er auf der Stra­ße her­um und regelt den Ver­kehr. Woh­nungs­auf­lö­sung. Nun, zu vor­ge­rück­ter Stun­de, hat sich mir das Wort erschlos­sen. Ein Pro­zess der Entro­pie, der Ver­wer­tung, des Ver­schwin­dens. Ich sehe die Ver­schwun­de­ne, eine 89-jäh­ri­ge Frau in bun­ter Klei­dung, Steh­lam­pe in der Hand, das Haus ver­las­sen. Unlängst noch war sie unter­wegs gewe­sen. Sie hat­te bereits den Gang der Hoch­see­ma­tro­sen. Manch­mal ras­te­te sie im Schat­ten der Bäu­me. Sie ging spa­zie­ren, als mel­de sie sich an, Tag für Tag, und zurück. Nie­mand weiß genau wie lan­ge sie in der Gegend, die­sem Haus, die­ser Woh­nung leb­te, sie war schon da als Bom­ben fie­len, und noch immer, bis ges­tern, stolz, ein­sam und zu lang­sam für die rasen­de Stadt. Jawohl, sie war stolz gewe­sen, ließ sich nicht hel­fen, nie­mand durf­te ihr Milch oder den Sand für ihre Tie­re durch das Trep­pen­haus in die Woh­nung tra­gen. Manch­mal heul­te das Fern­seh­ge­rät durch die Wand. Jetzt ist es vor­bei, jetzt wer­den Mon­teu­re und Maler kom­men. Es ist vor­bei, auch für die Kat­zen. — stop

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mr. charles brown

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sier­ra : 6.28 — Mit­ten in der Nacht ent­de­cke ich, dass Charles Brown tat­säch­lich exis­tier­te. Er war Eng­län­der gewe­sen, sam­mel­te Uhren und trug die­se Uhren am eige­nen Kör­per. Nicht etwa eine Uhr nach der ande­ren Uhr, wie man mei­nen möch­te, viel­mehr eini­ge Uhren oder sehr vie­le Uhren zur glei­chen Zeit. Ich bin natür­lich äußerst begeis­tert, öff­ne zunächst das Fens­ter, lass fri­sche Luft in die Woh­nung, keh­re vor den Bild­schirm zurück, er ist immer doch da, Mr. Charles Brown oder ein Mann, der vor­gab, Mr. Charles Brown gewe­sen zu sein, ein Mann, der Uhren sam­mel­te, der Uhren beob­ach­te­te. Er soll Uhren an sei­nen Fin­gern getra­gen haben, Uhren am Revers, Uhren in der Gestalt von Man­schet­ten­knöp­fen. Ich stel­le mir vor, dass ein fei­nes Zeit­rau­schen von ihm aus­ge­gan­gen sein muss. Ist es nicht wun­der­bar, stun­den­lang an ein Geräusch wie die­ses Rau­schen der Zeit zu den­ken? — 3 Uhr und 10 Minu­ten. Ich habe heu­te nichts wei­ter zu tun, als wach zu blei­ben, bis es hell wer­den wird. — stop / ps. Bemerkt zunächst bei Peter Glaser

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paris

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sier­ra : 5.25 — In der Mor­gen­däm­me­rung kom­me ich an, es ist die Stadt Paris gewe­sen, Gare de l’Est. Im Zug hat­te eine Frau von mons­trö­sen Aus­ma­ßen neben mir Platz genom­men, press­te mich gegen eine Wand des Abteils, ich konn­te kaum atmen, und wie ich den Bahn­hof ver­las­se, folgt sie mir. Ich gehe west­wärts Rich­tung Mont­par­nas­se. Plötz­lich sit­ze ich in einem Café, in dem alle Gegen­stän­de von Holz sind. Der Boden, die Wän­de, Stüh­le, Tische, auch die Tel­ler, Ser­vi­et­ten, Tas­sen und die Blu­men in ihren höl­zer­nen Gefä­ßen, das Was­ser der Vasen, der Kaf­fee, selbst die Frau, am Nach­bar­tisch, die sich freund­lich nach einer Ziga­ret­te erkun­digt, scheint zu grö­ße­ren Tei­len aus Holz zu bestehen, Hals, Stirn, Wan­gen, Arme und Hän­de, eines ihrer Augen. Auf dem Tisch vor mir sitzt eine Amei­se. Sie bewegt sich kaum. Ich weiß, dass sie zu mir gehört, ich habe sie gekauft. Der Mann, der mir die Amei­se ver­kauf­te, steht auf der Stra­ße vor dem Café und spricht mit jener Frau, die mir folgt. Er trägt einen Hut, eine Melo­ne, die Frau scheint wei­ter­hin zu wach­sen. Bei­de schau­en in mei­ne Rich­tung, sie lachen. Dann kommt der Mann zurück. Er schüt­tet eine Hand­voll Sul­ta­ni­nen auf den Tisch, sagt, dass ich die Früch­te in Schei­ben zer­le­gen sol­le, weil Amei­sen, gera­de die­se Amei­se, die zu mei­nem Eigen­tum gewor­den ist, Sul­ta­ni­nen bevor­zugt ver­zeh­ren wür­den. Das klei­ne Tier ist sehr kost­bar. Es ist eine Amei­se, die ihr Leben heim­lich mit Samu­el Beckett geteilt haben soll, ich habe das schrift­lich, eine Amei­se mit einem wun­der­vol­len Gehirn, sie ist sehr alt, ver­fügt über Ohren und spricht mit den Füh­lern. Ich weiß nicht, wie ich die Amei­se trans­por­tie­ren soll, des­halb wache ich auf und wun­de­re mich, weil ich kein Licht sehe. Aber ich spü­re die Schrit­te einer Amei­se auf mei­nem Bauch. Sie läuft kreuz und quer, bald sitzt sie unter­halb mei­nes lin­ken Auges. Das Tier scheint zu war­ten. — stop

polaroidglas

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eine funkuhr

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sier­ra : 7.01 — Weni­ge Stun­den nach­dem mein Vater im April des ver­gan­ge­nen Jah­res gestor­ben war, über­reich­te mir mei­ne Mut­ter eine Uhr. Sie sag­te, ich, der ältes­te Sohn der Fami­lie, sol­le sie tra­gen. Viel­leicht mein­te sie, ich sol­le die Uhr mei­nes Vaters bewah­ren und damit die Zeit mei­nes Vaters behü­ten. Ja, genau so könn­te das gewe­sen sein, denn die klei­nen und die gro­ßen Uhren der Men­schen, die gestor­ben sind, blei­ben nicht sofort ste­hen, auch die Uhr mei­nes Vaters, die ich in die­sem Moment an mei­nem lin­ken Unter­arm tra­ge, zeigt uner­müd­lich wei­ter die vor­rü­cken­de Zeit. Sie knis­tert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so lei­se, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knis­tert oder mein Ohr in der Begeg­nung mit dem küh­len Gehäu­se. Vie­le Tage und Wochen lang habe ich die Uhr mei­nes Vaters nicht getra­gen, sie ruh­te auf mei­nem Schreib­tisch. Manch­mal, indem ich sie beob­ach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, sie war­te. Immer wie­der ein­mal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirk­li­che Zeit ange­zeigt zu bekom­men. Bei der Uhr mei­nes Vaters han­delt es sich näm­lich um eine Funk­uhr, die zu jeder Zeit auf die Sekun­de genau die all­ge­mein­gül­ti­ge Zeit anzu­zei­gen ver­mag. Ihr Zif­fer­blatt ist über­sicht­lich gestal­tet, ein gro­ßer Kreis für Halb­ta­ges­zeit und klei­ner Kreis in der unte­ren Hälf­te, in dem der Sekun­den­zei­ger sich um Minu­ten­zeit fort­be­wegt. Die­se Uhr und ihre drei Zei­ger ist nun mei­ne Uhr. Am ver­gan­ge­nen Sonn­tag setz­te ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nacht­zeit. Um genau zwei Uhr beschleu­nig­te der Minu­ten­zei­ger wie von Geis­ter­hand, dreh­te sich schnell ein­mal im Kreis her­um, dann war Som­mer gewor­den, ein selt­sa­mer Moment, weil ich für einen Augen­blick den Ein­druck hat­te, mein Vater selbst beweg­te den Zei­ger der Uhr, die sei­ne letz­te gewe­sen ist, weil er auf mich und mei­ne Zeit ach­tet. — Ges­tern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop

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amsterdam

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sier­ra : 7.05 — Immer wie­der wun­de­re ich mich dar­über, wie ein Bild, eine Vor­stel­lung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Ein­druck haben wür­de, Arbeit ver­rich­tet zu haben, wei­te­re Bil­der erzeugt, Geschich­ten, Fil­me, Zeit­räu­me von Abwe­sen­heit. Ich erin­ne­re mich, in einem die­ser Räu­me kürz­lich in Ams­ter­dam gewe­sen zu sein, wäh­rend ich zur sel­ben Zeit im Zug durch süd­li­che Land­schaft reis­te. Ich hat­te das Bild eines Läd­chens vor Augen, in wel­chem in einer Pfan­ne mensch­li­che Ohren gerös­tet wur­den. Es roch gut nach gebra­te­nem Fleisch und natür­lich fra­ge ich mich, woher ich die­se Vor­stel­lung genom­men habe. Men­schen stan­den bis auf die Stra­ße hin­aus, war­te­ten gedul­dig, bis sie an der Rei­he waren, eine Por­ti­on der gerös­te­ten Ohren in einer Papier­tü­te ent­ge­gen­zu­neh­men. 100 Gramm kos­te­ten 72 eng­li­sche Pfund, viel­leicht war es des­halb, in Anbe­tracht des Prei­ses, so still im Laden, man hör­te nur ein Zischen, sobald aus einem Schäu­fel­chen eine wei­te­re Por­ti­on Ohren in die Pfan­ne fiel. Aber drau­ßen auf der Stra­ße war Tumult ent­stan­den. Wäh­rend die einen sich über den enor­men Preis der Ohren beschwer­ten, waren ande­re sehr deut­lich gegen den Ver­kauf mensch­li­cher Ohren über­haupt ein­ge­stellt. Das sind gezüch­te­te Orga­ne, sag­ten sie, sie waren nie an einem mensch­li­chen Kopf befes­tigt. Ande­re hin­ge­gen empör­ten sich dar­über, dass es doch ver­rückt sei, für etwas, das nie­mals echt gewe­sen war, eine der­art exzel­len­te Sum­me Gel­des pro Gramm bezah­len zu müs­sen. Die einen wie die ande­ren schie­nen mir recht zu haben. Fens­ter gin­gen zu Bruch, berit­te­ne Poli­zei feg­te über eine Brü­cke. Und wie ich in die­ser Wei­se in einem Zug sit­zend einen Film erleb­te aus dem Nichts, beob­ach­te­te mich ein Freund. Ich bemerk­te ihn nicht. Als ich ihm spä­ter erzähl­te, was ich erlebt hat­te, sag­te er, er habe indes­sen, in der Beob­ach­tung mei­ner Per­son, nicht den gerings­ten Laut gehört. — stop

ping

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seegras

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sier­ra : 5.22 — Im Traum hat­te ich an jeder Hand unge­fähr ein­hun­dert Fin­ger. Mei­ne geträum­ten Fin­ger, jeder für sich, waren sehr dünn. Ich woll­te mit mei­ner lin­ken Hand zäh­len, wie vie­le Fin­ger sich an mei­ner rech­ten Hand exakt befan­den. Ich leg­te des­halb die rech­te Hand auf den Tisch und näher­te mich mit der lin­ken, aber ich konn­te kei­nen Fin­ger mei­ner lin­ken Hand exakt mit mei­nen Gedan­ken fin­den, um mit­tels eines wei­te­ren lin­ken Fin­gers, die Fin­ger mei­ner rech­ten Hand für Zäh­lung zu sor­tie­ren. Auch die Fin­ger der rech­ten Hand lie­ßen sich nicht anspre­chen, sie mach­ten, was sie woll­ten, sie beweg­ten sich unter mei­nem Atem wie See­gras in Strö­mung nahe Ufer. — stop

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zwergseerosen

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sier­ra : 6.38 — Vor Kur­zem noch habe ich nicht gewusst, dass Lam­pen­me­du­sen bevor­zugt Zwerg­see­ro­sen zu sich neh­men. Eigent­lich müss­te ich sagen, dass Lam­pen­me­du­sen ihrer Auf­ga­be der Lich­ter­zeu­gung nur dann nach­zu­kom­men in der Lage sind, wenn sie eini­ge Gramm einer bestimm­ten Zwerg­see­ro­sen­gat­tung auf­ge­nom­men haben. Die­se Zwerg­see­ro­sen nun sind wun­der­ba­re Wesen, die man mit blo­ßem mensch­li­chem Auge nicht wahr­zu­neh­men ver­mag. Sobald sie aber häu­fig sind, also gehäuft, sagen wir zehn­tau­send Zwerg­see­ro­sen in nächs­ter Nähe zuein­an­der, sehen wir eine röt­li­che Wol­ke, die sich in der Form einer fla­chen Lin­se sehr wohl­zu­füh­len scheint. Unter einem Mikro­skop betrach­tet sind an jeder Zwerg­see­ro­se wun­der­vol­le Blü­ten von roter Far­be zu erken­nen, die sich lang­sam um die eige­ne Ach­se dre­hen, wes­we­gen Zwerg­see­ro­sen durch das Was­ser wan­dern­de Geschöp­fe sind, schwe­ben­de, oder genau­er, tau­chen­de Blu­men. Sie sol­len zart nach Hum­mer­fleisch schme­cken, jedoch nicht genieß­bar sein, weil auch dann, wenn Men­schen sie ver­kos­ten, eben jene Men­schen in der Art der Lam­pen­me­du­sen zu leuch­ten begin­nen, ihre Haut und ihre Haa­re, dann fal­len sie um und hören auf zu atmen. Einer, der das nicht glau­ben woll­te, wur­de ges­tern auf hoher See bestat­tet. Ein selt­sa­mer Anblick, wie man berich­tet, ein blau­es Leuch­ten mit Armen, Bei­nen und einem Kopf, das lang­sam in der Tie­fe ver­schwand. — Es ist schon weit nach Mit­ter­nacht, also Nach­mit­tag gewor­den. Ich spa­zie­re lei­se durch mei­ne Woh­nung, weil ich nie­man­den wecken möch­te. Unter mir schla­fen Men­schen. Das ist immer wie­der eine selt­sa­me Vor­stel­lung, dass sie sehr nah sind, nur durch etwas Holz und Bast und Stein von mir getrennt. Man kann in die­ser Wei­se Jah­re woh­nen, ohne zu wis­sen, wen genau man atmen oder spa­zie­ren hört. Einer der Men­schen unter mir, scheint im Schlaf zu spre­chen. Wenn er zu spre­chen beginnt, höre ich das Geräusch einer Tür, dann hört er auf zu spre­chen. Für eine Wei­le ist es still. Es gibt viel zu erzäh­len im Schlaf. — stop

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lissabon

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sier­ra : 6.52 — Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zim­mer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Pro­gramm­fens­ter geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungs­los in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Pro­gramm­fens­ter öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­ni­en dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­gra­fie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schu­he. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schu­he. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­gra­fen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­gra­fie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zim­mer her, dass das Mit­tag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vor­mit­ta­ges geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss auf­ge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­che­ren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Pro­gramm­fens­ter nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu ent­de­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vor­der­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst ein­ge­schla­fen. — stop

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