Aus der Wörtersammlung: café

///

beckett

9

char­lie : 6.32 UTC — In dem klei­nen Café, das den Namen Saha­ra trägt, wird Men­schen, die am Flug­ha­fen arbei­ten, Rabatt gewährt. Iclal ist müde, sie kommt gera­de von der Arbeit. Außer­dem schneit es in einer Wei­se, als wäre Win­ter. Sie zieht ihren Man­tel aus und die Hand­schu­he, legt sie auf den Tisch vor sich hin und sagt: Ich will über die Abstim­mung in der Tür­kei nicht spre­chen. Spre­chen wir über mei­ne nächs­te Rei­se, ich weiß nicht, wohin ich rei­sen soll, ich bin seit ich den­ken kann, immer in die Tür­kei gereist, die­ses Mal wer­de ich nicht in die Tür­kei rei­sen. — Ist es zu gefähr­lich, fra­ge ich. — Nein, ant­wor­tet Iclal, es ist nicht gefähr­lich für mich, ich will nicht. Wohin könn­te ich nur rei­sen im Som­mer? — Ich sage: Vene­dig ist schön, aber eher im spä­ten Herbst, viel­leicht magst Du in die Ber­ge gehen, Du könn­test auf einer Hüt­te im Kar­wen­del­ge­bir­ge woh­nen und wan­dern, das ist ganz wun­der­bar dort. In die­sem Moment ent­de­cke ich einen Schrift­zug von wei­ßer Far­be, der Iclal’s rosa­far­be­nes T‑Shirt bedeckt: Ever tried. Ever fai­led. No mat­ter. Try Again. Fail again. Fail bet­ter. Das sind wun­der­ba­re Wor­te, sage ich, Samu­el Beckett hat sie geschrie­ben. — Ja, wirk­lich, ant­wor­tet Iclal, wer ist das? Sie sieht an sich her­ab. Ich habe nicht dar­auf geach­tet, was da steht, das ist Eng­lisch, ich kann kein Eng­lisch, was steht da, das Beckett geschrie­ben hat? — Ich über­le­ge, wie ich Becketts Sät­ze kor­rekt über­set­zen könn­te. Ich über­le­ge lan­ge. Das ist offen­sicht­lich schwie­rig, sagt Iclal. Nein, sage ich, das ist Poe­sie, da muss man sehr behut­sam mit den Wör­tern umge­hen, man muss sehr genau sein. Kurz dar­auf wer­de ich mit mei­ner Über­set­zung fer­tig. Iclal hört zu. Iclal beginnt zu lachen. Bald bekommt sie kaum noch Luft wie so lacht, und ich dach­te noch, wie ger­ne ich ihr Lachen in die­sem Moment auf Ton­band auf­ge­nom­men hät­te — stop

///

amsterdam

9

hima­la­ya : 15.16 UTC — Vor weni­gen Wochen erwar­te­te ich in einem Café an der Zen­tral­sta­di­on die Ankunft eines Zuges aus Ams­ter­dam. Um die Zeit zu ver­trei­ben, such­te ich in den Archi­ven mei­ner Schreib­ma­schi­ne nach einem Bild, an das ich mich aus irgend­ei­nem Grund erin­nert hat­te. Ich wuss­te noch, dass die­ses erin­ner­te Bild im eigent­li­chen Sin­ne kein Bild ist, unbe­weg­lich, son­dern eine Grup­pe von Foto­gra­fien, die in vor­be­stimm­ter Rei­hen­fol­ge rhyth­misch zur Auf­füh­rung kom­men. Es han­delt sich in etwa um eine Serie gefan­ge­ner Bil­der, die einen oder vier Män­ner zei­gen, der oder die sich in akro­ba­ti­scher Wei­se durch vier Zim­mer eines Hau­ses bewe­gen. Kurz nach­dem ich das ani­mier­te Bild gefun­den hat­te, schau­te mir ein Mäd­chen von viel­leicht sechs Jah­ren neu­gie­rig über die Schul­ter. Sie sag­te: Das ist aber lus­tig! — Fin­dest Du, frag­te ich zurück. Das ist doch aber sehr anstren­gend, was die Män­ner da tun! — Das Mäd­chen schau­te mich an und ver­dreh­te die Augen: Die Män­ner sind nicht echt. — stop


///

nach darjeeling

9

papa : 12.15 UTC — Ich habe zur Stun­de eine Fra­ge, die zu beant­wor­ten ver­mut­lich nicht  leicht sein wird. In weni­gen Minu­ten wer­de ich näm­lich für einen alten Freund eine Schreib­ma­schi­ne erwer­ben, eine mecha­ni­sche Rei­se­schreib­ma­schi­ne des Typs Olym­pia Sple­ndid 66 in roter Far­be, ein wun­der­schö­nes Stück aus dem Jahr 1959, ich wür­de sie im Grun­de gern selbst besit­zen. Mein Freund wird bald ver­rei­sen, ich neh­me an, nicht ohne sei­ne neue Schreib­ma­schi­ne mit sich zu neh­men, eine Rei­se, die ihn durch Indi­en mit der Eisen­bahn von Mum­bai nach Dar­jee­ling füh­ren wird. Als ich mei­nen Freund Lud­wig zum letz­ten Mal sah, arbei­te­te er auf einem Note­book schrei­bend in einem Café an einer Geschich­te über Algo­rith­men lie­be­vol­ler Selbst­be­fra­gung. Sein Note­book war zu die­sem Zeit­punkt bereits eini­ge Jah­re alt, jene Orte des Gehäu­ses, da es Ton und Bild­auf­nah­men sei­ner nächs­ten Umge­bung anfer­ti­gen konn­te, waren mehr­fach mit selbst­kle­ben­dem Gewe­be abge­deckt, sodass weder Ton noch Licht in die Schreib­ma­schi­ne gelan­gen konn­ten, um von dort aus mög­li­cher­wei­se unbe­merkt an einen gehei­men Ort in der digi­ta­len Sphä­re gesen­det zu wer­den. Ich will nicht sagen, dass Lud­wig sich in irgend­ei­ner Wei­se ver­folgt füh­len wür­de, er erwähn­te aber bei Gele­gen­heit, er kön­ne schon seit lan­ger Zeit nicht mehr dafür garan­tie­ren, dass sei­ne elek­tro­ni­sche Schreib­ma­schi­ne, sein Note­book, sich tat­säch­lich loy­al ver­hal­ten wür­de. Er wünsch­te sich, sei­ne Zei­chen wie­der ein­mal unmit­tel­bar auf Papier zu set­zen, bedin­gungs­lo­ses Ver­trau­en haben zu kön­nen. Ich wer­de ihm sei­nen Wunsch erfül­len. Nun stellt sich, wie berich­tet, die Fra­ge, was hat mein Freund Lud­wig auf den Papie­ren noch vor, wie lan­ge Zeit bleibt ihm noch? Wie vie­le Farb­bän­der soll­te ich für Lud­wig in Sicher­heit brin­gen? Sie sind rar gewor­den, sie wer­den ver­schwin­den. — stop
ping

///

zylinder

9

india : 12.01 UTC – Vor eini­gen Wochen besuch­te ich B., der noch immer in einer klei­nen Woh­nung über einem Jazz­ca­fé wohnt, wes­we­gen sein höl­zer­ner Fuß­bo­den manch­mal bebt, sodass auch sei­ne Gäs­te beben und der Kaf­fee in den Tas­sen, und im Som­mer flie­gen die klei­nen Som­mer­flie­gen los, weil das Beben der­ma­ßen schreck­lich für ihre Bein­chen ist, dass sie lie­ber stun­den­lang her­um­flie­gen als wären sie Vögel ohne Füße. B. wohnt also in die­ser klei­nen Woh­nung und ist noch immer trau­rig. Ich ken­ne ihn seit 15 Jah­ren, nie­mals habe ich ihn glück­lich wahr­ge­nom­men, nicht eine Sekun­de lang, oder in einem Zustand, den man als weder glück­lich noch unglück­lich bezeich­nen könn­te. B. ist unglück­lich, weil er das so will, er hat sich in sei­ner Trau­rig­keit ein­ge­rich­tet, wie in einem unsicht­ba­ren Zelt, in dem er lebt, das er mit sich auf jede Rei­se nimmt, er reist ja nicht viel, aber er ist ein guter Gast­ge­ber, sehr fein­füh­lig, ein gedul­di­ger Zuhö­rer, der nie­mals lacht. Er schreibt im Übri­gen an einem Buch, das rund ist, ich mei­ne, er schreibt an einem Win­ter­buch von der Gestalt eines Zylin­ders. Man kann in dem Buch blät­tern, aber man weiß nicht, wo das Buch anfängt, weil in B.s Buch kein Anfang exis­tiert, man liest, und wenn man lan­ge genug liest, wird man plötz­lich mei­nen, sich zu erin­nern, oder man hat eine Mar­kie­rung in das Buch notiert, was eigent­lich nicht gestat­tet ist. Aber das ist eine ganz ande­re Geschich­te. — stop
ping

///

bbc

2

alpha : 15.22 UTC — Mein Freund Samu­el ist ein Freund, mit dem ich sehr ger­ne spre­che, weil ich immer wie­der beob­ach­te, dass Wör­ter oder Sät­ze, die ich in dem Glau­ben ver­wen­de, sie sei­en für alle mensch­li­chen Wesen glei­cher­ma­ßen gül­tig, in unse­rer gemein­sa­men Welt nicht exis­tie­ren. Selbst die bei­läu­fi­ge Betrach­tung eines Fern­seh­bild­schirms pro­vo­ziert Dis­kus­sio­nen. Wir sit­zen, es ist spä­ter Abend, in einem Café am Flug­ha­fen. Die BBC zeigt Aus­schnit­te einer Pres­se­kon­fe­renz des 45. Prä­si­den­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka in einem Loop. Wie­der­holt dem­zu­fol­ge hören und sehen wir, wie der 45. Prä­si­dent eine far­bi­ge Jour­na­lis­tin beschimpft, die ihm eine sach­li­che Fra­ge stell­te. Ich sage zu mei­nem Freund, schau, hör zu, er beschimpft die­se Frau. Nach fünf­zehn Minu­ten, die Sze­ne der Beschimp­fung war drei­mal wie­der­ge­kehrt, sagt mein Freund mit tro­cke­ner Stim­me: Das ist nicht Wirk­lich­keit, das ist eine Erfin­dung des Fern­se­hens. — stop
ping

///

brighton beach ave

pic

nord­pol

~ : louis
to : mrs. valen­ti­na zeiler
brook­lyn trans­la­ti­on services
23 brigh­ton beach ave,
Brooklyn
sub­ject : BRYANT PARK

Sehr geehr­te Frau Zei­ler, ich dan­ke Ihnen herz­lich für Ihre rasche Ant­wort. Ich will nun abschlie­ßend den Auf­trag ertei­len, mein unten fol­gen­des Schrei­ben in die eng­li­sche Spra­che zu über­set­zen. Ich bit­te um sorg­fäl­tigs­te Arbeit, Sie wer­den erken­nen, in die­sem Text ist von einem Rei­se­tun­nel nach Ame­ri­ka die Rede, der in mei­ner Vor­stel­lung von äußers­ter Bedeu­tung ist, ein poe­ti­scher Ent­wurf, jedes Wort scheint mir für sei­ne Ver­wirk­li­chung von hoher Bedeu­tung zu sein. Mit ver­ein­bar­ter Ver­gü­tung bin ich ein­ver­stan­den, der Betrag von 82 Dol­lar wur­de bereits ange­wie­sen. Wei­te­re Auf­trä­ge wer­de ich mit Ihnen in Kür­ze bei einem Besuch in ihrem Büro per­sön­lich bespre­chen. Darf ich an die­ser Stel­le mei­ner Ver­wun­de­rung dar­über Aus­druck geben, dass die Über­set­zung des­sel­ben Tex­tes in die chi­ne­si­sche Spra­che 122 Dol­lar kos­ten wür­de? Ich fra­ge mich, wor­in die erheb­li­che Dif­fe­renz von 40 Dol­lar begrün­det sein könn­te. Mit aller­bes­ten Grü­ßen – Ihr Louis

BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hat­te Stun­den lang gereg­net, jetzt dampf­te der Boden im süd­wärts vor­rü­cken­den Nord­licht, und das Laub, das alles bedeck­te, die stei­ner­nen Bän­ke, Brun­nen und Skulp­tu­ren, die Büsche und Som­mer­stüh­le der Cafés, beweg­te sich trock­nend wie eine abge­wor­fe­ne Haut, die nicht zur Ruhe kom­men konn­te. Boule­spie­ler waren vom Him­mel gefal­len, feg­ten ihr Spiel­feld, schon war das Kli­cken der Kugeln zu hören, Schrit­te, Rufe. Wie ich so zu den Spie­lern schlen­der­te, kreuz­te eine jun­ge Frau mei­nen Weg. Sie tas­te­te sich lang­sam vor­wärts an einem wei­ßen, sehr lan­gen Stock, den ich ein­ge­hend beob­ach­te­te, rasche, den Boden abklop­fen­de Bewe­gun­gen. Als sie in mei­ne Nähe gekom­men war, viel­leicht hat­te sie das Geräusch mei­ner Schrit­te gehört, sprach sie mich an, frag­te, ob es bald wie­der reg­nen wür­de. Ich erin­ne­re mich noch gut, zunächst sehr unsi­cher gewe­sen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Sei­te und berich­te­te vom Okto­ber­licht, das ich so lieb­te, von den Far­ben der Blät­ter, die unter unse­ren Füßen raschel­ten. Bald saßen wir auf einer nas­sen Bank, und die jun­ge Frau erzähl­te, dass sie ein klei­nes Pro­blem haben wür­de, dass sie einen Brief erhal­ten habe, einen lang erwar­te­ten, einen ersehn­ten Brief, und dass sie die­sen Brief nicht lesen kön­ne, ein Mann mit Augen­licht hät­te ihn geschrie­ben, ob ich ihr den Brief bit­te vor­le­sen wür­de, sie sei so sehr glück­lich, die­sen Brief end­lich in Hän­den zu hal­ten. Ich öff­ne­te also den Brief, einen Luft­post­brief, aber da stan­den nur weni­ge, sehr har­te Wor­te, ein Ende in sechs Zei­len, Druck­buch­sta­ben, eine schlam­pi­ge Arbeit, rasch hin­ge­wor­fen, und obwohl ich wuss­te, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durf­te, erzähl­te mei­ne Stim­me, die vor­gab zu lesen, eine ganz ande­re Geschich­te. Liebs­te Mar­len, hör­te ich mich sagen, liebs­te Mar­len, wie sehr ich Dich doch ver­mis­se. Konn­te so lan­ge Zeit nicht schrei­ben, weil ich Dei­ne Adres­se ver­lo­ren hat­te, aber nun schrei­be ich Dir, schrei­be Dir aus unse­rem Café am Bryant Park. Es ist gera­de Abend gewor­den in New York und sicher wirst Du schon schla­fen. Erin­nerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unse­rem Café Dei­nen Geburts­tag fei­er­ten? Ich erzähl­te Dir von einer klei­nen, dunk­len Stel­le hin­ter der Tape­te, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklä­ren konn­te, was das bedeu­tet, die­ses Rot für sehen­de Men­schen? Erin­nerst Du Dich, wie Du mit Dei­nen Hän­den nach jener Stel­le such­test, wie ich Dei­ne Fin­ger führ­te, wie ich Dir erzähl­te, dass dort hin­ter der Tape­te, ein Tun­nel endet, der Euro­pa mit Ame­ri­ka ver­bin­det? Und wie Du ein Ohr an die Wand leg­test, wie Du lausch­test, erin­nerst Du Dich? Lan­ge Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sag­test Du, und woll­test wis­sen, wie lan­ge Zeit die Stim­men wohl unter dem atlan­ti­schen Boden reis­ten, bis sie Dich errei­chen konn­ten. – An die­ser Stel­le mei­ner klei­nen Erzäh­lung unter­brach mich die jun­ge Frau. Sie hat­te ihren Kopf zur Sei­te geneigt, lächel­te mich an und flüs­ter­te, dass das eine schö­ne Geschich­te gewe­sen sei, eine tröst­li­che Geschich­te, ich soll­te den Brief ruhig behal­ten und mit ihm machen, was immer ich woll­te. Und da war nun das aus dem Boden kom­men­de Nord­licht, das Knis­tern der Blät­ter, die Stim­men der spie­len­den Men­schen. Wir gin­gen noch eine klei­ne Stre­cke neben­ein­an­der her, ohne zu spre­chen. Ich sehe gera­de ihren über das Laub tas­ten­den Stock und ein Eich­hörn­chen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baum­stamm kau­er­te. Bei­na­he kommt es mir in die­ser Sekun­de so vor, als hät­te ich die­ses Eich­hörn­chen und sei­ne Nuss nur erfun­den. /// END

ping

///

von muffins

pic

tan­go : 1.10 — In der ver­gan­ge­nen Nacht hat­te ich einen lus­ti­gen Traum. Ich beob­ach­te­te, wie ich mit einem gespitz­ten Stück blau­er Krei­de in mein Papier­no­tiz­buch notier­te. Ich schrieb unge­fähr ein Wort auf eine Sei­te. Sobald das Wort, das ich schrei­ben woll­te, über zu vie­le Zei­chen für den Umfang einer Sei­te mei­nes Notiz­bu­ches ver­füg­te, über­leg­te ich, ob viel­leicht ein kür­ze­res Wort exis­tie­ren könn­te, um das län­ge­re Wort zu erset­zen. Plötz­lich näher­te sich eine Hand von der Sei­te her, nahm mir das Stück Krei­de behut­sam aus den Fin­gern, reich­te mir statt­des­sen einen Blei­stift, und ich schrieb in gro­ßen Buch­sta­ben wei­ter, die von Sei­te zu Sei­te immer klei­ner wur­den, klei­ner und klei­ner, bis ich mei­ne Schrift nicht mehr lesen konn­te. Immer noch Traum. Ich gehe spa­zie­ren. Fri­scher Nacht­schnee knis­tert unter mei­nen Füßen. Es ist ein son­ni­ger Tag in Brook­lyn, am Ende einer Stra­ße schim­mert das Meer. Ein paar glän­zen­de Flug­zeu­ge schwe­ben dort über den Him­mel, sie flie­gen auf dem Kopf. Kurz dar­auf betre­te ich ein Café, es ist, glau­be ich, das Buon Gus­to in der Mon­ta­gue Street. Vor einer Vitri­ne in der Tie­fe des schma­len Rau­mes war­tet ein Poli­zist. Er ist groß und von kräf­ti­ger Sta­tur und sei­ne Haut sehr schwarz, und ich den­ke, er weiß, dass ich den­ke, dass er sehr schwarz ist, und er lacht und deu­tet ins Inne­re der Vitri­ne, wo ein gutes Dut­zend Muf­fins auf apri­ko­sen­far­be­nen Deck­chen ruhen. Einer der klei­nen Kuchen bewegt sich, ein Blau­beer­muf­fin, seit­wärts ragt ein gefie­der­tes Flü­gel­chen her­aus, das wild um sich schlägt, wes­halb der klei­ne Kuchen sich immer schnel­ler auf der Stel­le dreht. Sei­te an Sei­te ste­hen der rie­si­ge Mann und ich, ein klei­ner Mann, leicht vor­ge­beugt und stau­nen über das Gesche­hen in der Vitri­ne. Plötz­lich wird es still, der Flü­gel ist im Muf­fin ver­schwun­den, und der Poli­zist flüs­tert mir zu: Er gehört zu Ihnen, nicht wahr! Ich ant­wor­te: Ich glau­be, er ist ein­ge­schla­fen. — stop

muscheln1

///

ai : ÄGYPTEN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR: „Am 9. Janu­ar um etwa 14.30 Uhr führ­ten drei Ange­hö­ri­ge des ägyp­ti­schen Geheim­diensts, die in Zivil geklei­det waren, eine Raz­zia in einem Café des Kai­ro­er Stadt­teils El Ago­u­za durch. Es ist bekannt, dass sich der Men­schen­recht­ler Dr. Ahmed Abdul­lah häu­fig dort auf­hält. Die Sicher­heits­kräf­te leg­ten kei­nen Durch­su­chungs- oder Haft­be­fehl vor, durch­such­ten aber den­noch das Café nach Dr. Ahmed Abdul­lah und erkun­dig­ten sich bei den Ange­stell­ten nach sei­nem Auf­ent­halts­ort. / Dr. Ahmed Abdul­lah erstat­te­te dar­auf­hin Anzei­ge bei der Staats­an­walt­schaft und gab zu Pro­to­koll, dass alle Ver­su­che, ihm Scha­den zuzu­fü­gen, vom Innen­mi­nis­te­ri­um zu ver­ant­wor­ten sei­en. Es sind kei­ne straf­recht­li­chen Ermitt­lun­gen gegen Dr. Ahmed Abdul­lah bekannt, und er hat bis­her kei­ne Vor­la­dung von der Staats­an­walt­schaft erhal­ten. Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le von Dr. Ahmed Abdul­lah, ins­be­son­de­re sein Tele­fon, wer­den jedoch seit eini­ger Zeit von den Sicher­heits­kräf­ten abge­hört. Sie haben mehr­fach tele­fo­nisch damit gedroht, ihn fest­zu­neh­men. / Seit Okto­ber 2015 läuft eine media­le Ver­leum­dungs­kam­pa­gne gegen Dr. Ahmed Abdul­lah. Er ist Vor­sit­zen­der des Stif­tungs­rats der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on “Ägyp­ti­sche Kom­mis­si­on für Rech­te und Frei­hei­ten” (ECRF) und wird eben­so wie der Lei­ter der Orga­ni­sa­ti­on, Moha­med Lot­fy, von der Pres­se als Gefahr für die natio­na­le Sicher­heit por­trä­tiert. Medi­en­be­rich­ten zufol­ge sol­len die bei­den Män­ner gehei­me Tref­fen mit US-ame­ri­ka­ni­schen und euro­päi­schen Behördenvertreter_innen abge­hal­ten haben, um die natio­na­le Sicher­heit Ägyp­tens zu gefähr­den und den Ruf des Lan­des im Aus­land zu schä­di­gen.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 25. Febru­ar 2016 hin­aus, unter > ai : urgent action

ping

///

zerzaust

pic

vic­tor : 0.55 — L. erzählt, sie habe ein­mal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zei­tun­gen. Trotz­dem sei die­se Frau, deren Namen sie nicht in Erin­ne­rung habe, Wör­tern sehr eng ver­bun­den gewe­sen, da sie pau­sen­los Wör­ter notier­te. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bän­ken sit­zend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie ver­las­sen haben soll. Sie schrieb an einem ein­zi­gen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer wei­te­ren Vari­an­te mit sich führ­te, im Grun­de an einem Buch einer­seits, das sie bereits auf­ge­schrie­ben hat­te, und einem Buch ande­rer­seits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrie­ben wor­den war, wie­der­hol­te, aber natür­lich nicht, ohne das Buch im Pro­zess des Abschrei­bens zu ergän­zen. Jede Ergän­zung wur­de sorg­fäl­tig über­legt, manch­mal wur­den Wör­ter ersetzt, gan­ze Sät­ze oder ein Gedan­ke hin­zu­ge­fügt, sel­ten eine Pas­sa­ge gestri­chen. In die­ser Wei­se ver­än­der­te sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wur­de lang­sam schwe­rer. Immer dann, wenn ein Buch abge­schrie­ben wor­den war, ver­schwand das abge­schrie­be­ne Buch. Und wie­der­um begann die Frau eine wei­te­re Kopie anzu­fer­ti­gen, die sich im Pro­zess der Ver­dopp­lung schein­bar nur unwe­sent­lich von ihrem Ori­gi­nal unter­schei­den wür­de. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spa­zie­ren und war stets sorg­fäl­tig geklei­det. Sie soll schon ein wenig wild aus­ge­se­hen haben, zer­saust, aber glück­lich, sagen wir, zer­zaust und immer beschäf­tigt und irgend­wie fröh­lich. Sie notier­te zier­li­che, äußerst exak­te Zei­chen. — stop
ping

///

5 stunden

pic

nord­pol : 10.22 – Ich beob­ach­te das Fern­seh­ge­rät. Eine Repor­te­rin des ame­ri­ka­ni­schen Fern­se­hens berich­tet aus St. Denis, einer klei­ne­ren Stadt nord­öst­lich der grö­ße­ren Stadt Paris. Sie erzählt in Echt­zeit fünf lan­ge Stun­den lang. Die Sen­dung beginnt gegen 4 Uhr mor­gens, da ist es noch dun­kel am Him­mel, aber eine Stra­ße der klei­ne­ren Stadt wird hell erleuch­tet von Blau­licht und Schein­wer­fern der Kame­ras, die nach Bil­dern und Geräu­schen eines schwe­ren Kamp­fes suchen. Schüs­se sind zu hören, rhyth­misch, drei oder vier dump­fe Deto­na­tio­nen. In Haus­ein­gän­gen, vor Stra­ßen­ecken, auf einer Kreu­zung war­ten Poli­zis­ten und Sol­da­ten, sie bewe­gen sich so, als wäre tiefs­ter Win­ter, sie schei­nen über­haupt ner­vös zu sein. Hin­ter der Flucht alter Häu­ser­fas­sa­den, die auf dem Bild­schirm in einer schein­bar unver­rück­ba­ren Ein­stel­lung zu sehen ist, tobt die­ser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mit­tels eines Spreng­stoff­gür­tels getö­tet, von Fest­nah­men wird berich­tet, Namen jun­ger, berühm­ter Ter­ro­ris­ten wer­den pos­tu­liert. Weil doch nur sel­ten hör­bar geschos­sen wird, wer­den etwas spä­ter, es ist Tag gewor­den, hell, immer wie­der Sze­nen einer Zeit auf den Bild­schirm gespielt, als noch Dun­kel war am Him­mel, als noch geschos­sen wur­de, sodass alle es hören konn­ten, die gera­de erst wach gewor­den sind. Ges­tern erzähl­te mir Nas­rin, die in einem Café am Flug­ha­fen arbei­tet, ein Kol­le­ge deut­scher Mut­ter­spra­che habe sie gefragt, ob M., ein wei­te­rer Kol­le­ge, viel­leicht sich freu­en wür­de, dass in Paris so vie­le Men­schen getö­tet wor­den sei­en. Sie habe geant­wor­tet, er sol­le M. doch selbst befra­gen, wor­auf­hin der Kol­le­ge deut­scher Mut­ter­spra­che gesagt habe, ihm wür­de M. ja doch nie­mals die Wahr­heit sagen. Da habe sie nicht wei­ter­ge­wusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort ein­zu­schla­fen oder auf­zu­wa­chen. – stop
ping



ping

ping