Aus der Wörtersammlung: wunder

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sarajevo

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gink­go : 6.38 — Ich habe die­se Geschich­te ges­tern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand ande­res als ich selbst erzählt haben wür­de, hät­te ich sie viel­leicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig ver­rückt ist. Die Geschich­te beginnt damit, dass ich in einem Café sit­ze und auf einen jun­gen Mann war­te, der mir etwas erzäh­len will. Ich bin früh­zei­tig gekom­men, bestel­le einen Cap­puc­ci­no und schal­te mein klei­nes Hand­ki­no an, beob­ach­te eine Doku­men­ta­ti­on der Arbeit Maceo Par­kers in New York, mit­rei­ßen­de Musik, soeben umarmt die Sän­ge­rin Kym Mazel­le den Posau­nis­ten Fred Wes­ley, als der jun­ge Mann, den ich erwar­te­te, plötz­lich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den klei­nen Bild­schirm. Sofort kom­men wir ins Gespräch. Ich fra­ge ihn, wel­che Musik er gehört habe, als Kind in der bela­ger­ten Stadt Sara­je­vo. Jeden­falls nicht sol­che Musik, ant­wor­tet er, und lacht, no Funk, wir hat­ten kei­nen Strom. Avi ist heu­te Anfang drei­ßig, dass er noch lebt ist ein Wun­der. Tat­säch­lich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sara­je­vo erzählt. Ein­mal frag­te ich ihn, was er emp­fun­den habe, als er von Karad­zics Ver­haf­tung hör­te. Anstatt zu ant­wor­ten, perl­te in Sekun­den­schnel­le Schweiß von Avis Stirn. Heu­te schwitzt er schon, ehe er über­haupt zu erzäh­len beginnt, weil er weiß, dass er gleich wie­der berich­ten wird von den Stra­ßen sei­ner Hei­mat­stadt, die nicht mehr pas­sier­bar waren, weil Scharf­schüt­zen sie ins Visier genom­men hat­ten. Man schleu­der­te Papie­re, Ziga­ret­ten, Bro­te, Was­ser­fla­schen in Kör­ben von einer Sei­te der Stra­ße zu ande­ren. Die­se Kör­be wur­den nicht beschos­sen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein klei­ner Jun­ge. Er war so klein, dass er nicht ver­ste­hen konn­te, was mit ihm und um ihn her­um geschah, auch dass ein Holz­split­ter sein lin­kes Auge so schwer ver­letz­te, dass er jetzt ein Glas­au­ge tra­gen muss, das so gut gestal­tet ist, dass man schon genau hin­se­hen muss, um sein künst­li­ches Wesen zu erken­nen. Er sagt, er könn­te, wenn ich möch­te, das Auge für mich her­aus­neh­men. Aber das will ich nicht. Ich erzäh­le ihm, dass ich damals, als er klein gewe­sen war, jeden Abend Bil­der aus Sara­je­vo im Fern­se­hen beob­ach­tet habe. Was das für Bil­der gewe­sen sei­en, will Avi wis­sen. Ich sage: Das waren Bil­der, die ren­nen­de Men­schen zeig­ten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fern­se­hen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und über­all pas­sier­te. Und die­se Geräu­sche. Plötz­lich nimmt der jun­ge Mann mein klei­nes Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopf­hö­rer in sei­ne Ohren ein, hört Maceo Par­ker, Kim Macel­le, Fred Wes­ley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhyth­mus der Musik mit dem Kopf. Ein Wis­pern. — stop

ping

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tiefe

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tan­go : 3.22 — In Peter Bichsel’s Buch der Kin­der­ge­schich­ten, einen wun­der­ba­ren ers­ten Satz der Erzäh­lung Die Erde ist rund gele­sen. Der Satz geht so: Ein Mann, der wei­ter nichts zu tun hat­te, nicht mehr ver­hei­ra­tet war, kei­ne Kin­der mehr hat­te und kei­ne Arbeit mehr, ver­brach­te sei­ne Zeit damit, dass er sich alles, was er wuss­te, noch ein­mal über­leg­te. — stop — Weit nach Mit­ter­nacht. Leich­ter Schnee­fall, leich­ter Wind. Immer wie­der der Wunsch, Gegen­stän­de, auch erfun­de­ne Din­ge und Wesen, unver­züg­lich zu öff­nen, um nach­zu­se­hen, was in ihrem Inne­ren zu ver­mer­ken ist. stop. Vor­wärts erfin­den in die Tie­fe. stop. Vor­wärts bis hin zur letz­ten ein­sa­men Haut, die jedes ver­blei­ben­de Geheim­nis umwi­ckelt. – stop

mikroskop2

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ein kleines tier von luft

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marim­ba : 3.10 — Es ist rich­tig, ich bin begeis­tert. Seit zwei Tagen schwebt eine merk­wür­di­ge Gestalt durch mei­ne Woh­nung. Es han­delt sich um ein Lun­gen­bal­lon­tier, nichts wei­ter, um eine Krea­tur von küh­ler, sand­far­be­ner Haut in der Grö­ße einer Honig­me­lo­ne. Wenn ich sage, dass es sich bei die­sem Wesen um ein Lun­gen­bal­lon­tier han­delt, dann des­halb, weil das Tier in sei­ner der­zei­ti­gen Erschei­nung vor­wie­gend aus Luft zu bestehen scheint. Es war näm­lich nicht sehr groß gewe­sen, als es mir am Sams­tag von einem Brief­bo­ten in einer fla­chen Schach­tel über­ge­ben wor­den war. Wie es dort lag, sah es zunächst noch aus wie ein Taschen­tuch, sorg­fäl­tig gebü­gelt und gefal­tet. Genau in sei­ner Mit­te war ein win­zi­ger Kopf zu erken­nen, ein Mund und eine Nase und Augen, die geschlos­sen waren, als wür­de das Tier schla­fen. Kaum aber aus sei­nem Rei­se­be­häl­ter geho­ben, hol­te das klei­ne, gefal­te­te Tier Luft und begann lang­sam zu wach­sen. Es war in die­sem Vor­gang des Wach­sens nichts zu hören, als ein äußerst lei­ses Pfei­fen, des­sen Ursprung ich nicht erken­nen konn­te. Eine Stun­de ver­ging und eine wei­te­re Stun­de, bis das Tier sich voll­stän­dig ent­fal­tet hat­te. Es war rund gewor­den, nach wie vor aber noch fal­tig, und es wuchs wei­ter, und es begann sich von dem Tisch zu lösen, auf dem es die ers­ten Stun­den in Frei­heit ver­bracht hat­te. Seit­her bewegt es sich lang­sam wie ein Zep­pe­lin durch mei­ne Zim­mer. Zunächst war es ins Bad geflo­gen, dann in die Küche, durch den Flur zurück ins Wohn­zim­mer, und von dort ins Arbeits­zim­mer, wo es vor dem Fens­ter eine Wei­le ver­harr­te, obwohl drau­ßen tie­fe Nacht herrsch­te. Das Tier hat­te inzwi­schen sei­ne Augen geöff­net, kein Wun­der, es schien auch an mir selbst zuneh­mend inter­es­siert zu sein, wie genau in die­sem Moment, da ich notie­re. Gera­de kommt es wie­der zurück aus der Küche, es nähert sich, es ist nun ohne Fal­ten und es schim­mert, und noch immer pfeift es lei­se vor sich hin. — stop

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von den eisbriefen

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kili­man­dscha­ro : 6.28 — Für ein oder zwei Minu­ten war ich wild ent­schlos­sen gewe­sen, ein Grün­der zu wer­den, und zwar ges­tern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Brief­kas­ten gelau­fen, der nicht weit ent­fernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befes­tigt ist. Ein Eich­hörn­chen, natür­lich, beglei­te­te mich. Es war sehr kalt, und plötz­lich habe ich wahr­ge­nom­men, dass ich, wenn es mir mög­lich wäre, gern Brie­fe von Eis ver­schi­cken wür­de, hauch­dün­ne Blät­ter gefro­re­nen Was­sers, die man in küh­len­de Kuverts ste­cken und in alle Welt ver­schi­cken könn­te. Eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung nach­ge­ra­de, wie ein Mensch, dem ich einen Eis­brief gesen­det habe, in der Küche vor sei­nem Eis­schrank sitzt und mei­nen Brief für Sekun­den stu­diert, um ihn dann rasch wie­der in die Käl­te zurück­zu­le­gen, damit er nicht ver­schwin­det in der war­men Luft. Ich soll­te also bald ein­mal jene beson­de­ren Eis­pa­pie­re, ihre Fabri­ken und Läden erfin­den, und Kuverts, und Brief­käs­ten, die wie Kühl­schrän­ke funk­tio­nie­ren. Wo man die Brie­fe sor­tiert, in einem Post­amt, wür­de man in tief­ge­kühl­ten Räu­men arbei­ten, und alle die­se Auto­mo­bi­le, nicht wahr, die ver­eis­te Brief­wa­re über das Land beför­dern. Ein Unter­neh­men die­ser Art, wäre eine wirk­li­che Her­aus­for­de­rung, eine gute und sehr ver­rück­te Sache, so dach­te ich am gest­ri­gen Abend. Kaum war ich wie­der in mei­ne Woh­nung zurück­ge­kehrt, war aus der Grün­der­zeit bereits eine Erfin­der­zeit gewor­den. Und wie ich in die­sem Augen­blick vol­ler Freu­de im pola­ren Zim­mer vor mei­nem Schreib­tisch sit­ze, damp­fen­der Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hör­ba­ren Pfei­fen Zei­chen in schim­mern­de Eis­pa­pier­bö­gen fräst. Ich schrei­be: Mein lie­ber Theo­dor, ich woll­te Dir schon lan­ge ein­mal einen Eis­brief notie­ren. Hier nun, wie ver­spro­chen, ist er end­lich bei Dir ange­kom­men. Ich hof­fe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir auf­ge­schrie­ben habe, dass ich näm­lich den Wunsch habe, bald ein­mal zwei oder drei Tage zu schwei­gen, um den Kopf­stim­men stum­mer Men­schen nach­zu­spü­ren. Ich könn­te mich kurz vor Beginn mei­ner Stil­le ver­ab­schie­den von Freun­den: Bin tele­fo­nisch nicht erreich­bar! Oder einen Notiz­block besor­gen, um Fra­gen für den All­tag zu ver­zeich­nen, sagen wir so: Füh­ren sie in ihrem Sor­ti­ment Hör­ge­rä­te für Engel­we­sen fin­ger­groß? Eine Kärt­chen­samm­lung zu erwar­ten­der Wie­der­ho­lungs­sät­ze wei­ter­hin: Habe vor­über­ge­hend mein Ton­ver­mö­gen ver­lo­ren! – Es ist eine ange­neh­me Nacht, lie­ber Theo­dor. Ich erin­ner­te einen Satz René Chars, den er in sei­ner Gedicht­samm­lung »Lob einer Ver­däch­ti­gen” notier­te. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangs­ar­ten mit dem Leben: ent­we­der man träu­me es oder man erfül­le es. In bei­den Fäl­len sei man rich­tungs­los unter dem Sturz des Tages, und grob behan­delt, Sei­den­herz mit Herz ohne Sturm­glo­cke. Dein Lou­is, ganz herz­lich! — stop

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von den regenschirmtieren

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india : 2.05 – Ges­tern ist etwas Merk­wür­di­ges pas­siert. Ich hat­te einem Bekann­ten, den ich lan­ge Zeit nicht gese­hen habe, eine E‑Mail gesen­det. Kaum war die klei­ne elek­tri­sche Bot­schaft auf den Weg gebracht, kam eine Ant­wort zurück. Ich war sehr erstaunt gewe­sen, ich hat­te ange­nom­men, dass sich mein Bekann­ter viel Zeit neh­men wür­de, mir zu ant­wor­ten, immer­hin war ich etwas nach­läs­sig, zöger­lich dar­in, ihm zu schrei­ben. Ich hat­te sogar ein­mal das Gefühl, er könn­te viel­leicht längst nicht mehr am Leben sein, weiß der Teu­fel, war­um. Die Ant­wort, die ich erhielt, war fol­gen­de gewe­sen: Guten Tag! Ich habe Dei­ne Nach­richt erhal­ten, bin gera­de in Tas­ma­ni­en, ich wer­de so bald wie mög­lich ant­wor­ten. Um Dir die Zeit bis dahin zu ver­trei­ben, schi­cke ich Dir eine Geschich­te, die Dir viel­leicht Freu­de berei­ten wird. Es han­delt sich um eine Traum­ge­schich­te, die davon erzählt, dass ich wie­der ein­mal von Regen­schirm­tie­ren träum­te. Die Luft im Traum war hell vom Was­ser, und ich wun­der­te mich, wie ich in die­ser Wei­se, bei­de Hän­de frei, durch die Stadt gehen konn­te, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spa­zier­te. Als ich an einer Ampel war­ten muss­te, betrach­te­te ich mei­nen Regen­schirm genau­er und staun­te, weil ich nie zuvor eine Erfin­dung die­ser Art zu Gesicht bekom­men hat­te. Ich konn­te dunk­le Haut erken­nen, die zwi­schen bleich schim­mern­den Kno­chen auf­ge­spannt war, Haut von der Art der  Flug­haut eines Abend­seg­lers. Sie war durch­blu­tet und so dünn, dass die Rinn­sa­le des abflie­ßen­den Regens deut­lich zu sehen waren. In jener Minu­te, da ich mei­nen Schirm betrach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, er wür­de sich mit einem wei­te­ren Schirm unter­hal­ten, der sich in nächs­ter Nähe befand. Er voll­zog leicht schau­keln­de Bewe­gun­gen in einem Rhyth­mus, der dem Rhyth­mus des Nach­bar­schirms ähnel­te. Dann wach­te ich auf. Es war kurz nach Mit­ter­nacht. Es reg­net noch immer. — stop

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josephine auf der mary murray

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tan­go : 6.34 — Ist das nicht eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung, wie sich Jose­phi­ne an einem war­men Sams­tag­vor­mit­tag auf den Weg macht nach New Jer­sey, um das Wrack der MS Mary Mur­ray zu besich­ti­gen? Wie sie ein Taxi ordert. Wie der Fah­rer erzählt, dass er noch nie eine so wei­te Fahrt unter­nom­men habe im Auf­trag. Eigent­lich dür­fe er mit sei­nem Wagen die Stadt nicht ver­las­sen. Also stei­gen sie in Jose­phi­nes Auto um, einen uralten Buick, der seit über einem Jahr­zehnt nicht aus der Gara­ge bewegt wor­den war. Sie neh­men die Ver­raza­no-Nar­rows Bridge süd­wärts. Jose­phi­ne raucht schon lan­ge nicht mehr, aber heu­te macht sie eine Aus­nah­me, eine. Ihr dün­nes wei­ßes Haar, das im Wind flat­tert, fängt sie mit wen­di­gen Fin­gern wie­der ein. Sie trägt Turn­schu­he und ein oran­ge­far­be­nes, som­mer­li­ches Kleid. Die Haut ihrer Bei­ne, Arme, Schul­tern sind hell wie ihr Haar. Eine Stun­de rau­schen sie wort­los auf dem New Jer­sey Turn­pi­ke dahin. Nahe Free­holf hal­ten sie an. Gleich neben dem High­way bewegt sich ein Fluss, dunk­les, müdes Was­ser, lang­sam. Am Ufer war­tet ein jun­ger, bär­ti­ger Mann in einem Pad­del­boot von leuch­tend roter Far­be. Wie Jose­phi­ne sich in die­sem Augen­blick wünscht, foto­gra­fiert zu wer­den, wie sie sich in das Boot setzt, wie sie ihren Stroh­hut mit bei­den Hän­den zurecht­rückt, dann fah­ren sie los, unter mäch­ti­gen Brü­cken hin­durch in Rich­tung des Rarit­an­flus­ses. Möwen ste­hen im bra­cki­gen Was­ser. Es ist fast still, nur das Geräusch des Pad­dels, ein paar Flie­gen brum­men durch die Luft. Ein­mal nähert sich ein Hub­schrau­ber der Küs­ten­wa­che, dreht wie­der ab. Und plötz­lich ist sie zu sehen, eine Fata Mor­ga­na in der Land­schaft, das aus­ran­gier­te gewal­ti­ge Fähr­schiff der Sta­ten Island Flot­te, die MS Mary Mur­ray. Schlag­sei­te steu­er­bords ruht sie in einem Bett von Schilf, Libel­len schie­ßen hin und her, blaue und grü­ne rie­si­ge Tie­re. Wie sich Jose­phi­ne und der jun­ge Mann dem Schiffs­wrack vor­sich­tig nähern. Wie der jun­ge Mann eine Lei­ter am Rumpf des Schif­fes befes­tigt. Wir sehen der alten Dame zu, wie sie vor­sich­tig Spros­se um Spros­se erklimmt. Ihr behut­sa­mer Gang über das Deck, das sich neigt. Jetzt, da die Far­ben vom Schiffs­kör­per fal­len, von Stür­men und Regen gepeitscht, von der Son­ne gebrannt, kann man das höl­zer­ne Herz der alten Flot­ten­da­me erken­nen, Käfer und Amei­sen spa­zie­ren über die Sitz­bän­ke der Pro­me­na­de. Jose­phi­ne muss nicht lan­ge suchen, im Schat­ten einer Ulme, die sich über das Schiff zu beu­gen scheint, eine Sitz­bank, hier genau, ja, hier genau muss die Schrift ihrer Schwes­ter Geral­di­ne zu ent­de­cken sein, ein Satz nur, den das klei­ne Mäd­chen im Jahr 1952 an einem Som­mer­nach­mit­tag auf dem Weg von Man­hat­tan nach Sta­ten Island in das Holz der Bank geritzt hat­te, wäh­rend ihre Zwil­lings­schwes­ter Char­lot­te sie vor Ent­de­ckung schütz­te. Wie Jose­phi­nes zit­tern­de Fin­ger in die­sem Augen­blick über die Ver­tie­fung der Zei­chen fah­ren. — stop

jose­phi­ne

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uhrenwesen

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sier­ra : 6.33 — Im Traum saß ich ein­mal in einem Zug in nächs­ter Nähe eines Man­nes und wun­der­te mich, weil ich ein merk­wür­di­ges, ein san­dig wis­pern­des Geräusch ver­nahm, das von dem Mann aus­zu­ge­hen schien. Er schlief tief und fest, erwach­te auch dann nicht, als ich mich über ihn beug­te und in eine der Taschen sei­nes Man­tels späh­te. Die Tasche war gefüllt mit Arm­band­uh­ren. Als ich eine der Uhren her­aus­nahm, ruh­te sie warm in mei­ner Hand. Ich leg­te ein Ohr an den Kör­per der Uhr und hör­te das Herz der Uhr lei­se schla­gen und eine hel­le Stim­me noch, die Sekun­den zähl­te. — stop
polaroid28

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lamelleniris

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fox­trott : 15.07 — Die Such­ma­schi­ne, von der ich ges­tern noch träum­te am hell­lich­ten Tag, war so groß wie eine Streich­holz­schach­tel. Sie hock­te auf mei­nem Sofa und rühr­te sich nicht. Indem ich sie betrach­te­te, wirk­te sie zunächst so, als wäre sie voll­kom­men unbe­weg­lich, denn es waren an dem Such­ma­schi­nen­we­sen kei­ne Bei­ne zu erken­nen, dafür an jeder Sei­ten­flä­che ein klei­nes Auge, mit dem es sogar zwin­kern konn­te. Sei­ne Haut ähnel­te der Haut eines jun­gen Ele­fan­ten, es hat­te jedoch kei­ne Ohren und auch kei­ne Arme oder Hän­de, tat­säch­lich wirk­te das Wesen in die­sem Moment als könn­te es sich nicht von der Stel­le bewe­gen. Welch ein Irr­tum! Das Wesen konn­te ganz anders, es konn­te sich zum Bei­spiel von mei­nem Sofa erhe­ben und durch die Luft fah­ren wie ein Bal­lon. Dazu hol­te es tief Luft, wur­de grö­ßer und immer grö­ßer, bis es in etwa dop­pelt so groß gewor­den war wie zuvor. In die­ser neu­en Gestalt flog die klei­ne Such­ma­schi­ne in Rich­tung mei­nes Bücher­re­gals davon. Es war nun in die­sem Flug kein Geräusch zu hören, voll­kom­men laut­los schweb­te sie durch mein Zim­mer, wur­de von einem Luft­zug kurz aus der Bahn gewor­fen, fing sich wie­der und ich rief ihr noch zu: Lamel­le­ni­ris! Es war erstaun­lich, ein klei­nes Wun­der. Das Wort schien sie zu beschleu­ni­gen, sie erreich­te rasch mein Regal und flog von links nach rechts die Rei­he der Buch­rü­cken ent­lang, hielt vor jedem der Bücher ein­mal kurz an, und sie erweck­te den Ein­druck, als ob sie sich in jedem die­ser Momen­te tat­säch­lich mit dem Buch selbst beschäf­tig­te, in das Buch hin­ein­sah oder von sei­nem Duft kos­te­te, wie auch immer. Nach eini­gen Flü­gen auf und ab, hielt sie vor einem der Bücher an, es han­del­te es sich um eine klei­ne Geschich­te der Foto­gra­fie, die von Peter Nadas auf­ge­schrie­ben wor­den war. Nun wird man nicht glau­ben, was dann zu sehen war. Die klei­ne Such­ma­schi­ne mach­te sich an dem Buch zu schaf­fen, sie schien über unsicht­ba­re Werk­zeu­ge zu ver­fü­gen, ein Buch in den Griff zu bekom­men. Und das Buch parier­te, es ließ sich aus dem Regal­fach lösen und flog mit der klei­nen Maschi­ne, die sich unter das Buch bege­ben hat­te, durch den Raum zu mir zurück, um in mei­ner Nähe sanft zu lan­den. Behut­sam setz­te sie sich neben das Buch, das sie für mich her­bei­ge­holt hat­te und bedeu­te­te mir mit stil­lem Nach­druck: Schau her, hier ist das Buch, in dem das Wort Lamel­le­ni­ris ent­hal­ten ist. Und so waren wir immer­hin schon einen Schritt wei­ter als noch zuvor. — stop

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josephine besucht chelsea

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ulys­ses : 15.07 — Ich erin­ne­re mich an einen Tag im Mai des Jah­res 2010, als Jose­phi­ne und ich durch den Cen­tral Park spa­zier­ten. Es war ein war­mer Tag gewe­sen, ein Tag, an dem Wasch­bä­ren ihre Ver­ste­cke im Unter­holz flüch­te­ten, um den Som­mer zu begrü­ßen. Nie zuvor hat­te ich Wasch­bä­ren per­sön­lich gese­hen, und auch an die­sem Tag hat­te ich kaum Zeit, sie zu beob­ach­ten, weil die betag­te Dame an mei­ner Sei­te süd­wärts dräng­te. Gut gelaunt schien sie ihr Alter nicht im min­des­ten zu spü­ren, und so folg­ten wir der 8th Ave­nue Rich­tung South Fer­ry, pas­sier­ten die Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, das zen­tra­le Post­amt und die Penn Sta­ti­on, um nahe dem Joy­ce-Thea­ter in die 18th Stra­ße ein­zu­bie­gen. Bei­na­he zwei Stun­den waren wir bis dort­hin unter­wegs gewe­sen, es däm­mer­te bereits. Vor dem Haus 264 West blieb Jose­phi­ne ste­hen. Sie hol­te ihr Tele­fon aus der Hand­ta­sche und mel­de­te mit lau­ter Stim­me, dass sie bereits unten vor dem Haus ste­hen wür­de und abge­holt zu wer­den wün­sche! Ein Herr, in etwa dem­sel­ben Alter, in dem sich Jose­phi­ne befand, öff­ne­te uns kurz dar­auf die Tür. Er war mit einem Haus­man­tel beklei­det, der in einem tie­fen Blau leuch­te­te, hat­te kei­ner­lei Haar auf dem Kopf und trug Turn­schu­he. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich wun­der­te über sei­ne gro­ßen Füße, denn der Mann, den mir Jose­phi­ne mit dem Namen Valen­tin vor­stell­te, war eher zier­lich, wenn nicht klein gera­ten. Wäh­rend wir eine enge Trep­pe in den sechs­ten Stock hin­auf­stie­gen, dach­te ich an die­se Schu­he und auch dar­an, ob ich selbst in ihnen über­haupt lau­fen könn­te. Bald tra­ten wir durch eine schma­le Tür, hin­ter der sich ein Raum von uner­war­te­ter Grö­ße befand, ein Saal viel­mehr, mit einer hohen Decke und einem gut gepfleg­ten Boden von Holz, der nach Oran­gen duf­te­te. Lin­ker Hand öff­ne­te sich ein Fens­ter, das die gesam­te Brei­te des Rau­mes füll­te, mit einem groß­ar­ti­gen Aus­blick auf Chel­sea, auf Dach­gär­ten, Anten­nen und Satel­li­ten­wäl­der, ich glaub­te, vor einer Stadt ohne Stra­ßen zu ste­hen. Und da war nun die­ser alte Mann in sei­nem blau­en Haus­man­tel, der uns bat, auf einem Sofa Platz zu neh­men, wel­ches das ein­zi­ge Möbel­stück gewe­sen war, das ich in dem Raum ent­de­cken konn­te. Ein paar Was­ser­fla­schen reih­ten sich an einer der Wän­de, die von Back­stein waren, von hel­lem Rot, und an die­sen Wän­den waren nun Papie­re, Foto­ko­pien von Buch­sei­ten, genau­er, akku­rat anein­an­der gereiht, sodass sie die Wän­de des Saa­les bedeck­ten. Jose­phi­ne schien sehr berührt zu sein von die­sem Anblick. Sie saß mit durch­ge­drück­tem Rücken auf dem Sofa und bewun­der­te das Werk ihres Freun­des, der uns zu die­sem Zeit­punkt bereits ver­ges­sen zu haben schien. Er stand vor einer der Buch­sei­ten und las. Es han­del­te sich um ein Papier des 1. Band der Entde­ckungs­rei­sen nach Tahi­ti und in die Süd­see von Georg Fors­ter in eng­li­scher Über­set­zung. Und wie wir den alten Mann beob­ach­te­ten, erzähl­te mir Jose­phi­ne, dass er das mit jedem der Bücher machen wür­de, die er lesen wol­le, er wür­de sie ent­fal­ten, ihre Zei­chen­li­nie sicht­bar machen, er lese immer im Ste­hen, er sei ein Wan­de­rer. — stop

jose­phi­ne

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josephine auf dem bildschirm

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echo : 15.07 — Ges­tern Abend habe ich zum ers­ten Mal mit Jose­phi­ne, einer alten Dame, die in Brook­lyn wohnt, ein Gespräch über Sky­pe geführt. Ich weiß nicht genau, wie lan­ge Zeit ich benö­tig­te, sie davon zu über­zeu­gen, dass das Tele­fo­nie­ren mit­tels eines Com­pu­ters nicht gefähr­lich sei, viel­mehr ange­nehm, weil man ein­an­der sehen kön­ne, wenn­gleich etwas in der Zeit ver­zö­gert. Ich glau­be, es waren Mona­te gewe­sen. Ich muss­te ihr zuletzt hoch und hei­lig ver­spre­chen, kei­ne Foto­gra­fien von ihrem Abbild zu machen, oder nur dann, wenn sie mir das Foto­gra­fie­ren aus­drück­lich gestat­ten wür­de. — Frü­her Nach­mit­tag in Brook­lyn, die Son­ne schien noch, genau die Son­ne, die bei mir längst unter­ge­gan­gen war. Jose­phi­ne hat­te eine Lese­bril­le auf­ge­setzt, ihr rotes Haar schim­mer­te im hel­len Licht, das von den Fens­tern her auf sie fiel. Aber das Zim­mer, in dem sie saß, lag im Schat­ten. Ich konn­te eine Lam­pe erken­nen, die neben jenem Schreib­tisch stand, vor dem Jose­phi­ne Platz genom­men hat­te, um genau in die­sem Moment mein Gesicht auf einem Bild­schirm zu betrach­ten. Wir waren uns schon ein­mal per­sön­lich begeg­net, aber nicht in die­ser Wei­se, ich konn­te sehen, dass sie sich geschminkt hat­te und ein wenig ner­vös war, ver­mut­lich des­halb, weil sie nicht wie üblich im Gespräch mit ihrem Tele­fon auf und ab lau­fen konn­te. Wie geht es Ihnen, erkun­dig­te sie sich. Ich ant­wor­te­te, dass es mir gut gehen wür­de, eine leich­te Erkäl­tung viel­leicht, nichts Erns­tes. Es soll kalt wer­den in den kom­men­den Tagen, sag­te Jose­phi­ne. Sie sprach lang­sam, über­legt, wie immer, wenn sie in deut­scher Spra­che for­mu­lier­te, und sie lach­te und stand kurz dar­auf vor dem Com­pu­ter auf, sodass sie für mich unsicht­bar wur­de. Sie frag­te, ob ich sie noch hören kön­ne, das Bild, das ich auf dem Schirm mei­nes Com­pu­ters sehen konn­te, wackel­te jetzt, weil sich der Com­pu­ter der alten Dame selbst zu bewe­gen schien. Tat­säch­lich hat­te sie ihr Net­book vom Tisch geho­ben und war mit ihm zum Fens­ter gelau­fen, hat­te die klei­ne Maschi­ne auf das Fens­ter­sims gestellt, sodass ich einen Aus­blick hat­te auf die Brook­lyn Heights Pro­me­na­de, auf das duns­ti­ge Meer, es war ein wun­der­ba­rer Moment gewe­sen. Ich konn­te Men­schen erken­nen, die unter Regen­schir­men spa­zier­ten, es schien win­dig zu sein, Kin­der spiel­ten im Gar­ten des Hau­ses, unter des­sen Dach Jose­phi­ne seit Jahr­zehn­ten lebt, Laub wir­bel­te her­um, ein paar Läu­fer kreuz­ten durch das Bild, am Pier 5 anker­ten zwei Schlep­per. Es war ein bei­na­he ver­trau­ter Aus­blick gewe­sen. Und wie­der wackel­te das Bild und das Meer ver­schwand und Jose­phi­ne wur­de erneut sicht­bar. Kön­nen Sie mich sehen, woll­te sie wis­sen, kön­nen Sie mich wirk­lich sehen? — stop

jose­phi­ne

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