Aus der Wörtersammlung: zeit

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rom : taschen

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marim­ba : 22.05 — Man wird viel­leicht nicht sofort bemer­ken, dass man sich in einem Jagd­ge­sche­hen befin­det. Nein, von Jägern ist auf der Piaz­za Navo­na zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zau­ber­haf­ter Platz, läng­lich in der Form, drei Brun­nen, eine Kir­che, und Cafés, eines nach dem ande­ren, klei­ne­re Läden, in wel­chen wir Pas­ta in allen mög­li­chen For­men und Far­ben ent­de­cken, Wei­ne, Schin­ken, Käse. Am Abend flie­gen beleuch­te­te Pro­pel­ler durch die Luft. Maler, wel­che ent­setz­li­che Bil­der pro­du­zie­ren, erwar­ten ame­ri­ka­ni­sche Kun­den, sie sit­zen auf Klapp­stüh­len im Licht ihrer Glüh­lam­pen, die sie mit­tels Bat­te­rien mit Strom ver­sor­gen. Stra­ßen­mu­si­kan­ten sind da noch, mit ihren Ban­do­ne­ons, Gei­gen, Kon­tra­bäs­sen, und Ange­stell­te der Müll­ent­sor­gung, Frau­en, jün­ge­re Frau­en in wein­ro­ten Over­alls, ihre Hän­de sind gepflegt, ihre Fin­ger­nä­gel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Rich­tung jener schwarz­häu­ti­gen jun­gen Män­ner blickt, die vor einem der Brun­nen den Ver­such unter­neh­men, ihre Arbeit zu ver­rich­ten, wird es ernst. Sie haben Hand­ta­schen in allen mög­li­chen For­men auf den Boden vor sich abge­stellt, je zwei Rei­hen, Behäl­ter von Pra­da, Picard, Cha­nel, Grif­fe der­art aus­ge­rich­tet, dass man sie mit je einer Hand­be­we­gung alle­samt sofort ergrei­fen und flüch­ten kann. Eine typi­sche Ges­te, sind doch jene arm­se­lig wir­ken­den Händ­ler der Luxus­ta­schen mehr oder weni­ger flüch­ten­de Wesen. Kaum haben sie ihre Anord­nung im Fla­nier­be­zirk mög­li­cher Kun­den sorg­fäl­tigst auf­ge­baut, raf­fen sie ihre Ware wie­der zusam­men und rasen in eine der Sei­ten­stra­ßen davon, um nach weni­gen Minu­ten wie­der her­vor­zu­kom­men, wie in einem Spiel, wie auf­ge­zo­gen. Am ers­ten Abend mei­ner Beob­ach­tun­gen auf der Piaz­za Navo­na, waren nur Flüch­ten­de zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigen­ar­ti­ge Situa­ti­on, aber schon am zwei­ten Abend war eine jagen­de Gestalt vor mei­nen Augen in Erschei­nung getre­ten. Es han­del­te sich um einen Haupt­mann der Cara­bi­nie­ri, um einen Herrn prä­zi­se mit äußerst auf­rech­tem Gang. Er trug wei­ße Strei­fen an sei­nen Hosen, und eine Uni­form­ja­cke, tadel­los, und eine Müt­ze, sehr amt­lich, er war eine wirk­li­che Zier­de, ein Staats­mann, wie er so über den Platz schritt, hin­ter den flüch­ten­den afri­ka­ni­schen Män­ner her, aus­dau­ernd, lau­ernd, ein Ansitz­jä­ger, möch­te ich sagen, einer, der an Stra­ßen­ecken war­tet, um die Wie­der­kehr der schwar­zen Händ­ler zu unter­bin­den oder um einen von ihnen ein­zu­fan­gen und an Ort und Stel­le unver­züg­lich zu ver­spei­sen. Stop. Frei­tag­abend. stop. Eine Bie­ne über­quert zur Unzeit den Platz in süd­li­che Rich­tung, als wär sie ein Zug­vo­gel. — stop
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rom : umberto ecco

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alpha : 22.57 — Der Mann hin­ter dem Tre­sen ist ein freund­li­cher Mann, unra­siert, akku­rat gebü­gel­tes wei­ßes Hemd, ein hüb­sches, jun­ges Gesicht, das an den Wän­den auf zahl­rei­chen Foto­gra­fien wie­der­zu­fin­den ist, ver­mut­lich des­halb, weil man sich mit ihm zei­gen woll­te, abge­lich­tet sein, sagen wir, berühm­te Men­schen und ein­fa­che Men­schen, die ich nicht aus­ein­an­der­hal­ten kann, weil ich die berühm­ten Men­schen der Stadt Rom nicht ken­ne. Sie lächeln an der Sei­te des jun­gen Man­nes ste­hend, man­che schei­nen viel­leicht betrun­ken zu sein. Aber einen der foto­gra­fier­ten Män­ner habe ich schon ein­mal gese­hen, es han­delt sich bei die­sem Herrn um Umber­to Eco. Der Schrift­stel­ler zeigt sei­ne Zäh­ne, er lacht in die Kame­ra. Umber­to Eco scheint an die­sem Abend, der einem Stem­pel­auf­druck zufol­ge drei Jah­re zurück­liegt, her­vor­ra­gend gelaunt gewe­sen zu sein. Viel­leicht hat­te er gera­de einen die­ser herr­li­chen Espres­sos getrun­ken, wie ich an die­sem Mor­gen. Es war ver­mut­lich Win­ter gewe­sen, Umber­to Ecco trägt einen Hut und einen Man­tel mit einem Pelz­kra­gen. Oder es war Som­mer und Umber­to Ecco hat­te sich in der Jah­res­zeit ver­tan. Wie­der ist es sehr warm heu­te. Eine Ambu­lanz rast an der weit geöff­ne­ten Tür des Cafés vor­bei, man kann das Geräusch der Sire­nen der Not den gan­zen Tag über ver­neh­men. Aber nachts ist es still in die­ser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Men­schen, die sie bewoh­nen. Es riecht nach war­mem Schin­ken in die­sem Moment. Auf dem Bild­schirm mei­nes Foto­ap­pa­ra­tes sind Säu­len zu sehen und Durch­leuch­tungs­ma­schi­nen und Hun­der­te lee­re Plas­tik­fla­schen, Sub­stan­zen, die man nicht mit in die gro­ße, kal­te Kir­che am Peters­platz neh­men darf, sie könn­ten explo­die­ren. Ich hebe den Foto­ap­pa­rat leicht an und foto­gra­fie­re Umber­to Eco, sodass er jetzt zwei­fach im Pelz­kra­gen exis­tiert. Wenn ich mir nicht vor­ge­nom­men hät­te, das Pan­the­on zu besu­chen, ich wür­de gern war­ten, Tage, Wochen, um nach­zu­se­hen, ob Umber­to Eco zurück­kom­men wird. Ich habe bemerkt, dass mei­ne Ohren knis­tern, wenn ich Kaf­fee trin­ke in Rom. — stop
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rom : winde

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sier­ra : 8.52 — Leich­ter Luft­zug von Süden, schwe­re, blei­schwe­re Hit­ze. Spa­zier­te im Kolos­se­um, präch­ti­ge Rui­ne, Thea­ter der Grau­sam­keit. Da muss über­all noch uralter Kno­chen­staub im Boden ver­bor­gen sein, Mate­ria­li­en vom Tiger, vom Fluss­pferd, von Giraf­fen, von Men­schen. Ges­tern hat­te der öffent­li­che Dienst der Stadt gestreikt, auch die Funk­tio­nä­re der Are­na, wes­we­gen an die­sem Tag tau­sen­de Besu­cher zusätz­lich Zutritt wün­schen. Eine lan­ge Rei­he War­ten­der, hun­der­te Meter weit in der Son­ne tief unten auf der Stra­ße. Robo­ter­ma­schi­nen der Stra­ßen­rei­ni­gung dösen im Schat­ten der Pini­en. Gla­dia­to­ren­imi­ta­to­ren ste­hen zur Foto­gra­fie bereit. Pfer­de­hu­fe klap­pern die Via di San Gre­go­rio auf und ab. Über das Forum Roma­n­um gleich gegen­über fegt ein Wind, der sich genau auf die­sen his­to­risch bedeu­ten­den Bezirk zu beschrän­ken scheint, es ist ein gra­ben­der, wir­beln­der Wind, Sand­tür­me krei­sen zwi­schen Mau­er­res­ten, Stäu­be, die über das Meer geflo­gen kom­men, von Afri­ka her, schmir­geln am alten Euro­pa, ver­fan­gen sich in den Sei­den­tü­chern der Händ­ler, die tat­säch­lich flie­gen­de Händ­ler sein könn­ten, weil sie vie­le und sich der­art ähn­lich sind, dass sie phy­si­ka­li­schen Geset­zen wider­ste­hend über­all zur glei­chen Zeit erschei­nen. Abends sitzt dann ein Mann wie aus hei­te­rem Him­mel mit einem Pro­test­tuch auf der Kup­pel des Peters­doms. Unter­halb der Later­ne, in über ein­hun­dert Meter Höhe, scheint er sich fest­ge­zurrt zu haben. Auf dem Platz bleibt er indes­sen von den Fla­neu­ren unbe­merkt. Er scheint viel zu klein zu sein, zu weit ent­fernt er selbst und auch das Tuch, auf das er etwas notier­te. Zit­tern­des Licht, immer wie­der zu sehen, eine Art Fin­ger. Kei­ne Mor­se­zei­chen. — stop

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rom : ein flugzeug

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marim­ba : 22.58 — Man müss­te ein­mal ein Flug­zeug erfin­den, das nicht sicht­bar und doch wir­kungs­voll anwe­send ist. Unsicht­ba­re Sit­ze, auf wel­chen sicht­ba­re Pas­sa­gie­re Platz genom­men haben, durch­sich­ti­ge Steu­er­knüp­pel, durch­sich­ti­ge Flü­gel, ein durch­sich­ti­ges Leit­werk. Man sieht nun Men­schen, wie sie über Taxi­way­bah­nen eines Flug­ha­fens schwe­ben, gut sor­tiert, acht Per­so­nen zu einer Rei­he neben­ein­an­der, so sitzt man. Da und dort lie­gen schlam­pi­ger Wei­se Taschen her­um, Ruck­sä­cke, Zei­tun­gen, auch sie sind sicht­bar wie ihre Besit­zer und die Ben­zi­ne in den Flü­geln der Maschi­nen, das Nest der Kof­fer am Flug­zeug­heck, jene zwei Her­ren mit ihren akku­rat gefal­te­ten Flie­ger­hau­ben an der Spit­ze der Pro­zes­si­on, bald wird man sehen, wie das alles fliegt sehr steil gegen den Him­mel zu. Und die­ser Blick nun nach unten, Seen, Stra­ßen, Wäl­der, Schnee auf den Ber­gen, das Meer, die gro­ße Stadt im Anflug, ein röt­lich brau­ner Fleck in einer hel­len Land­schaft. Es war viel Wind unter­wegs und bestän­dig das Gefühl in die Tie­fe zu fal­len, weil die Sub­stan­zen des Flug­zeu­ges nicht zu sehen gewe­sen waren. Jetzt aber Rom. Da ste­he ich mit bei­den Bei­nen fest auf einem Boden, unter dem viel Zeit­spur im Ver­bor­ge­nen liegt. Das Taxi, das durch das groß­zü­gi­ge Spa­lier der Zedern glei­tet, Schirm­pi­ni­en da und dort in Step­pen­land­schaft jen­seits der Stra­ße. Plötz­lich dich­tes Häu­ser­ge­fü­ge in war­men, erdi­gen Far­ben, braun, ocker, gelb, rot, oran­ge, an den Ampeln hel­le Wölk­chen von Blei­luft, die aus knat­tern­den Rol­ler­mo­to­ren paf­fen. Via del­la Maglia­na, Via Por­tu­en­se, Via Qui­ri­no Majo­ra­na, Via del­le For­naci, Via del­le Mura Aure­lie. Vor dem Haus lie­gen drei scheue, schlan­ke Kat­zen. Das Gespräch der Möwen auf ihrem Flug gegen Tras­te­ve­re. – stop
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gebete

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del­ta : 6.46 — Das war so gewe­sen. Kurz nach dem Abend­essen tref­fe ich im Zug auf einen Freund. Er kam gera­de vom Gebet. Ich weiß nicht, wie er das macht, er betet an allen denk­bar unmög­li­chen Orten, aber immer zur rech­ten Zeit. Wir müs­sen nicht mehr dar­über spre­chen, er ist Mos­lem, über­zeugt, tief­gläu­big, ich bin Christ, einer, der eher zwei­felt, aber nicht NEIN sagen will, nicht, dass das alles Unfug ist mit den Jen­seits­ge­schich­ten. Mein Freund und ich lie­ben Jazz. Er ist ein Schlag­zeu­ger von hoher Bega­bung, ich habe ein fei­nes Gehör, das ist die ande­re Sei­te, mein beben­des Zwerch­fell, wenn er spielt. Was das doch für ein Irr­sinn wie­der ist, die­ser Film, die­se Pro­vo­ka­ti­on, dass das nie auf­hört, sag­te er dann doch in mei­ne Rich­tung. Und dass ihm das vor allem so unan­ge­nehm sei, weil wir doch wie Pup­pen sind, die man auf­zie­hen kann, irgend­wo eine böse sati­ri­sche Zeich­nung, und schon tan­zen wir los. — Ja, das ist äußerst selt­sam, die­se Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on über gro­ße Ent­fer­nun­gen hin­weg, die Men­schen­le­ben for­dert. Über­haupt ist das merk­wür­dig, die Schöp­fung, der Tod, das Erzäh­len von der Zeit danach, die Geset­ze, die Bewer­tung nach Gut und Böse. Ich erin­ne­re mich, wie ich vor vie­len Jah­ren ein­mal mit mei­nem Vater vor einem Fern­seh­ge­rät saß. Das war an einem Oster­sonn­tag kurz vor 12 Uhr mit­tags gewe­sen. Auf einem Bal­kon in Rom stand ein alter Mann, er trug einen merk­wür­di­gen Hut auf dem Kopf und sprach in sin­gen­der Wei­se Ver­se, von wel­chen ich ahn­te, dass es sich nur um ein Gebet han­deln könn­te. Das Gebet war in mei­nen Ohren nicht ver­ständ­lich gewe­sen, weil es in ita­lie­ni­scher Spra­che gesun­gen wur­de, aber dann äußer­te sich der geist­li­che Mann plötz­lich in einer mir bekann­ten Spra­che. Mei­ne Mut­ter war indes­sen hin­zu­ge­tre­ten. In genau dem Moment, da der alte Mann sei­nen Segen erteil­te, knie­te sie nie­der und bekreu­zig­te sich. Ich erin­ne­re, mich über ihre Ges­te gewun­dert zu haben, das Knien vor einem Fern­seh­ge­rät. Genau­ge­nom­men wun­de­re ich mich bis heu­te, wie der Segen wan­dert. — stop
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giuseppi logan

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hima­la­ya : 6.45 — Vor zwei oder drei Mona­ten habe ich eine Geschich­te gele­sen, von der ich mich sagen hör­te, sie sei eine Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen wer­de, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern soll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten bei einem Erd­be­ben ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, die ich stu­die­ren könn­te, um auf die Geschich­te zu sto­ßen, wenn sie ein­mal nicht gegen­wär­tig sein wür­de. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine sehr kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den, man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann wie ein Black­out. Über 30 Jah­re war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len, als man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Es ist ein klei­nes Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle die Geschich­ten wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nicht ver­ges­sen will. — stop
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stanislav lem : ein langsamer brief

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ulys­ses : 5.05 — In der Nacht zum 17. April 2010 im Schlaf eine inter­es­san­te Erfah­rung der Zeit. Ich hat­te mir vor­ge­nom­men, eine Zug­fahrt nach Montauk zu träu­men. Statt­des­sen träum­te ich, Sta­nisław Lém habe mir einen Brief geschrie­ben. Ein geheim­nis­vol­les Büro über­mit­tel­te mir den ers­ten, und zu die­sem Zeit­punkt gleich­wohl ein­zi­gen Buch­sta­ben einer Nach­richt des Schrift­stel­lers an mich mit dem Hin­weis, ich müs­se von die­sem Zeit­punkt an gedul­dig war­ten, da die Zeit der jen­seits Leben­den sehr viel lang­sa­mer ver­ge­hen wür­de, als die Zeit der dies­seits exis­tie­ren­den Men­schen. Mit einem wei­te­ren Zei­chen, einem zwei­ten Zei­chen des Brie­fes, sei im Juni, und zwar doch im Juni des lau­fen­den Jah­res zu rech­nen. Ich wach­te damals auf und war fröh­lich und mach­te mich unver­züg­lich an die Beob­ach­tung eines Nach­rich­ten­schat­tens, den flie­gen­de vul­ka­ni­sche Mikro­ge­bir­ge über Euro­pa erzeug­ten. Der über­tra­ge­ne Bucht­sta­be, den mir Sta­nis­law Lém damals über­mit­telt hat­te, war ein l gewe­sen. Als im Juni der zwei­te Buch­sta­be des Brie­fes über­tra­gen wur­de, es han­del­te sich um ein i, wur­de deut­lich, wes­halb Geduld von mir erwar­tet wur­de, da sich ein Wort deut­lich bestimm­te, das mich im Jah­re 2011, und zwar im Novem­ber voll­stän­dig erreicht haben wür­de. Ein gewis­ser Moment von Span­nung war zunächst wie­der im Janu­ar des Jah­res 2012 zu spü­ren gewe­sen, da ein voll­stän­dig neu­es Wort mit einem ers­ten Zei­chen auf­ge­nom­men war. Ein groß­ge­schrie­be­nes l, das Zwei­te bereits, traf ein, ihm folg­te im April ein o, sowie im Juli der Buch­sta­be u. Zu die­sem Zeit­punkt also ist noch kei­ner­lei Anlass zur Auf­re­gung gege­ben. Ich wer­de bei Gele­gen­heit Wei­te­res berich­ten. – stop

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versuchsanordnung

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echo : 2.05 — Ges­tern, am spä­ten Abend, wur­de ich wäh­rend mei­ner Arbeit von einem Eich­hörn­chen beob­ach­tet. Das klei­ne Tier kau­er­te im Kirsch­baum auf Höhe der Fens­ter mei­nes Arbeits­zim­mers gut sicht­bar im Licht einer Stra­ßen­lam­pe. Bei­na­he woll­te ich mei­nen, dass es sich mit Absicht zeig­te. Sei­ne Augen leuch­te­ten röt­lich, als wären sie Taschen­lam­pen. Ich trat vor­sich­tig ans Fens­ter und schon war das Tier ver­schwun­den. Es war also fast Mit­ter­nacht gewe­sen, ich ver­such­te zu die­sem Zeit­punkt ein Expe­ri­ment zu wie­der­ho­len, das ich vor 5 Jah­ren bereits erfolg­reich im Inter­net unter­nom­men hat­te. Krapp war mit mei­ner Hil­fe in Chat­räu­men zu Spra­che gekom­men. In einem 30-Sekun­den­rhyth­mus wie­der­hol­te er Sät­ze, die Samu­el Beckett für ihn notier­te. Eine hal­be Stun­de arbei­te­te ich mich damals vor­an, als in der künst­li­chen Welt auf Krapp reagiert wur­de. Das war ein fas­zi­nie­ren­der Vor­gang gewe­sen, ein Ereig­nis, das sich ges­tern lei­der nicht wie­der­hol­te. Extra­or­di­na­ry silence this evening. Wie ich es auch ver­such­te, Krapp wur­de nicht bemerkt oder wur­de unhöf­li­cher­wei­se igno­riert. Hier nun noch ein­mal das Doku­ment aus dem Jahr 2007: >

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Versuchsanordnung >
20.05 – 20.07 Uhr MEZ
Krapp im Chat

[Log­in OK]
[Krapp joi­n­ed chan­nel Welcome!]
[82users in chan­nel Welcome!]

RickJ2!!: Bye bye.
Krapp: „Have just eaten I reg­ret to say three bana­nas and
only with dif­fi­cul­ty refrai­ned from a fourth.“
Gulli_S2: Hotmail?
[katsu left chan­nel Welcome!]
UrFix­a­ti­on: Omg, stop it with the bana­na story.
Krapp: „Fatal things for a man with my condition.“
2005Guy!!: Ur…is get­ting visuals..lol
Gulli_S2: Hotmail
[muff’ joi­n­ed chan­nel Welcome!]
Krapp: „Extra­or­di­na­ry silence this evening.“
UrFix­a­ti­on: lol
UrFix­a­ti­on: I am
RickJ2!!: Some old sto­ries krapp.
[muff’ left chan­nel Welcome!]
Devilish.fr is away from keyboard.
UrFix­a­ti­on: Flashbacks
UrFix­a­ti­on: lol
Gulli_S2: Fuck you!
Krapp: „I strain my ears and do not hear a sound.“
RickJ2!!: lol
[Gulli_S2 left chan­nel Welcome!]
2005Guy!!: I bet…not pretty
UrFix­a­ti­on grins evilly.
RickJ2!!: Watch out gulli
Krapp: „Just been lis­tening to an old year,
pas­sa­ges at random.“
[2HOT4YOU left chan­nel Welcome!]
Angus­Y­oung: I just found out i have lung
can­cer and it sucks!
RickJ2!!: aww
Krapp: „I did not check in the book, but it must
be at least ten or twel­ve years ago.“
UrFix­a­ti­on: Whe­re did that come from?
[Gui­tarAd­dic­ted left chan­nel Welcome!]
2005Guy!!: Woaw.
[Play­boyl­overs joi­n­ed chan­nel Welcome!]
Krapp: „Now the day is over.“
2005Guy!!: Zackly.
SlicK­girl: Should i sim­ply mute him?
[Muff joi­n­ed chan­nel Welcome!]
RickJ2!!: Same sto­ries krapp, right?
[Kalkan left chan­nel Welcome!]
[Space Mon­key left chan­nel Welcome!]
Muff greets all.
Krapp: „Night is dra­wing nigh-igh.“
[Por­to-boy joi­n­ed chan­nel Welcome!]
2005Guy!!: I thought i just had dezavu…
RickJ2!!: Get it??
Play­boyl­overs: hi dudes
Play­boyl­overs: lol
Krapp: „Shadows.“
2005Guy!!: Don’t know how to spell it..lol
[Angus­Y­oung left chan­nel Welcome!]
RickJ2!!: Hey baaby
[Bryan1997_4_you joi­n­ed chan­nel Welcome!]
[Desi­ree left chan­nel Welcome!]
Bryan1997_4_you: Hi all
Muff: Chess game anybody?
Bryan1997_4_you: Anyo­ne wan­na chat
RickJ2!!: Krapp do you know english?
[Andriy!!!! left chan­nel Welcome!]
[Lana-puma-hoty joi­n­ed chan­nel Welcome!]
19-m-Fran­cais: Kein Deutsch hier?
UrFix­a­ti­on: Nein
Muff: RickJ2 do you fan­cy me.
Krapp: „Past mid­night. Never knew such silence.
The earth might be uninhabited.“
The­bi­go­ne greets all.
[BlackScor­pi­on left chan­nel Welcome!]
[Joe­NY left chan­nel Welcome!]
Bryan1997_4_you: hi courtney
RickJ2!!: what u mean muff
[Coun­try-Boy joi­n­ed chan­nel Welcome!]
Muff: RickJ2 why do u igno­re me?
Por­to-boy greets all.
[Krapp left channel]
[Wel­co­me!]

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quallenuhr

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ulys­ses

~ : oe som
to : louis
sub­ject : QUALLENUHR
date : sept 12 12 10.22 a.m.

Ganz plötz­lich, lie­ber Lou­is, habe ich Lust bekom­men, Dir zu schrei­ben. Eigent­lich woll­te ich mich erst am kom­men­den Sams­tag mel­den, aber ein Sturm bewegt sich auf uns zu und es ist nichts zu tun, als zu war­ten, ob er uns mit vol­ler Wucht tref­fen wird. Ver­mut­lich ist es die­se War­te­rei, die an unse­ren Ner­ven zerrt. Auch, dass die Tage wie­der kür­zer wer­den. Ges­tern haben wir einen Schwarm Tin­ten­fi­sche beob­ach­tet, der unser Schiff umkreis­te. Ein unge­wöhn­li­cher Anblick, die Tie­re waren schnee­weiß. Wir haben eini­ge gefan­gen, sie schme­cken süß, wenn man sie brät, nach Brot, nach Gebäck, nach Man­deln. Beun­ru­hi­gend ist, dass sie weder über Her­zen noch Augen ver­fü­gen. Eine hal­be Nacht haben wir einen Fisch nach dem ande­ren durch­sucht. Als wir kein Exem­plar mehr hat­ten, um unse­re Suche fort­set­zen zu kön­nen, ist Mil­ler mit dem Bei­boot los­ge­fah­ren. Fast wind­still ist es hier unten auf Höhe des Mee­res, weit oben jedoch rasen­de Wol­ken von West nach Ost. Ja, lie­ber Lou­is, wir durch­le­ben schwie­ri­ge Tage. Und Noe, unser Noe in der Tie­fe, ist von Fie­ber befal­len. Wir haben ihn gut 150 Fuß ange­ho­ben, damit er Licht sehen kann. Seit meh­re­ren Stun­den wie­der­holt er eine klei­ne Geschich­te, von der wir nicht wis­sen, woher sie kommt. Noe sagt, Noe stel­le sich ein Zim­mer vor, ein freund­li­ches, hel­les Zim­mer von aller­feins­ter Qual­len­haut, ein Zim­mer von Was­ser, ein Zim­mer von Salz, ein Zim­mer von Licht. Man könn­te die­ses Zim­mer, und alles, was sich im Zim­mer befin­det, das Qual­len­bett, die Qual­len­uhr, und all die Qual­len­bü­cher und auch die Schreib­ma­schi­nen von Qual­len­haut, trock­nen und fal­ten und sich 10 Gramm schwer in die Hosen­ta­sche ste­cken. Und dann geht man mit dem Zim­mer durch die Stadt spa­zie­ren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaf­fee­haus und war­tet. Noe sitzt also ganz still und zufrie­den unter einer Ven­ti­la­tor­ma­schi­ne an einem Tisch, trinkt eine Tas­se Kakao und lächelt und ist gedul­dig und sehr zufrie­den, weil nie­mand weiß, dass er ein Zim­mer in der Hosen­ta­sche mit sich führt, ein Zim­mer, das er jeder­zeit aus­pa­cken und mit etwas Was­ser, Salz und Licht, zur schöns­ten Ent­fal­tung brin­gen könn­te. Hier spricht Noe. Noe stellt sich ein Zim­mer vor, ein freund­li­ches, hel­les Zim­mer von feins­ter Qual­len­haut. — Bes­te Grü­ße. Ahoi. Dein OE SOM

gesen­det am
12.09.2012
2268 zeichen

oe som to louis »

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mr. munki

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marim­ba : 6.22 — Das Ver­ges­sen ist nicht gera­de eine mei­ner Stär­ken. Ich kann mich noch nach Jah­ren an jedes schwie­ri­ge Gespräch erin­nern, wo es sich ereig­ne­te, mit wem ich mich unter­hal­ten hat­te und wor­über. Dafür ver­ges­se ich auf dem Weg von mei­nem Arbeits­zim­mer in die Küche, wes­halb ich mich eigent­lich in Bewe­gung setz­te. Auch die Uhr­zeit ver­ges­se ich ger­ne, Tele­fon­num­mern, Pass­wör­ter, Namen, gan­ze Bücher, dass sie exis­tie­ren, Buch­sta­ben, mei­nen Regen­schirm. Ein­mal wäre ich bei­na­he im Herbst ohne Schu­he auf die Stra­ße getre­ten. Genau genom­men bin ich im Ver­ges­sen leicht­fü­ßi­ger, als ich dach­te. Ich ver­ges­se aber lei­der in vie­len Fäl­len nicht, was ich ger­ne ver­ges­sen wür­de. Heu­te habe ich bemerkt, dass ich ver­säum­te, also ver­ges­sen habe, in einem Buch wei­ter­zu­le­sen, das ich im Mai zuletzt in Hän­den gehal­ten habe. Viel­leicht erin­nern Sie sich, es han­del­te sich um Pete L. Munki’s Roman Nau­ti­lus. Der Erzäh­ler der Geschich­te, ein jun­ger Mann namens Zezito Lopes, ruh­te zuletzt im 10. Stock eines Hau­ses in der Lex­ing­ton Ave­nue auf einer Trep­pen­stu­fe. Frü­her Nach­mit­tag. Ein schwe­rer Behäl­ter von gepan­zer­tem Glas, in dem sich zwei Fische der Gat­tung Nau­ti­lus befan­den, stand neben dem war­ten­den Mann auf dem Boden. Ich erin­ner­te mich damals, dass der jun­ge Mann, er war ein gut trai­nier­ter Trä­ger, sich kurz dar­auf erho­ben hat­te, um an einer der Woh­nungs­tü­ren, die auf den Flur führ­ten, zu klin­geln und nach einem Glas Was­ser zu fra­gen. Unver­züg­lich wur­de geöff­net, ein Gespräch ent­wi­ckel­te sich, in des­sen Fol­ge Zezito Lopes sich bück­te, sei­nen gepan­zer­ten Behäl­ter in die Hän­de nahm und mit ihm in der Woh­nung ver­schwand. So weit, so gut. Als ich das Buch im Mai im Zug geöff­net hat­te, konn­te ich die mar­kier­te Text­stel­le nicht fin­den. Sofort der Gedan­ke, ich hät­te mög­li­cher­wei­se fan­ta­siert, eine beun­ru­hi­gen­de Vor­stel­lung. Nicht min­der beun­ru­hi­gend schien mir der Gedan­ke gewe­sen zu sein, das Buch selbst könn­te sich ver­än­dert haben, wei­ter- oder umge­schrie­ben wor­den sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in mei­ner Nähe auf­ge­hal­ten hat­te. Zu Hau­se ange­kom­men leg­te ich das Buch unter ande­re Bücher auf mei­nem Schreib­tisch ab, wo ich es heu­te wie­der ent­deck­te. Als ich das Buch öff­ne­te, war das Buch leer. Kein Zei­chen zu fin­den, nur der Titel der Geschich­te: Nau­ti­lus. Dar­un­ter ein wei­te­rer Satz: Bit­te war­ten. Pete L. Mun­ki. — stop

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