Aus der Wörtersammlung: ast

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nüsse. 20 gramm

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oli­mam­bo : 0.15 — Als ich unlängst von einer Rei­se zurück­kehr­te, ent­deck­te ich Esme­ral­da auf dem Rah­men der Tür zum Arbeits­zim­mer. Die klei­ne Schne­cke hock­te genau dort, wo ich sie vor mei­ner Abrei­se zuletzt gese­hen hat­te. Viel­leicht konn­te sie das Gewicht mei­ner Schrit­te auf der Trep­pe spü­ren, ihre Füh­ler­au­gen jeden­falls waren bereits aus­ge­fah­ren, als ich die Tür zur Woh­nung öff­ne­te. Esme­ral­da schien den heim­keh­ren­den Mann in aller Ruhe zu betrach­ten. Ich über­leg­te, kaum hat­te ich die Woh­nung betre­ten, ob es mög­lich sein könn­te, dass sich das Schne­cken­we­sen in der Zeit mei­ner Abwe­sen­heit nicht von der Stel­le bewegt haben könn­te. Geschäl­te Pekan­nüs­se, die ich im Dezem­ber noch in Küche und Die­le auf den Boden leg­te, waren unbe­rührt. Nun aber, da ich mei­nen Kof­fer aus­pack­te, rühr­te sich Esme­ral­da. Sie schien an Gewicht ver­lo­ren zu haben, war in ihrer Wan­de­rung jedoch so schnell wie üblich, wes­halb ich behaup­ten möch­te, dass Esme­ral­da kei­nen Scha­den genom­men haben dürf­te. Nach einer Wei­le erreich­te sie das Arbeits­zim­mer und klet­ter­te unver­züg­lich zur Decke empor, um direkt über mei­nem geöff­ne­ten Kof­fer Platz zu neh­men. Dort ver­weil­te sie für meh­re­re Stun­den, auch als ich mei­nen Kof­fer längst ent­leert und das Licht im Zim­mer aus­ge­schal­tet hat­te, rühr­te sie sich nicht. Direkt unter ihr, auf dem Sofa, lagen ein Paar Hand­schu­he und ein Notiz­buch. Gegen Mit­ter­nacht mel­de­te sich L. Er berich­te­te, er habe einen Auf­trag ange­nom­men, näm­lich in die Gegend von Nar­vik zu rei­sen, um zwei­hun­dert tief­ge­fro­re­ne Seen, die noch ohne Namen sein sol­len, zu bezeich­nen. Als ich kurz dar­auf in mein Arbeits­zim­mer zurück­kehr­te, genau in dem Moment, da ich das Licht anschal­te­te, ließ Esme­ral­da sich von der Decke fal­len. Sie lan­de­te weich auf mei­nen Hand­schu­hen. Ein unglaub­li­cher Anblick, es schien, als wür­de die Schne­cke in dras­ti­scher Wei­se mit mir kom­mu­ni­zie­ren. Indem ich sie in die Luft hob, ver­such­te sie ver­geb­lich, sich in ihr Haus zurück­zu­zie­hen. Jetzt wie­der Ruhe. Nebel­nacht. — stop

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polaroidmonroe2

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ai : CHINA

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MENSCH IN GEFAHR: „Der bekann­te tibe­ti­sche Mönch Kar­ma Tse­wang wur­de am 6. Dezem­ber 2013 in Cheng­du im Süd­wes­ten Chi­nas unter dem Vor­wurf der “Gefähr­dung der Staats­si­cher­heit” inhaf­tiert. Sech­zehn sei­ner Unter­stüt­zer wur­den, als sie sei­ne Frei­las­sung for­der­ten, eben­falls fest­ge­nom­men. Den Mön­chen wur­de kein Zugang zu Rechts­bei­stän­den gewährt. Es besteht die Gefahr, dass sie gefol­tert wer­den. / Kar­ma Tse­wang ist der hoch ange­se­he­ne Abt (Khen­po) des Klos­ters Gon­gya in der Auto­no­men Tibe­ti­schen Prä­fek­tur Yus­hu, Pro­vinz Qing­hai. Er wur­de am 6. Dezem­ber wäh­rend einer Geschäfts­rei­se in Cheng­du, Pro­vinz Sichu­an, von Sicher­heits­kräf­ten aus Chang­du (Cham­do, Auto­no­me Tibe­ti­sche Prä­fek­tur) fest­ge­nom­men. Laut sei­nes Anwalts Tang Tian­hao wird er wegen des Ver­dachts der “Gefähr­dung der Staats­si­cher­heit” fest­ge­hal­ten; genaue­res wur­de noch nicht bestä­tigt. Momen­tan befin­det er sich an einem unbe­kann­ten Ort in Chang­du in Haft. / Nach Kar­ma Tse­wangs Inhaf­tie­rung unter­schrie­ben 4.000 Men­schen, unter ihnen tibe­ti­sche Mön­che, eine Peti­ti­on, um sei­ne Frei­las­sung zu for­dern. Am 10. Dezem­ber nah­men mehr als 600 Men­schen, dar­un­ter Mön­che aus dem Klos­ter von Gon­gya, in Nang­qi­an an einer zwei­stün­di­gen Demons­tra­ti­on teil. Sie hiel­ten Trans­pa­ren­te mit Fotos von Kar­ma Tse­wang hoch, rie­fen Paro­len und ver­lang­ten sei­ne Frei­las­sung. Sicher­heits­kräf­te aus dem Bezirk Nang­qi­an bedroh­ten die an der Demons­tra­ti­on betei­lig­ten Mön­che und warn­ten sie, Kar­ma Tse­wang wer­de noch schwe­rer bestraft, falls sie ihre Pro­tes­te nicht ein­stell­ten. Am 20. und 21. Dezem­ber wur­den 16 Mön­che fest­ge­nom­men, obwohl sie die Demons­tra­ti­on am 10. Dezem­ber been­det hat­ten. / Am 23. Dezem­ber begab sich Kar­ma Tse­wangs Anwalt nach Chang­du, um sei­nen Man­dan­ten zu besu­chen. Doch die ört­li­che Poli­zei hin­der­te ihn dar­an, den Mönch zu tref­fen. Sicher­heits­kräf­te des Bezirks Nang­qi­an droh­ten den Fami­li­en von Kar­ma Tse­wang und den 16 ande­ren inhaf­tier­ten Mön­chen, sie eben­falls in Haft zu neh­men, wenn sie sich Rechts­bei­stän­de suchen soll­ten. / Kar­ma Tse­wang ist unter Tibe­te­rIn­nen auf­grund sei­ner Arbeit für die För­de­rung der tibe­ti­schen Spra­che und Kul­tur sehr bekannt. Er enga­giert sich zudem in der Kata­stro­phen­hil­fe, bei­spiels­wei­se nach dem Erd­be­ben in Yus­hu in der Pro­vinz Qing­hai im Jah­re 2010, bei dem über 2.000 Men­schen ums Leben kamen.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 19. Febru­ar 2014 hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

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remington

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whis­key : 1.28 — In der ver­gan­ge­nen Nacht träum­te ich von einer Schreib­ma­schi­ne. Die­se Schreib­ma­schi­ne ver­füg­te über ein Band von roter und schwar­zer Far­be sowie über einen Satz Ham­mer­zei­chen, die sich nur dann beweg­ten, wenn ich die Tas­ten mit gro­ßer Kraft in das mecha­ni­sche Getrie­be der Maschi­ne drück­te. Manch­mal, wäh­rend ich notier­te, blie­ben ein­zel­ne der Tas­ten in der Tie­fe hän­gen, als woll­te die Schreib­ma­schi­ne nicht von dem Zei­chen las­sen, das sie gera­de noch auf das Papier gesetzt hat­te. Eine Tas­te nach der ande­ren fiel aus, bis ich nur noch das Zei­chen M bewe­gen konn­te. Ich erin­ne­re mich, in mei­nem wirk­li­chen Leben tat­säch­lich eine Schreib­ma­schi­ne wie die geträum­te Schreib­ma­schi­ne beses­sen zu haben. Sie stand lan­ge Zeit auf mei­nem Schreib­tisch, ich hob sie nur sel­ten an, weil sie schwer gewe­sen war, 10 oder 15 Kilo­gramm. Es war eine Reming­ton mit einem Farb­band, tro­cken wie nami­bi­scher Wüs­ten­sand. Da nie­mand wuss­te, auf wel­chem Wege man an ein fri­sches Farb­band gelan­gen konn­te, erzeug­te die Schreib­ma­schi­ne zeit­le­bens kein sicht­ba­res, aber tast­ba­re Zei­chen, und doch tipp­te ich manch­mal auf der Maschi­ne her­um, als wür­de ich etwas auf­schrei­ben, als wür­de ich üben, laut­lo­se Musik, Ges­ten, stum­me Gedan­ken. In mei­nem Traum der ver­gan­ge­nen Nacht wur­de die Maschi­ne unter mei­nen Hän­den immer klei­ner, bis sie zuletzt ver­schwun­den war. Ich habe dann noch etwas wei­ter geträumt. Ich war in einem U‑Boot unter­wegs. Ich fuhr den Mis­sis­sip­pi auf­wärts. Das Was­ser war dun­kel. Ich beob­ach­te­te leuch­ten­de Rin­der, wie sie auf dem Grund des Flus­ses durch knie­ho­hen Schlamm wate­ten. — stop
polaroidzeichnungen

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eine postkarte

ping
ping
ping

zou­lou : 7.15 — Ges­tern ent­deck­te ich in mei­nem Brief­kas­ten eine Post­kar­te, die von irgend­je­man­dem mit win­zi­gen japa­ni­schen Zei­chen beschrif­tet wor­den war. Zunächst wirk­te der Text wie ein Mus­ter, das sich erst dann zu Schrift­zei­chen auf­lös­te, als ich mei­ne Bril­le aus der Schub­la­de hol­te. Ich konn­te den Text natür­lich nicht lesen. Ich neh­me an, die Post­kar­te wur­de ver­se­hent­lich in mei­nen Brief­kas­ten gewor­fen. Bei genaue­rer Unter­su­chung stell­te ich jedoch fest, dass die Post­kar­te in jedem ande­ren Brief­kas­ten ver­mut­lich gleich­wohl ein ver­se­hent­li­ches Ereig­nis gewe­sen wäre, die Post­kar­te trug näm­lich kei­ne Anschrift an der dafür vor­ge­se­he­nen Stel­le, aber eine Brief­mar­ke des japa­ni­schen Hoheits­ge­bie­tes. Auch auf ihrer Rück­sei­te war kein Adres­sat zu erken­nen. Eine Foto­gra­fie zeigt Samu­el Beckett, der unter einem blü­hen­den Kirsch­baum sitzt, oder einen Mann, der Samu­el Beckett ähn­lich sein könn­te, der Dich­ter im Alter von 160 Jah­ren, er hat sich kaum ver­än­dert. Ein sehr inter­es­san­tes Bild. Auf einem Ast des Bau­mes sind Eich­hörn­chen zu erken­nen, sie­ben oder acht Tie­re, die ihre Augen geschlos­sen hal­ten. Ich erin­ne­re mich, dass ich ein­mal davon hör­te, Men­schen wür­den immer wie­der ein­mal Post­kar­ten notie­ren, oft sehr auf­wen­dig aus­ge­ar­bei­te­te Schrift­stü­cke, um zuletzt die Adres­se des Emp­fän­gers zu ver­ges­sen. Das ist tra­gisch oder viel­leicht eine Metho­de, Infor­ma­ti­on an die Welt zu sen­den, die nie­man­den oder irgend­ei­nen belie­bi­gen Men­schen errei­chen soll. Nun liegt die­se Post­kar­te neben Zimt­ster­nen, Bana­nen und Äpfeln auf mei­nem Küchen­tisch. Zunächst hat­te ich das Wort L i e b e r in die Goog­le – Über­set­zer­ma­schi­ne ein­ge­ge­ben und in die japa­ni­sche Spra­che über­setzt. Zei­chen, die sich auf mei­nem Bild­schirm for­mier­ten, waren mit den ers­ten Zei­chen auf der Post­kar­te iden­tisch. Ich weiß sehr genau, was nun zu tun ist. In die­sem Augen­blick jedoch scheue ich noch davor zurück, mei­nen Namen in die Mas­ke der Such­ma­schi­ne ein­zu­ge­ben. Es ist bald Mor­gen­däm­me­rung, ich höre Tau­ben auf dem Dach spa­zie­ren. — stop

ping

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ai : LAOS

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MENSCH IN GEFAHR: “Auch ein Jahr nach der Ver­schlep­pung von Som­bath Som­pho­ne haben die lao­ti­schen Behör­den immer noch kei­ne umfas­sen­den Ermitt­lun­gen ein­ge­lei­tet, um sein Schick­sal auf­zu­klä­ren. Des­halb besteht Anlass zu gro­ßer Sor­ge um den 62-Jäh­ri­gen. Der zivil­ge­sell­schaft­lich enga­gier­te Akti­vist wur­de vor knapp einem Jahr an einem Kon­troll­punkt der Poli­zei in Vien­ti­a­ne, der Haupt­stadt von Laos, ent­führt. Auf­grund einer chro­ni­schen Erkran­kung ist Som­bath Som­pho­ne auf die täg­li­che Ein­nah­me von Medi­ka­men­ten ange­wie­sen. / Som­bath Som­pho­ne wur­de am Abend des 15. Dezem­ber 2012 an einem Kon­troll­punkt der Poli­zei in Vien­ti­a­ne in Anwe­sen­heit von Sicher­heits­per­so­nal in einem Last­wa­gen ver­schleppt. Seit­her ist gut ein Jahr ver­gan­gen, und bis­lang fehlt von ihm jede Spur. Der bevor­ste­hen­de Jah­res­tag des “Ver­schwin­dens” von Som­bath Som­pho­ne und der Man­gel an umfas­sen­den und unpar­tei­ischen Unter­su­chun­gen in sei­nem Fall geben Anlass zur Sor­ge um das Schick­sal und Wohl­erge­hen des Akti­vis­ten. /Die Ver­schlep­pung von Som­bath Som­pho­ne wur­de mit einer Ver­kehrs­ka­me­ra auf­ge­zeich­net. Sei­ner Fami­lie war es gelun­gen, das Video­ma­te­ri­al zu kopie­ren. Die lao­ti­schen Behör­den behaup­ten, auf den Auf­nah­men sei­en nicht die Kenn­zei­chen der Fahr­zeu­ge zu sehen, mit denen Som­bath Som­pho­ne ver­schleppt wur­de. Die USA, die Euro­päi­sche Uni­on, Mit­glie­der des Ver­bands Süd­ost­asia­ti­scher Natio­nen (ASEAN) sowie die UN-Hoch­kom­mis­sa­rin für Men­schen­rech­te haben die lao­ti­schen Behör­den wie­der­holt dazu auf­ge­for­dert, die Ver­schlep­pung von Som­bath Som­pho­ne drin­gend zu unter­su­chen. Den­noch schei­nen die bis­lang unzu­rei­chen­den Ermitt­lun­gen still­zu­ste­hen. Tech­ni­sche Unter­stüt­zung bei der Aus­wer­tung des Video­ma­te­ri­als haben die Behör­den abge­lehnt. Drei par­la­men­ta­ri­sche Dele­ga­tio­nen, die nach Laos fuh­ren, um den Fall direkt bei den Behör­den vor­zu­brin­gen, sehen kei­ner­lei Anzei­chen dafür, dass die Behör­den bei den Ermitt­lun­gen Fort­schrit­te machen oder dass ech­te Anstren­gun­gen unter­nom­men wer­den, Som­bath Som­pho­ne zu fin­den und mit sei­ner Fami­lie zu ver­ei­nen. Offen­sicht­lich fehlt es an der ernst­haf­ten Absicht, das Schick­sal von Som­bath Som­pho­ne auf­zu­klä­ren. Dies legt nahe, dass die Behör­den ver­su­chen, sei­ne Ver­schlep­pung zu ver­schlei­ern. / Som­bath Som­pho­ne grün­de­te im Jah­re 1996 das Trai­nings­cen­ter für mit­be­stimm­te Ent­wick­lung (Par­ti­ci­pa­to­ry Deve­lo­p­ment Trai­ning Cent­re) zur För­de­rung von Bil­dung, Füh­rungs­qua­li­tä­ten und nach­hal­ti­ger Ent­wick­lung in Laos. 2005 wur­de er mit dem Ramon Mags­ay­say-Preis (Ramon Mags­ay­say Award for Com­mu­ni­ty Lea­der­ship) aus­ge­zeich­net. Er gehör­te zu den Orga­ni­sa­to­ren des Asia-Euro­pe People’s‑Forums, das im Okto­ber 2012 in Vien­ti­a­ne statt­fand. Letz­te­res ist mög­li­cher­wei­se ein Grund für sei­ne Ver­schlep­pung.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 22. Janu­ar 2014 hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

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an martha

pic

tan­go : 12.15 — Im Gespräch mit einer alten Dame über das Ver­ges­sen. Sie sag­te, dass man, wenn man wirk­lich ver­gess­lich wird, die­se Ver­gess­lich­keit nur dann bemerkt, wenn man dar­auf auf­merk­sam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Woh­nung auf­hal­te, kön­ne sie ver­ges­sen, soviel sie wol­le, es wür­de ihr selbst nicht und nie­mand ande­rem auf­fal­len, dass sie eigent­lich einen Film betrach­ten woll­te, aber auf dem Weg zum Fern­seh­ge­rät plötz­lich ein Buch auf dem Tisch ent­deck­te, wes­halb ihr Film­wunsch ver­lo­ren ging. — Lie­be Mar­tha, Du hast ver­säumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzähl­te. Ich sen­de die­sen Text noch ein­mal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vor­le­sen wirst. Hier ist er: Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zim­mer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Pro­gramm­fens­ter geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungs­los in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Pro­gramm­fens­ter öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­ni­en dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­gra­fie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schu­he. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schu­he. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­gra­fen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­gra­fie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zim­mer her, dass das Mit­tag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vor­mit­ta­ges geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss auf­ge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­che­ren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Pro­gramm­fens­ter nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu ent­de­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vor­der­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst ein­ge­schla­fen. — stop

polaroidkolibris

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hummergeschichte

9

alpha : 20.16 — Ich habe ges­tern mit K. gespro­chen. Er erzähl­te, er habe unlängst ver­suchs­wei­se online von Ham­burg aus einen gekoch­ten Hum­mer in Man­hat­tan bestellt. Das Tier kos­te­te 28 Dol­lar, alle not­wen­di­gen Anga­ben waren bald aus­ge­füllt, Name, Adres­se, Kre­dit­kar­ten­num­mer. Es war ein spä­ter Abend gewe­sen. K. erhielt einen Anruf. Er plau­der­te eini­ge Zeit mit einem Freund. Als er an den Com­pu­ter zurück­kehr­te, war sei­ne Maschi­ne ein­ge­schla­fen, sie erwach­te sofort, als er eine Tas­te beweg­te. In die­sem Moment muss es gesche­hen sein. K. berühr­te die wei­ter­hin geöff­ne­te Bestell­form an ent­schei­den­der Stel­le mit sei­ner Mou­se, kurz dar­auf erreich­te ihn per E‑Mail eine Bestä­ti­gung, der Hum­mer sei (Ship­ping) auf dem Weg. Ver­su­che K.’s, die Bestel­lung tele­fo­nisch rück­gän­gig zu machen, schlu­gen fehl, der Betrag von 28 Dol­lar für das Tier plus 25 Dol­lar Trans­port­ge­bühr wur­den von sei­nem Kre­dit­kar­ten­kon­to abge­bucht. Zwei Wochen spä­ter erhielt K. Nach­richt von hie­si­ger Zoll­be­hör­de, eine Sen­dung lie­ge für ihn am Hafen zur Abho­lung bereit. Ein fla­ches Gebäu­de, Import, meh­re­re Schal­ter, Trans­port­bän­der, Beam­te in grü­nen Uni­for­men. Als K. vor Ort erschien, wur­de gera­de eine Per­son, die hef­tig dis­ku­tier­te, in Hand­schel­len abge­führt. K. war­te­te. Nach einer Stun­de wur­de er zu einem Schal­ter geru­fen. Man über­reich­te ihm ein For­mu­lar, dem eine Foto­gra­fie bei­gefügt wor­den war. Das Doku­ment zeig­te ein geöff­ne­tes Paket von Sty­ro­por, dar­in einen Sud, in wel­chem wesent­li­che Tei­le eines Hum­mers schwam­men, Füh­ler, Schwanz, Augen­stie­le, Zan­gen, alles war noch gut zu erken­nen gewe­sen. Hän­de, die in Hand­schu­hen steck­ten, hiel­ten das Paket ins Licht. Auf beglei­ten­dem Schrei­ben wur­den Ver­bren­nungs­kos­ten von 118 EUR für impor­tier­te Son­der­müll­wa­re ange­mahnt. Ein Beam­ter berich­te­te, einer sei­ner Kol­le­gen sei wäh­rend der Öff­nung des Pake­tes umge­fal­len, die­ser habe sich am Kopf ver­letzt, wei­te­re Kos­ten wären denk­bar. – Sonn­tag. stop. Viel­leicht. stop. Guten Abend! — stop
ping

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rooseveltblüte

2

sier­ra

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : ROOSEVELTBLÜTE
date : nov 22 13 8.15 p.m.

Am 22. Novem­ber berich­tet die New York Times über Eich­hörn­chen Fran­kie, das seit Wochen auf dem Hur­ri­ka­ne Deck der Sta­ten Island Fäh­re John F. Ken­ne­dy lebt. Wir konn­ten das nicht auf­hal­ten. Weder den Bericht selbst, noch eine Foto­gra­fie, die das Eich­hörn­chen zeigt, wie es auf einer Sitz­bank nach einem Fin­ger greift. Fran­kie scheint sich auf dem Schiff wohl­zu­füh­len. Viel­leicht ist es die Wär­me, viel­leicht sind es die Bewe­gun­gen der Fäh­re auf dem Meer, die ihm gefal­len. Natür­lich ist er längst zur Attrak­ti­on gewor­den, zum Stadt­ge­spräch, wird foto­gra­fiert und mit fri­schen Erd­nüs­sen ver­sorgt. Seit eini­gen Tagen nimmt Fran­kie gleich­wohl Bana­nen zu sich, zutrau­lich wagt er sich nah an die Pas­sa­gie­re der Fäh­re her­an, greift mit sei­nen Hän­den nach den Früch­ten, ver­mag sie zu öff­nen, duckt sich, has­tet mit sei­ner Beu­te je unter eine der Sitz­bän­ke, wes­halb zahl­rei­che Pas­sa­gie­re nie­der­knien, um Fran­kie nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. Ges­tern beob­ach­te­ten wir, wie ein Mäd­chen Fran­kie berüh­ren durf­te. Er zit­ter­te leicht, als das Kind mit einer Hand über sei­nen Rücken fuhr. Das Mäd­chen bemerk­te Fran­kies Sen­der, der dicht unter sei­ner Haut ver­bor­gen liegt, rasch zog es sei­ne Hand zurück. Es ist beun­ru­hi­gend, welch gro­ße Auf­merk­sam­keit Fran­kie genießt. Wir haben den Ein­druck, man­che der Pas­sa­gie­re fah­ren nur des­halb mit der Fäh­re, um Fran­kie besich­ti­gen zu kön­nen. Kaum noch kom­men wir an ihn her­an, ohne selbst foto­gra­fiert zu wer­den. Heu­te ist es sehr win­dig. Brook­lyn und New Jer­sey lie­gen im Nebel. Man könn­te glau­ben, dass wir uns auf hoher See befin­den. Die Schei­ben des Schif­fes schep­pern. Was­ser peitscht über die Vor­decks der Fäh­re. Men­schen mit Foto­ap­pa­ra­ten ste­hen im Wind und suchen nach Man­hat­tan. Etwas see­krank sen­de ich aller­bes­te Grü­ße aus New York – Mal­colm / code­wort : rooseveltblüte

emp­fan­gen am
23.11.2013
1855 zeichen

mal­colm to louis »

polaroidbadende

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PRÄPARIERSAAL : tonspule

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sier­ra : 2.36 — Ton­spu­le 68. Micha­el erzählt: > Ich beob­ach­te, dass ich mei­nen leben­di­gen Kör­per mit dem toten Gewe­be vor mir auf dem Tisch ver­glei­che. Ich lege Ner­ven, Mus­keln und Gefä­ße einer Hand frei, bestau­ne die Fein­heit der Gestal­tung, über­le­ge wie exakt das Zusam­men­spiel die­ser ana­to­mi­schen Struk­tu­ren doch funk­tio­nie­ren muss, damit ein Mensch Kla­vier spie­len, grei­fen, einen ande­ren Men­schen strei­cheln kann, wie umfas­send die Inner­va­ti­on der Haut, um Wär­me, Käl­te, ver­schie­de­ne Ober­flä­chen erfüh­len, ertas­ten zu kön­nen. Immer wie­der pen­delt mein Blick zwi­schen mei­ner leben­di­gen und der toten Hand hin und her. Ich bewe­ge mei­ne Fin­ger, ein­mal schnell, dann wie­der lang­sam, ich schrei­be, ich notie­re, was ich zu ler­nen habe, bis zur nächs­ten Prü­fung am Tisch, und beob­ach­te mich in die­sen Momen­ten des Schrei­bens. Abends tref­fen wir uns in der Biblio­thek hier gleich um die Ecke und ler­nen gemein­sam. Vor allem vor den Testa­ten wer­den die Näch­te lang. Ich kann zum Glück gut schla­fen. Unse­re Assis­ten­tin ist eine jun­ge Ärz­tin, die noch nicht ver­ges­sen hat, wie es für sie selbst gewe­sen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freund­lich zu uns. Aber natür­lich ach­tet sie streng auf die Ein­hal­tung der Regeln, kein Han­dy, kein Kau­gum­mi im Mund, ange­mes­se­ne Klei­dung. Manch­mal ver­sam­melt sie uns und wir pro­ben am Tisch ste­hend das nahen­de Tes­tat, es gibt eigent­lich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt wer­den, das erhöht natür­lich unse­re Auf­merk­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on enorm. Ein­mal erzähl­te sie uns eine Geschich­te, die mich sehr berühr­te. Sie sag­te, ihre Mut­ter sei sehr stolz, dass sie eine Ärz­tin gewor­den ist. Sie habe ihr ein­ge­schärft: Was Du gelernt hast, kann Dir nie­mand mehr neh­men. Aber natür­lich, als wir die fei­nen Blut­ge­fä­ße betrach­te­ten, die unser Gehirn mit Sau­er­stoff ver­sor­gen, wur­de mir bewusst, dass wir doch auch zer­brech­lich sind, dass unser Leben sehr plötz­lich zu Ende gehen kann. Der­zeit will ich dar­an aber nicht den­ken. Ich bin froh hier sein zu dür­fen, ich habe lan­ge dar­auf gewar­tet. Manch­mal gehe ich durch den Saal spa­zie­ren. Wenn ich Lun­gen­flü­gel betrach­te, oder Her­zen, oder Kehl­köp­fe, Lage und Ver­lauf ein­zel­ner Struk­tu­ren, dann erken­ne ich, dass im All­ge­mei­nen alles das, was in dem einen Kör­per anzu­tref­fen ist, auch in dem ande­ren ent­deckt wer­den wird, kein Kör­per jedoch ist genau wie der ande­re, damit wer­de ich in Zukunft zu jeder­zeit rech­nen. — stop
polaroidfähre

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marlen

2

sier­ra

~ : oe som
to : louis
sub­ject : MARLEN
date : nov 03 13 8.15 p.m.

Zum ers­ten Mal in die­sem Herbst ist Schnee gefal­len. Hel­les Licht am Nach­mit­tag, aber die Son­ne war nicht zu sehen gewe­sen. Wol­ken, fei­nes Gewe­be, berühr­ten das Was­ser, als sie sich lös­ten, begann es zu schnei­en. – Ver­gan­ge­ne Woche ist Mar­len an Bord gekom­men. Sie wird sich Noe kom­men­de Woche in einem schwe­ren Tau­cher­an­zug nähern. Wir haben dar­über gespro­chen, ob sie nicht eini­ge Tage in der Tie­fe blei­ben soll­te, ein Gespräch füh­ren Auge in Auge. Sie scheint sich zu fürch­ten vor der Enge, die sie erwar­tet, eine fröh­li­che, jun­ge Frau. Sie ver­bringt vie­le Stun­den Zeit damit, das Was­ser zu beob­ach­ten, das fast ohne Bewe­gung zu sein scheint. Aber es ist eine star­ke Strö­mung auf­ge­kom­men, wir haben zwei Moto­ren ange­wor­fen, um unse­re Posi­ti­on hal­ten zu kön­nen, das Schiff bebt. Noe berich­tet, dass er uns in der Tie­fe hören kön­ne. Noch weiß er nicht, dass er bald Besuch bekom­men wird. Er liest in die­sen Tagen Wal­ter Ben­ja­mins Geschich­ten einer Ber­li­ner Kind­heit, sehr lang­sam. Dann wie­der, nach Pau­se, Noe’s Selbst­ge­spräch: Lan­ge Zei­ten ohne einen Gedan­ken ohne einen Wunsch ohne eine Erin­ne­rung. Der Blick ins Was­ser. Zar­te Fin­ger von Licht. Höre das Geräusch der Luft. Wünsch­te, ich hät­te eine Uhr. — Ahoi, lie­ber Lou­is, DEIN OE SOM – stop

gesen­det am
3.11.2013
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oe som to louis »

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