sierra : 17.08 — Ein Freund, der sich seit längerer Zeit in Manhattan aufhält, erzählt via E‑Mail eine heitere Geschichte, die er selbst erlebt haben will. Vor einigen Tagen habe er demzufolge eine Bekannte besucht, die ein Apartment in einem modernen Mietshaus der Upper East Side bewohnt. Es handele sich um eine geräumige Wohnung in der 28. Etage mit faszinierender Aussicht auf den East River. Eine Leidenschaft der Wohnungsbesitzerin, eine Passion geradezu, sei die Beobachtung der Schiffe geworden, die den Fluss tief unten befahren. Der Anblick der Kähne und Ozeandampfer beruhige sie, schon von Weitem könne sie erkennen, wenn sich ein größeres Schiff vom Atlantik her nähere. Nicht zu vergessen natürlich, jene zierlichen, weißen und gelben Ameisenschiffe, Wassertaxis bei Tag und Nacht, und das beständige Blinken der Spierentonnen, Pulse, welche sie durch ihr Fernglas wahrnehmen könne. Als nun mein Freund seinen Besuch telefonisch ankündigte, wurde er gewarnt, der Aufzug des Hauses sei seit zwei Wochen defekt, weshalb viele der älteren Bewohner das Haus seit Tagen entweder gar nicht oder für längere Zeit ganz verlassen haben, er müsse zu Fuß emporsteigen und eine halbe Stunde Zeit für seinen Aufstieg berechnen, er solle sich etwas Proviant mitnehmen. Mein Freund machte sich wenige Stunden später auf den Weg nach oben. Weil er nicht trainiert war, ging er langsam, zunächst zählte er noch seine Schritte, aber bereits in der 6. Etage musste er sich setzen und seinen Atem beruhigen. Einige Boten, junge Männer mit Rucksäcken auf dem Rücken, kamen vorüber. Kurz darauf passierte ihn eine ältere Dame, schlafend oder bewusstlos, auf einer Trage liegend abwärts. Höhe der 18. Etage stand die Tür einer Wohnung offen. Treten Sie ein, war auf einem Zettel zu lesen. Im Wohnzimmer saß eine weitere ältere Dame hinter einem Tisch, reich gedeckt, Obst und kalter Fisch und Brot und Wasser. Ein reizender Anblick, Katzen lagen auf dem Boden herum. Die alte Frau wartete unter einem Sonnenschirm. Sie sagte: Komm, komm, in Zeiten der Not muss man zusammenhalten, alles ist umsonst, aber Du darfst in der Stadt nicht davon erzählen! Eine Stunde später erreichte mein Freund endlich die Wohnung seiner Bekannten. Sie saßen lange Zeit vor dem Fenster zum Fluss. Einmal näherte sich ein Hubschrauber. Er landete auf dem Dach. – stop
Aus der Wörtersammlung: dach
marías
~ : oe som
to : louis
subject : MARÌAS
date : aug 10 13 10.58 p.m.
Seit Noe eine Brille trägt, liest er zügig und fehlerfrei wie noch vor Monaten aus Büchern, die wir zu ihm in die Tiefe senden. Als ich ihn besuchte, war er müde von der Lektüre Javier Marías soeben eingeschlafen. Und so konnte ich für längere Zeit heimlich sein Gesicht betrachten hinter der Scheibe von gepanzertem Glas. Er ist blass geworden. Kein Wunder, kaum Sonnenlicht an der Grenze zur Finsternis. Während ich Noe betrachtete, wanderte eine Putzerschnecke über seine Stirn dahin. Sie stieg bald über Noes Nase abwärts, um kurz darauf in aller Seelenruhe seine linke Wange zu bewandern. Er scheint sich an die Existenz der Tiere auf seinem Körper gewöhnt zu haben, nach wie vor sind es fünf Schnecken. Er wird von ihren Berührungen niemals wach, selbst dann nicht, wenn sie sich um seine Lippen bemühen. Ich überlegte, wie der Geruch der Luft in Noes Anzug nach langer Zeit der Abgeschiedenheit beschaffen sein könnte. Ein Schwarm Haifüssliere näherte sich, neugierige Wesen? Vielleicht wurden sie von Noe angezogen, einem sich langsam durch das Zwielicht drehenden Finger. Er scheint zu flackern. Ich hatte vergessen, wie jung Noe doch ist. Ohne ihn aus der Nähe sehen zu können, nur seine lesende Stimme hörend, war der Taucher in meiner Wahrnehmung gealtert, ohne dass ich das bemerkte. Sein Gesicht ist schmal geworden. Ich vermochte seine Augenbälle zu erkennen, die sich unter ihren Lidern hin und her bewegten. Plötzlich sah er mich an. Er lächelte, und er sprach ein paar Wörter, die ich nicht verstehen konnte, obwohl ich nur wenige Zentimeter entfernt gewesen war. Ich antwortete, ich sagte: Noe, hör zu, Dein Vater ist gestorben. Da lachte Noe, vermutlich dachte er: Der Mann ist so nah und er spricht und doch kann ich nicht hören, was er sagt. Dann machte ich mich an die Arbeit. Ich befestigte Noes Brille an seinem Helm. — Dein OE SOM
gesendet am
10.08.2013
2188 zeichen
von eisbriefboten
nordpol : 6.33 — Ein Eisbriefbote wartete gestern, es war ein Dienstag, vor meiner Wohnungstüre im 22. Stock. Der Mann trug blaue Turnschuhe der Marke Nike, kurze, helle Hosen und ein weißes Hemd, das viel zu groß gewesen war für seinen schmächtigen Körper. Er schwitzte, weil er die Treppe nehmen musste, da in meinem Haus keinerlei Aufzug existiert, weshalb das Haus nicht sehr beliebt ist bei Gästen und Boten. Meistens biete ich den hart arbeitenden Männern über die Funksprechanlage an, ihnen entgegenzukommen. Ich sage: Treffen wir uns im 11. Stock in 10 Minuten! Gestern aber war ich sehr müde gewesen. Ich trank einen Kaffee, telefonierte mit einer Behörde, und wartete dann still in aller Ruhe, bis der Mann bei mir oben unter dem Dach angekommen war. Es sind diese ersten Blicke, die ich nie vergesse. Der erschöpfte Bote öffnete seine Kühltasche und überreichte mir einen weiteren eisgekühlten weichen Behälter, in welchem sich nun unmittelbar ein Brief von Eis befand, den ich zunächst in meinen Gefrierschrank zu weiteren Eisbriefen und Eisbüchern legte. Kurz darauf setzte ich mich ins Treppenhaus und hörte dem jungen Mann bei seinem Abstieg zu. Er war sehr schnell unterwegs gewesen, er schien zu fliegen, stürzte im fünften oder sechsten Stock, Minuten lang war kein Laut zu hören, dann das Wimmern einer Ambulanz. Da saß ich längst in meiner Küche und las, was mir ein Freund notierte, wie er schrieb, mit großer Freude auf dem vergänglichsten Material, das ihm zur Verfügung stehe: Lieber Louis, dieser Brief ist geheim. Er wird sich auflösen, sobald oder bevor Du ihn gelesen haben wirst. Du musst Dich also beeilen oder den Brief immer wieder einmal in den Kühlschrank zurücklegen oder ihn fotografieren, ehe er geschmolzen sein wird. Sei behutsam, mein Lieber. Lies bitte nicht an Tagen, da es warm ist in Deiner Wohnung unter dem Dach, es könnte sein, dass Du in schwüler Luft nicht schnell genug lesen kannst. Ich vermute, ich habe die Wörter an dieser Stelle bereits vergeblich geschrieben. Dein K. – stop
lunar caustic
sierra : 22.02 — Wie ich an diesem schönen warmen Sonntagabend aus dem Fenster sehe, entdeckte ich eine Eidechse, die sich bis zu mir hinauf unter das Dach vorgearbeitet hatte. Sie saß nur eine Armlänge entfernt, gelbe Augen, blaugrün schillernde Haut und beobachtete mich natürlich. Ich konnte nicht entscheiden, ob sie mich nun mit den Augen oder mit ihrer nervösen Zunge präziser zu erfassen vermochte. Ich schien ihr nicht verdächtig gewesen zu sein, das schlanke Tier flüchtete nicht. Im Gegenteil, die Eidechse kam noch näher heran, kauerte bald auf dem Fensterbrett, das warm von der Sonne war, und schaute wie ich gegen den Himmel. Es war ein schöner Himmel voll bauschiger Wolken, die sich kaum bewegten. Nach einer Viertelstunde zog ich mich vorsichtig vom Fenster zurück, hoffte, die Eidechse würde in mein Zimmer kommen, würde einige Wochen Lebenszeit bei mir verbringen, über die Wände meiner Wohnung huschen, Fliegen und Falter jagen, die meine Räume in großer Zahl bewohnen. Es ist jetzt 22 Uhr. Bislang ist am Fenster noch nichts geschehen. Ich wüsste gerne, ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll wäre, das kleine Tier mit etwas Fleisch oder Musik anzulocken, Strawinsky, zum Beispiel, oder Coltrane. Ja, dieser Abend ist ein sehr angenehmer Abend. Endlich ist es mir gelungen, für Mr. Oe Som eine Liste von Büchern zu erstellen, die unbedingt in die Sphäre wasserfester Lektüren transkribiert werden sollten. Ich habe folgende Auswahl übermittelt: Alice Munro Collected Stories . Louis Begley Novels . Max Frisch Montauk . Don DeLillo The Body Artist . James Salter Collected Srories . Jeffrey Eugenidis Middkesex . Bruce Chatwin The Songlines . Conrad Aiken Strange Moonlight . Samuel Beckett Krapps Last Tape . Italo Calvino Der Baron auf den Bäumen . Elias Canetti Die Stimmen von Marrakesch . Jürg Federspiel Die Ballade von der Typhoid Mary . Albert Sanchez Pinol Im Rausch der Stille . John Steinbeck Travels with Charley . José Saramago Kleine Erinnerungen . H.G.Wells The Island of Dr. Moreau . Paul Auster Red Notebook . Charles Simmons Salt Water . Jack Kerouac Book of Dreams . Malcolm Lowry Lunar Caustic . Patricia Highsmith Stories . Natalie Sarraute Kindheit . Herta Müller Herztier . Lutz Seiler Die Zeitwaage — stop
seepocken
olimambo : 2.18 — Sonntag. Große Hitze. — Zum ersten Mal habe ich eine Serie Fotografien betrachtet, die ich mit einer Kamera aufgenommen hatte, während ich die Fifth Avenue in Manhattan südwärts spazierte. Ich hatte nur eine vage Idee, was auf diesen Fotografien einmal zu sehen sein könnte, weil ich den Fotoapparat mit der rechten Hand festhielt, die an meiner Seite baumelte. Ich stellte mir vor, meine Hand würde sich in eine Kamera verwandelt haben, die in einem regelmäßigen Abstand von etwa 5 Sekunden je eine Aufnahme machte. Wie erwartet, waren Taschen und Beine, Schuhe, Hosen, Röcke, Papierkörbe, Ampeln, der Asphalt, Randsteine, Himmel, Wolken und Tauben zu sehen, Dächer sehr hoher Häuser, gleichwohl Klimaanlagen, die wie Seepocken an den Fassaden der Häuser sitzen, Feuerleitern, Dampfwolken, Gesichter von Menschen, die mir entgegengekommen waren, sie sahen mich an, nicht die Kamera, sondern mich selbst vielleicht, oder sie sahen vor sich hin, lachten, träumten. Manche der Menschen aßen, einige trugen dunkle Brillen, weil die Sonne sehr tief in die Straße leuchtete, andere hatten Hüte auf dem Kopf, es waren ein paar ausgesprochen müde Gesichter darunter, kaum jemand rauchte. Ich habe in dieser Art und Weise des Gehens 1524 Aufnahmen gemacht. Keiner der fotografierten Menschen schien indessen bemerkt zu haben, dass ich ihn abgebildet hatte. Aber es ist denkbar, dass der ein oder andere der fotografierten Menschen mein Tun bemerkte, nachdem ich längst vorübergegangen war, ein Gedanke, ein Gefühl, ein Verdacht, langsam, sehr viel langsamer als das Licht, das ich gerade noch eingefangen hatte. — stop
ein seltsames buch
echo : 1.18 — Seit zwei Stunden beobachte ich ein Buch, das kein gewöhnliches Buch ist, sondern ein seltsames Buch. Dass es sich um ein seltsames Buch handelt, ist dem Buch zunächst nicht anzusehen, weil es seiner äußeren Gestalt nach, ein übliches Buch zu sein scheint. Dieses hier auf meinem Tisch ist von einer blauen Farbe. Sobald man das blaue Buch in die Hände nimmt, wird man aber spüren, dass das Buch atmet, weil an seiner Rückseite durch feine Lamellen warme Luft auszutreten scheint. Das ist deshalb so, weil sich in dem Buch eine Recheneinheit befindet, ein winziger Computer, der sich mit dem Text oder mit der Geschichte, die sich in dem Buch befindet, beschäftigt. Es handelt sich bei dem Buchkörper bei genauer Betrachtung nämlich um eine Versammlung hauchdünner Bildschirme, auf welchen sich Zeichen befinden, Bildschirme, die man umblättern kann. Was zunächst zu sehen ist, gleich auf welcher Seite das Buch aufgeschlagen wird, sind eben erwähnte Buchstaben oder Ziffern, die sich rasend schnell bewegen, sodass man nicht lesen, vielmehr nur ahnen wird, was sich dort befinden könnte. Es ist dies der Moment, da der Computer des Buches jenen Text, den man mit eigenen Augen gerne sofort lesen würde, zu entschlüsseln beginnt. Ein möglicherweise aufwendiges, zeitraubendes Verfahren. Als ich das Buch kaufte, konnte mir der Händler der verschlüsselten Bücher nicht sagen, wie lange Zeit ich warten müsse, bis der Text des Buches für mich sichtbar werden würde. Es bereitete ihm Freude, ich bin mir sicher, auszusprechen, was ich längst dachte, dass die Entschlüsselung des Textes eine Stunde, einen Tag oder zweihundert Jahre dauern könnte, das sei immerhin das Prinzip, weshalb man ein Buch dieser Art erwerben wollte, dass man ein Buch besitzt, von dem man nicht sagen könne, ob es jemals lesbar werden wird. — Kurz nach Mitternacht. — stop
ludmilla
echo : 6.12 — Ich habe eine E‑Mail bekommen. Lesen Sie selbst: Verehrter Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie sind wohlbehalten zurückgekehrt von Ihrer Reise. Leider konnten wir uns nicht treffen, so wie noch im Januar geplant. Es ist schwieriger geworden, das Haus zu verlassen. Ich fühle mich nicht länger sicher auf der Straße. Aber auch unter meinem eigenen Dach habe ich immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich nehme an, es existieren längst Ideen über mich, vielleicht wird man sagen: Er könnte nun doch verrückt geworden sein. Aber natürlich weiß ich, was ich tue und wovor ich mich fürchte. Im April war ich noch lange Stunden am Strand unterwegs gewesen, besuchte meine Freundin Ludmilla, die abends vor dem Boardwalk mit ihren Freuden im kalten Seewind sitzt. Ihr gehört jetzt ein Rollstuhl, den sie von eigener Hand bewegen kann, weil sie zäh und leicht ist, Sie würden staunen. Irgendwann muss ich das Haus wieder verlassen, das ist mir Herzenswunsch, ich kann Ludmilla doch nicht verlieren, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Im Dezember wird sie 92 Jahre alt, da kann man an das Ende schon einmal denken, nicht wahr! Nun, ich will nicht klagen, bin sehr vorsichtig geworden. Wenn ich zum Einkaufen gehe einmal in der Woche, dann niemals allein, sondern immer in der Begleitung eines alten Freundes. Sie werden verstehen, dass ich seinen Namen nicht erwähne. Er ist zuverlässig, hilft mir beim Tragen der Flaschen. Was ich sonst noch benötige, lasse ich mir kommen. Ich erinnere mich, jetzt, da ich hier sitze und schreibe, dass ich als Kind einmal überlegte, eine Sprache zu erfinden, die nur ich verstehen kann. Ich hatte mir vorgenommen, alle Wörter, die ich kannte, in meine neue Sprache zu übersetzen. Ich wollte lernen, mittels dieser Wörter zu denken. Seit wenigen Tagen arbeite ich nun daran, mir genau diesen uralten Wunsch zu erfüllen. Ist das nicht wunderbar! Vielleicht werde ich mich bald wieder sicher fühlen. Seemöwen sitzen auf dem Balkon, ihre Augen wirken beizeiten so, als wären sie Objektive, die man füttern kann. Genug! Es ist Sonntag. Morgen werde ich Ihnen einen Brief von Papier übermitteln, in welchem ich eine Liste von Wörtern vermerkte, die Sie in Zukunft bitte nicht weiter verwenden, wenn Sie mir eine E‑Mail schreiben. Sie wissen, wo der Brief zu finden ist. Bis bald, mein lieber Louis. Ihr Michael – stop
nachtstimme
india : 2.58 — Das Stimmgeräusch in meinem Kopf. Ob sich der Klang meiner denkenden Stimme mit der verstreichenden Lebenszeit veränderte? Habe ich als Kind mittels der Stimme eines Kindes gedacht? — Ich werde für diese Fragen vielleicht nie eine Antwort finden. Es ist zu spät. Aber ich könnte einem Kind erklären, was ich herauszufinden wünsche. Das Kind würde mich vielleicht mit einem vorsichtigen Lächeln betrachten, würde seine Augen schließen und ein paar Sätze sprechen im Kopf. Ist es einem menschlichen Wesen überhaupt möglich, die eigene denkende Stimme, die Stimme des Gehirnes, aufzubewahren, sich an sie zu erinnern, sie zu vergleichen? — Eine warme Nacht. Falter kommen zum Sterben herein. Und Marienkäfer, wieder ein gutes Dutzend. Diese Käfer sind merkwürdige Wesen. Ich kenne sie, solange ich denken kann. Sie wandern an der Zimmerdecke. Das Licht meiner Lampions scheint ihnen zu gefallen, als ob sie von diesem Licht zehren könnten. Sobald es dunkel geworden ist, wenn sie schlafen oder dämmern, fallen sie zu Boden, als ob es im Dunkel nicht möglich wäre, rechtzeitig die Flügel zu öffnen. — Gigi Ibrahim, Aktivistin, twittert aus Kairo: Everytime someone say „30 June revolution“ or „army and people one hand“ I die a little inside. — stop
sieben punkte
himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
kaprunbiber
~ : malcolm
to : louis
subject : KAPRUNBIBER
date : jun 24 12 10.12 p.m.
371 West 11. Straße. Wir haben unsere Position kaum verändert. Frankie scheint sich auf dem Dach des Backsteinhauses, von dem wir bereits erzählten, für unbestimmte Zeit eingerichtet zu haben. Dass wir eine Wohnung anmieten konnten im Haus gleich gegenüber, ist von großem Vorteil, wir fallen nicht weiter auf, in dem wir nach Frankie Ausschau halten. Eine kleine Wohnung mit ramponiertem Dielenboden, der unter unseren Schritten ächzt und kracht. Bei gutem Wetter sitzen wir auf einem der Balkone des Hauses. Frankie besucht uns dort von Zeit zu Zeit, er wagt sich schon auf den Tisch, wenn wir Nüsse für ihn abgelegt haben. Wüsste er, wer wir sind, würde er sich vermutlich fernhalten. Er scheint seine erste Begegnung mit uns tatsächlich vergessen zu haben. So nah kommt er heran, dass wir die Umrisse des Speichermediums, welches wir unter seinem Fell vernähten, mit bloßem Auge erkennen. Und so haben wir angenehme Beobachtungstage. Juni. Die Nächte sind ruhig, stündlich vernehmen wir Signalzeichen der Schiffe vom nahen Fluss. Dann kommt die Sonne und ihre Hitze, Frankie ruht, wie eine Katze, flach auf dem Blechdach des Hauses gegenüber. Manchmal rast er das alte Gemäuer senkrecht auf und nieder, als würde er nach Fliegen jagen. Es scheint ihm außerordentlich gutzugehen, klappernde Mülltonnen, die geöffneten Fenster der Wohnungen, Wassertanks auf den Dächern, in welchen Frankie badet, es ist ein wirklich guter Ort für ein junges, kräftiges Eichhörnchen. Die Nachrichten jedoch, die wir über unsere Kanäle empfangen, sind beunruhigend. Ich zweifele manchmal daran, ob wir noch in der Lage wären, Frankie zu töten, sollte der Befehl zu seiner Beseitigung kommen. – Ihr Malcolm / codewort : kaprunbiber
empfangen am
24.06.2013
1950 zeichen