Aus der Wörtersammlung: bildschirm

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winter

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oli­mam­bo : 5.10 — Es ist sehr lan­ge her, war noch Win­ter gewe­sen, als ich Mut­ter beob­ach­te­te, wie sie im Ses­sel vor Vaters Schreib­tisch kau­er­te. Sie hat­te sich getraut und sei­nen Com­pu­ter ange­schal­tet. Ja, Vaters Com­pu­ter lässt sich noch immer betrei­ben. Obwohl ich nicht damit gerech­net habe, dass mit dem Tod eines Men­schen auch die Exis­tenz sei­ner Uhren und Schreib­bild­ma­schi­nen enden wür­de, wun­de­re ich mich, wenn ich Vaters lei­se ticken­de Uhr an mei­nem lin­ken Arm betrach­te. Und das sum­men­de Geräusch sei­nes Com­pu­ters, er macht ein­fach wei­ter. Man stel­le sich ein­mal vor, es wäre anders­her­um, mit dem Ver­sa­gen der Com­pu­ter wür­de auch das Leben ihrer Besit­zer enden. Das wäre selt­sam und sehr gefähr­lich in unse­rer Zeit. Aber es ist denk­bar, dass ein­mal Com­pu­ter exis­tie­ren wer­den, die drei­hun­dert Jah­re alt wer­den oder noch älter, ohne dass ihnen das Licht aus­ge­hen wür­de. Kurz­um, Mut­ter saß vor dem Schreib­tisch. Immer, wenn ich sie so sehe, bemer­ke ich, wie klein sie gewor­den ist, ohne dass ich selbst grö­ßer gewor­den wäre. Sie saß weit nach vorn gebeugt. Ich beob­ach­te­te ihre Hän­de, die ver­such­ten, den Zei­ger auf dem Bild­schirm in nächs­ter Nähe zu bän­di­gen. Ihr Gesicht berühr­te bei­na­he den Bild­schirm. Und als ich sie frag­te, war­um sie so selt­sam dasit­zen wür­de, sag­te sie, dass sie die Buch­sta­ben mei­ner Par­tic­les — Arbeit nur in die­ser Wei­se lesen kön­ne, sie sei­en viel zu klein und sie habe ver­ges­sen, wie man die Buch­sta­ben ver­grö­ßern kön­ne. Des­halb sind die Buch­sta­ben mei­ner Par­tic­les — Arbeit grund­sätz­lich gewach­sen und wir sind jetzt sehr zufrie­den, weil wir wis­sen, dass die Grö­ße der Buch­sta­ben auf Bild­schir­men mani­pu­liert wer­den kann. — Weit nach Mit­ter­nacht. Der Him­mel tropft und die Bäu­me und Dach­rin­nen und Vögel. Gegen drei Uhr hat­te ich, wie aus hei­te­rem Him­mel, Lust auf gebra­te­ne Wach­teln, war­um? — stop

ping

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mr. charles brown

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sier­ra : 6.28 — Mit­ten in der Nacht ent­de­cke ich, dass Charles Brown tat­säch­lich exis­tier­te. Er war Eng­län­der gewe­sen, sam­mel­te Uhren und trug die­se Uhren am eige­nen Kör­per. Nicht etwa eine Uhr nach der ande­ren Uhr, wie man mei­nen möch­te, viel­mehr eini­ge Uhren oder sehr vie­le Uhren zur glei­chen Zeit. Ich bin natür­lich äußerst begeis­tert, öff­ne zunächst das Fens­ter, lass fri­sche Luft in die Woh­nung, keh­re vor den Bild­schirm zurück, er ist immer doch da, Mr. Charles Brown oder ein Mann, der vor­gab, Mr. Charles Brown gewe­sen zu sein, ein Mann, der Uhren sam­mel­te, der Uhren beob­ach­te­te. Er soll Uhren an sei­nen Fin­gern getra­gen haben, Uhren am Revers, Uhren in der Gestalt von Man­schet­ten­knöp­fen. Ich stel­le mir vor, dass ein fei­nes Zeit­rau­schen von ihm aus­ge­gan­gen sein muss. Ist es nicht wun­der­bar, stun­den­lang an ein Geräusch wie die­ses Rau­schen der Zeit zu den­ken? — 3 Uhr und 10 Minu­ten. Ich habe heu­te nichts wei­ter zu tun, als wach zu blei­ben, bis es hell wer­den wird. — stop / ps. Bemerkt zunächst bei Peter Glaser

 ping

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i love you

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romeo : 15.18 — Am See im Pal­men­gar­ten. Ers­te mil­de Stun­den. Abend­seg­ler jagen durch die Däm­me­rung. Für einen Moment der Ein­druck, es könn­te sich bei den Schat­ten der Flie­gen­jä­ger um klei­ne, spie­len­de Engel han­deln. Auf der Bank neben mir ruht mein Film­te­le­fon, soeben erscheint der Feu­er­ball einer deto­nie­ren­den Bom­be in der Stadt Bos­ton nahe einer Mara­thon­stre­cke. Wenn ich den Kanal wech­se­le, Skate­board­fah­rer, die über Haus­dä­cher sprin­gen auf der Insel San­to­rin, ein Mäd­chen mit Zahn­span­ge träl­lert: I love you, i love you! Bald dunk­le Rauch­pil­ze über der Stadt Alep­po. Auf einer Stra­ße liegt der Kör­per einer Frau, der sich noch bewegt, obwohl sie unbe­dingt tot sein müss­te, so furcht­bar die Ver­let­zun­gen, die ihr zuge­fügt wor­den sind. Ich spie­le den Film immer wie­der ab, war­um? Als es dun­kel wird über dem Was­ser, Stil­le. Man hört in der Licht­lo­sig­keit nichts vom Jagen der Tie­re, wenn man sie nicht sieht. Weni­ge Stun­den spä­ter wird Wla­di­mir Putin sagen, bei dem Anschlag in Bos­ton han­de­le es sich um ein bar­ba­ri­sches Ver­bre­chen. — stop

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lissabon

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sier­ra : 6.52 — Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zim­mer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Pro­gramm­fens­ter geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungs­los in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Pro­gramm­fens­ter öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­ni­en dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­gra­fie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schu­he. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schu­he. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­gra­fen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­gra­fie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zim­mer her, dass das Mit­tag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vor­mit­ta­ges geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss auf­ge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­che­ren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Pro­gramm­fens­ter nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu ent­de­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vor­der­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst ein­ge­schla­fen. — stop

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daniel pearl

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nord­pol : 6.22 — In weni­gen Tagen wer­de ich die Woh­nung, in der ich lan­ge Zeit leb­te, ver­las­sen, um in eine ande­re, grö­ße­re Woh­nung zu zie­hen. Es wird eine Woh­nung unter dem Dach sein, ver­mut­lich wer­de ich Tau­ben hören, wie sie über mir plau­dernd spa­zie­ren. Ich habe erfah­ren, dass Tau­ben­paa­re auch nachts mit­ein­an­der spre­chen, wäh­rend ande­re Vögel still oder stumm zu sein schei­nen. Aber viel­leicht zwit­schern die­se Vögel, die nicht Tau­ben sind, doch, wenn sie träu­men. Es ist selt­sam, wie ein Frem­der füh­le ich mich nach und nach, wenn ich mich in mei­ner eige­nen Woh­nung bewe­ge. Ich über­leg­te, wer in weni­gen Wochen hier von einem Zim­mer in ein ande­res Zim­mer lau­fen wird. Die­ser Mensch oder die­se Men­schen wer­den zunächst kei­ne Ahnung haben, kei­ne Vor­stel­lung, sagen wir, wer vor ihnen in die­sen Räu­men wohn­te. Es ist denk­bar, dass sie viel­leicht mei­ne Nach­barn fra­gen wer­den. Ich könn­te eine Foto­gra­fie mit mei­nem Namen und einer Bot­schaft hin­ter­las­sen: Hal­lo, hier wohn­te Lou­is, hier an die­ser Stel­le stand mein Schreib­tisch, hier habe ich Tex­te notiert. In einem Win­ter vor lan­ger Zeit, ich ahn­te nicht, dass ich die­se mei­ne Woh­nung ein­mal auf­ge­ben wür­de, hat­te ich die Zeit ver­ges­sen. Ich schrieb Fol­gen­des: Was haben wir heu­te eigent­lich für einen Tag, Sonn­tag viel­leicht, oder Mon­tag? Abend jeden­falls, einen schwie­ri­gen Abend. Wür­de ich aus mei­ner Haut fah­ren, sagen wir, oder mit einem Auge mei­nen Kör­per ver­las­sen und etwas in der Zeit zurück­rei­sen, dann könn­te ich mich selbst beob­ach­ten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, wäh­rend er Tee zube­rei­tet, er sagt: Heu­te machen wir das, heu­te ist es rich­tig. Ein Bün­del von Melis­se zieht durchs hei­ße, sam­tig flim­mern­de Was­ser. Jetzt trägt er sei­ne damp­fen­de Tas­se durch den Flur ins Arbeits­zim­mer, schal­tet den Bild­schirm an, sitzt auf einem Gar­ten­stuhl vor dem Schreib­tisch und arbei­tet sich durch elek­tri­sche Ord­ner in die Tie­fe. Dann steht der Mann, er steht zwei Meter vom Bild­schirm ent­fernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürch­tet. Da ist eine Stim­me. Eine schril­le Stim­me spricht schep­pernd Sät­ze in ara­bi­scher Spra­che, uner­träg­lich die­se Töne, sodass der Mann vor dem Schreib­tisch einen Schritt zurück­tritt. Er scheint sich zur Betrach­tung zu zwin­gen. Zwei Fin­ger der rech­ten Hand bil­den einen Ring. Er hält ihn vor sein lin­kes Auge, das ande­re Auge geschlos­sen, und sieht hin­durch. So ver­harrt er, leicht vor­ge­beugt, bewe­gungs­los, zwei Minu­ten, drei Minu­ten. Ein­mal ist sein Atmen hef­tig zu hören. Kurz dar­auf steht er wie­der in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühl­schrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unru­he, die lan­ge Zeit in die­ser Hef­tig­keit nicht wahr­zu­neh­men gewe­sen war. Ein Mensch, Dani­el Pearl, wur­de zur Ansicht getö­tet. – Was machen wir jetzt? - stop

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sarajevo

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gink­go : 6.38 — Ich habe die­se Geschich­te ges­tern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand ande­res als ich selbst erzählt haben wür­de, hät­te ich sie viel­leicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig ver­rückt ist. Die Geschich­te beginnt damit, dass ich in einem Café sit­ze und auf einen jun­gen Mann war­te, der mir etwas erzäh­len will. Ich bin früh­zei­tig gekom­men, bestel­le einen Cap­puc­ci­no und schal­te mein klei­nes Hand­ki­no an, beob­ach­te eine Doku­men­ta­ti­on der Arbeit Maceo Par­kers in New York, mit­rei­ßen­de Musik, soeben umarmt die Sän­ge­rin Kym Mazel­le den Posau­nis­ten Fred Wes­ley, als der jun­ge Mann, den ich erwar­te­te, plötz­lich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den klei­nen Bild­schirm. Sofort kom­men wir ins Gespräch. Ich fra­ge ihn, wel­che Musik er gehört habe, als Kind in der bela­ger­ten Stadt Sara­je­vo. Jeden­falls nicht sol­che Musik, ant­wor­tet er, und lacht, no Funk, wir hat­ten kei­nen Strom. Avi ist heu­te Anfang drei­ßig, dass er noch lebt ist ein Wun­der. Tat­säch­lich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sara­je­vo erzählt. Ein­mal frag­te ich ihn, was er emp­fun­den habe, als er von Karad­zics Ver­haf­tung hör­te. Anstatt zu ant­wor­ten, perl­te in Sekun­den­schnel­le Schweiß von Avis Stirn. Heu­te schwitzt er schon, ehe er über­haupt zu erzäh­len beginnt, weil er weiß, dass er gleich wie­der berich­ten wird von den Stra­ßen sei­ner Hei­mat­stadt, die nicht mehr pas­sier­bar waren, weil Scharf­schüt­zen sie ins Visier genom­men hat­ten. Man schleu­der­te Papie­re, Ziga­ret­ten, Bro­te, Was­ser­fla­schen in Kör­ben von einer Sei­te der Stra­ße zu ande­ren. Die­se Kör­be wur­den nicht beschos­sen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein klei­ner Jun­ge. Er war so klein, dass er nicht ver­ste­hen konn­te, was mit ihm und um ihn her­um geschah, auch dass ein Holz­split­ter sein lin­kes Auge so schwer ver­letz­te, dass er jetzt ein Glas­au­ge tra­gen muss, das so gut gestal­tet ist, dass man schon genau hin­se­hen muss, um sein künst­li­ches Wesen zu erken­nen. Er sagt, er könn­te, wenn ich möch­te, das Auge für mich her­aus­neh­men. Aber das will ich nicht. Ich erzäh­le ihm, dass ich damals, als er klein gewe­sen war, jeden Abend Bil­der aus Sara­je­vo im Fern­se­hen beob­ach­tet habe. Was das für Bil­der gewe­sen sei­en, will Avi wis­sen. Ich sage: Das waren Bil­der, die ren­nen­de Men­schen zeig­ten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fern­se­hen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und über­all pas­sier­te. Und die­se Geräu­sche. Plötz­lich nimmt der jun­ge Mann mein klei­nes Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopf­hö­rer in sei­ne Ohren ein, hört Maceo Par­ker, Kim Macel­le, Fred Wes­ley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhyth­mus der Musik mit dem Kopf. Ein Wis­pern. — stop

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lufträume

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bamako : 6.30 — Der Stuhl mei­nes Vaters im Zim­mer vor den Bäu­men. Sobald ich mich set­ze, spü­re ich sei­ne Gegen­wart, als wäre er gera­de erst auf­ge­stan­den, um kurz in ein ande­res Zim­mer zu gehen. Genau die­ser Ort, ja, die­ser Raum, so vie­le Jah­re, so vie­le Stun­den lang hat­te mein Vater an die­ser Stel­le ver­bracht, dass er nur sehr lang­sam wei­chen kann in der Wahr­neh­mung sei­nes Soh­nes. Da ist sei­ne Schub­la­de, sein Licht­mess­ge­rät, sein Brief­öff­ner, sein Radier­gum­mi, sein Blei­stift, sei­ne Lupe, sein Foto­ap­pa­rat. Und das hier ist sei­ne Aus­sicht auf den win­ter­li­chen Gar­ten, auf den Com­pu­ter­bild­schirm, auf die Tas­ta­tur sei­ner Schreib­ma­schi­ne, auf sei­ne Lam­pe, die noch immer war­mes Licht ins Zim­mer sen­det, Licht, das mein Vater sich wünsch­te. Es ist eine selt­sa­me Erfah­rung, dass sich mit den Spu­ren eines Men­schen spür­ba­re Gegen­wart ver­bin­det. Das Geräusch einer Zei­tung, die raschelt. Eine Tür, die sich öff­net. Vor weni­gen Tagen noch hör­te ich mei­ne Mut­ter davon erzäh­len, wie sehr ihr mein Vater feh­le. Und weil die Wor­te nicht aus­reich­ten, die­ses Feh­len zu beschrei­ben, mach­te sie eine seh­nen­de Ges­te, als wür­de sie einen unsicht­ba­ren Mann umar­men, einen Raum, der nur noch Erin­ne­rung ist, einen Raum, der weder mit Hän­den noch Lip­pen berührt wer­den kann. — stop
polaroidunterwasserblume

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josephine auf dem bildschirm

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echo : 15.07 — Ges­tern Abend habe ich zum ers­ten Mal mit Jose­phi­ne, einer alten Dame, die in Brook­lyn wohnt, ein Gespräch über Sky­pe geführt. Ich weiß nicht genau, wie lan­ge Zeit ich benö­tig­te, sie davon zu über­zeu­gen, dass das Tele­fo­nie­ren mit­tels eines Com­pu­ters nicht gefähr­lich sei, viel­mehr ange­nehm, weil man ein­an­der sehen kön­ne, wenn­gleich etwas in der Zeit ver­zö­gert. Ich glau­be, es waren Mona­te gewe­sen. Ich muss­te ihr zuletzt hoch und hei­lig ver­spre­chen, kei­ne Foto­gra­fien von ihrem Abbild zu machen, oder nur dann, wenn sie mir das Foto­gra­fie­ren aus­drück­lich gestat­ten wür­de. — Frü­her Nach­mit­tag in Brook­lyn, die Son­ne schien noch, genau die Son­ne, die bei mir längst unter­ge­gan­gen war. Jose­phi­ne hat­te eine Lese­bril­le auf­ge­setzt, ihr rotes Haar schim­mer­te im hel­len Licht, das von den Fens­tern her auf sie fiel. Aber das Zim­mer, in dem sie saß, lag im Schat­ten. Ich konn­te eine Lam­pe erken­nen, die neben jenem Schreib­tisch stand, vor dem Jose­phi­ne Platz genom­men hat­te, um genau in die­sem Moment mein Gesicht auf einem Bild­schirm zu betrach­ten. Wir waren uns schon ein­mal per­sön­lich begeg­net, aber nicht in die­ser Wei­se, ich konn­te sehen, dass sie sich geschminkt hat­te und ein wenig ner­vös war, ver­mut­lich des­halb, weil sie nicht wie üblich im Gespräch mit ihrem Tele­fon auf und ab lau­fen konn­te. Wie geht es Ihnen, erkun­dig­te sie sich. Ich ant­wor­te­te, dass es mir gut gehen wür­de, eine leich­te Erkäl­tung viel­leicht, nichts Erns­tes. Es soll kalt wer­den in den kom­men­den Tagen, sag­te Jose­phi­ne. Sie sprach lang­sam, über­legt, wie immer, wenn sie in deut­scher Spra­che for­mu­lier­te, und sie lach­te und stand kurz dar­auf vor dem Com­pu­ter auf, sodass sie für mich unsicht­bar wur­de. Sie frag­te, ob ich sie noch hören kön­ne, das Bild, das ich auf dem Schirm mei­nes Com­pu­ters sehen konn­te, wackel­te jetzt, weil sich der Com­pu­ter der alten Dame selbst zu bewe­gen schien. Tat­säch­lich hat­te sie ihr Net­book vom Tisch geho­ben und war mit ihm zum Fens­ter gelau­fen, hat­te die klei­ne Maschi­ne auf das Fens­ter­sims gestellt, sodass ich einen Aus­blick hat­te auf die Brook­lyn Heights Pro­me­na­de, auf das duns­ti­ge Meer, es war ein wun­der­ba­rer Moment gewe­sen. Ich konn­te Men­schen erken­nen, die unter Regen­schir­men spa­zier­ten, es schien win­dig zu sein, Kin­der spiel­ten im Gar­ten des Hau­ses, unter des­sen Dach Jose­phi­ne seit Jahr­zehn­ten lebt, Laub wir­bel­te her­um, ein paar Läu­fer kreuz­ten durch das Bild, am Pier 5 anker­ten zwei Schlep­per. Es war ein bei­na­he ver­trau­ter Aus­blick gewe­sen. Und wie­der wackel­te das Bild und das Meer ver­schwand und Jose­phi­ne wur­de erneut sicht­bar. Kön­nen Sie mich sehen, woll­te sie wis­sen, kön­nen Sie mich wirk­lich sehen? — stop

jose­phi­ne

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die schrift meines vaters

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nord­pol : 7.05 — Dass mein Vater älter wur­de und müde, war sei­ner Schrift deut­lich anzu­se­hen. Die Buch­sta­ben wur­den klei­ner, man­che stan­den senk­recht, ande­re neig­ten sich einer unsicht­ba­ren Linie zu, auf der sie sich wort­wei­se vor­wärts beweg­ten. Ich könn­te sagen, die Schrift mei­nes Vaters wirk­te so, als wäre ein Sturm seit­wärts über sie hin­weg­ge­fah­ren, zer­zaust, und doch waren alle not­wen­di­gen Buch­sta­ben für jedes der Wör­ter, die mein Vater geschrie­ben hat­te, gesetzt. Er notier­te zuletzt ger­ne mit­hil­fe der Tas­ta­tur sei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne, das war nicht so anstren­gend, er ver­moch­te die Grö­ße der Zei­chen zu vari­ie­ren, sodass er sehen konn­te, was er gera­de auf den Bild­schirm brach­te. Ein­mal muss­te mein Vater einen Brief unter­zeich­nen, es war ein Okto­ber­tag, mein Vater war­te­te lan­ge Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruh­te, hielt den Stift, den man ihm gereicht hat­te, in der Hand, betrach­te­te die­sen Stift, dreh­te ihn zwi­schen den Fin­gern, er zöger­te den Moment hin­aus, da er mit der Auf­zeich­nung sei­nes Namens begin­nen wür­de. In die­sem Moment ahn­te ich, dass mein Vater sei­nen Namen malen wür­de, dass sei­ne nicht bewuss­te Signa­tur, die ein Leben lang gül­tig gewe­sen war, nicht län­ger zu exis­tie­ren schien, oder dass er unter den Augen eines Beob­ach­ters sich nicht län­ger trau­te, sei­ne urei­ge­ne Signa­tur aus­zu­füh­ren. Ja, mein Vater fürch­te­te sich, weil der Wind der ver­ge­hen­den Zeit sei­ne Schrift erfass­te. Sie war ein­mal eine akku­ra­te Schrift gewe­sen, eine Schrift wie gedruckt, sie notier­te kom­pli­zier­te mathe­ma­ti­sche For­meln, ohne je ihre Fas­sung auf den Papie­ren zu ver­lie­ren. Als Jun­ge beschloss ich, die­se Geheim­schrift der Zah­len und Wör­ter zu ent­schlüs­seln, bis sie noch vor mei­nem Vater selbst zu ver­schwin­den begann. Zurück­ge­blie­ben sind nun sei­ne Stif­te in einer Schub­la­de: Kugel­schrei­ber, Füll­fe­der­hal­ter, Blei­stif­te, Bunt­stif­te, auch ein Werk­zeug, mit dem man in wei­ßer Far­be notie­ren kann, viel­leicht um zu kor­ri­gie­ren, viel­leicht um Nicht­sicht­ba­res auf das Papier zu set­zen. — stop

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anton voyls fortgang

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del­ta

~ : oe som
to : louis
sub­ject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.

Es ist gekom­men, wie ich es erwar­tet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm Geor­ge Perecs Roman Anton Voyls Fort­gang in die Tie­fe geschickt. Es han­delt sich in unse­rer Ver­suchs­an­ord­nung um das Unter­was­ser­buch No 282, ein Buch, in dem der Buch­sta­be E auf 320 Sei­ten nicht erschei­nen wird. Kurz nach­dem Noe sei­ne Lek­tü­re mit fes­ter Stim­me auf­ge­nom­men hat­te, ver­such­ten wir vor­her­zu­se­hen, wie lan­ge Zeit Noe lesen wür­de, ehe er das voll­stän­di­ge Feh­len eines bedeu­ten­den Buch­sta­bens im Text bemerkt haben wür­de. Er las etwa 10 Minu­ten, dann hör­te er auf, sei­ne Stim­me wur­de zunächst lei­ser, er dehn­te die Wor­te, sag­te, dass ihm etwas merk­wür­dig vor­kom­men wür­de, er kön­ne bis­her nicht sagen, was genau ihm merk­wür­dig erschei­ne, er müs­se nach­den­ken. Wir sit­zen jetzt alle vor den Laut­spre­chern und Bild­schir­men und war­ten. Im Schein der Lam­pe, die Noe und das Buch, das er in sei­nen schwe­ren Hän­den hält, beleuch­tet, sehen wir, dass er sich lang­sam bewegt. Er scheint im Buch zu blät­tern. Er scheint über­haupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Mee­res­tie­fe von 820 Fuß schwe­bend, ein guter Beob­ach­ter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Däm­me­rung, wenn Tag gewor­den ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besu­chen. Ich neh­me an, Noe wird oft an uns den­ken. Er hört uns zu, hört, was wir spre­chen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir ver­ges­sen haben, das Mikro­fon aus­zu­schal­ten. An der Art und Wei­se wie wir atmen, ver­mag Noe zu unter­schei­den, ob Lin, Eric, Mar­tin, Tom, Lil­ly oder ich vor dem Mikro­fon Platz genom­men haben. Gera­de eben beginnt er wie­der zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurück­ge­kehrt zu sein: In Roca­ma­dour gabs Mund­raub sogar am Tag: man fand dort Thun­fisch, Milch und Scho­ko­bon­bons im Kilo­pack. Und wie­der schweigt Noe. Es ist spä­ter Abend. Sams­tag. Ein Fracht­schiff, hell beleuch­tet, lun­gert am Hori­zont. Ahoi, lie­ber Lou­is. Dein OE SOM

gesen­det am
10.11.2012
1856 zeichen

oe som to louis »

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