sierra : 8.52 — Leichter Luftzug von Süden, schwere, bleischwere Hitze. Spazierte im Kolosseum, prächtige Ruine, Theater der Grausamkeit. Da muss überall noch uralter Knochenstaub im Boden verborgen sein, Materialien vom Tiger, vom Flusspferd, von Giraffen, von Menschen. Gestern hatte der öffentliche Dienst der Stadt gestreikt, auch die Funktionäre der Arena, weswegen an diesem Tag tausende Besucher zusätzlich Zutritt wünschen. Eine lange Reihe Wartender, hunderte Meter weit in der Sonne tief unten auf der Straße. Robotermaschinen der Straßenreinigung dösen im Schatten der Pinien. Gladiatorenimitatoren stehen zur Fotografie bereit. Pferdehufe klappern die Via di San Gregorio auf und ab. Über das Forum Romanum gleich gegenüber fegt ein Wind, der sich genau auf diesen historisch bedeutenden Bezirk zu beschränken scheint, es ist ein grabender, wirbelnder Wind, Sandtürme kreisen zwischen Mauerresten, Stäube, die über das Meer geflogen kommen, von Afrika her, schmirgeln am alten Europa, verfangen sich in den Seidentüchern der Händler, die tatsächlich fliegende Händler sein könnten, weil sie viele und sich derart ähnlich sind, dass sie physikalischen Gesetzen widerstehend überall zur gleichen Zeit erscheinen. Abends sitzt dann ein Mann wie aus heiterem Himmel mit einem Protesttuch auf der Kuppel des Petersdoms. Unterhalb der Laterne, in über einhundert Meter Höhe, scheint er sich festgezurrt zu haben. Auf dem Platz bleibt er indessen von den Flaneuren unbemerkt. Er scheint viel zu klein zu sein, zu weit entfernt er selbst und auch das Tuch, auf das er etwas notierte. Zitterndes Licht, immer wieder zu sehen, eine Art Finger. Keine Morsezeichen. — stop
Aus der Wörtersammlung: geste
rom : am tiber
nordpol : 10.32 — Gestern, am späten Abend, von einer Brücke über den Tiber aus einen Mann beobachtet, der am Ufer des Flusses vor einer Inselausbuchtung kauerte. Der Mann fütterte größere und kleinere Tiere mit seiner linken Hand, in der rechten Hand hielt er eine Angel fest. Das war nicht sofort zu erkennen gewesen, weil sich im Fluss und auch in der Luft über dem Fluss nichts bewegte, nicht einmal das Wasser zeigte Strömung. Die Flussoberfläche schimmerte im Mondlicht wie ein See, und das Schilf des Ufers schien von Winden, nicht von wildem Wasser gebeugt. Da waren Schatten im Gras der kleinen Insel, hunderte vorwärts oder rückwärts springende Schemen. Noch nie zuvor habe ich so viele Ratten auf einen Blick gesehen. Wie Eisenspäne einer physikalischen Anordnung zur Untersuchung magnetischer Felder waren sie zu dem Mann hin ausgerichtet, wirbelten durcheinander, sobald der Mann Futterware unter die Tiere schleuderte. Dann wieder stilles Warten. Eine Bisamratte, scheuer Herrscher, enterte das Land. — Am folgenden Tag kehre ich morgens zur Nachtbrücke zurück. Der Mann kauert noch immer vor der kleinen Insel und angelt im Fluss. Möwen haben sich genähert. Ratten sind nur wenige zu sehen, aber Tauben. Wenn der Mann einen Fisch erbeutet, wirft er ihn seinen Freunden vor die Füße. An den steilen Wänden der künstlichen Tiberfassung da und dort blühende Büsche. Eidechsen züngeln gegen die Sonne. — stop
gebete
delta : 6.46 — Das war so gewesen. Kurz nach dem Abendessen treffe ich im Zug auf einen Freund. Er kam gerade vom Gebet. Ich weiß nicht, wie er das macht, er betet an allen denkbar unmöglichen Orten, aber immer zur rechten Zeit. Wir müssen nicht mehr darüber sprechen, er ist Moslem, überzeugt, tiefgläubig, ich bin Christ, einer, der eher zweifelt, aber nicht NEIN sagen will, nicht, dass das alles Unfug ist mit den Jenseitsgeschichten. Mein Freund und ich lieben Jazz. Er ist ein Schlagzeuger von hoher Begabung, ich habe ein feines Gehör, das ist die andere Seite, mein bebendes Zwerchfell, wenn er spielt. Was das doch für ein Irrsinn wieder ist, dieser Film, diese Provokation, dass das nie aufhört, sagte er dann doch in meine Richtung. Und dass ihm das vor allem so unangenehm sei, weil wir doch wie Puppen sind, die man aufziehen kann, irgendwo eine böse satirische Zeichnung, und schon tanzen wir los. — Ja, das ist äußerst seltsam, diese Art der Kommunikation über große Entfernungen hinweg, die Menschenleben fordert. Überhaupt ist das merkwürdig, die Schöpfung, der Tod, das Erzählen von der Zeit danach, die Gesetze, die Bewertung nach Gut und Böse. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal mit meinem Vater vor einem Fernsehgerät saß. Das war an einem Ostersonntag kurz vor 12 Uhr mittags gewesen. Auf einem Balkon in Rom stand ein alter Mann, er trug einen merkwürdigen Hut auf dem Kopf und sprach in singender Weise Verse, von welchen ich ahnte, dass es sich nur um ein Gebet handeln könnte. Das Gebet war in meinen Ohren nicht verständlich gewesen, weil es in italienischer Sprache gesungen wurde, aber dann äußerte sich der geistliche Mann plötzlich in einer mir bekannten Sprache. Meine Mutter war indessen hinzugetreten. In genau dem Moment, da der alte Mann seinen Segen erteilte, kniete sie nieder und bekreuzigte sich. Ich erinnere, mich über ihre Geste gewundert zu haben, das Knien vor einem Fernsehgerät. Genaugenommen wundere ich mich bis heute, wie der Segen wandert. — stop
versuchsanordnung
echo : 2.05 — Gestern, am späten Abend, wurde ich während meiner Arbeit von einem Eichhörnchen beobachtet. Das kleine Tier kauerte im Kirschbaum auf Höhe der Fenster meines Arbeitszimmers gut sichtbar im Licht einer Straßenlampe. Beinahe wollte ich meinen, dass es sich mit Absicht zeigte. Seine Augen leuchteten rötlich, als wären sie Taschenlampen. Ich trat vorsichtig ans Fenster und schon war das Tier verschwunden. Es war also fast Mitternacht gewesen, ich versuchte zu diesem Zeitpunkt ein Experiment zu wiederholen, das ich vor 5 Jahren bereits erfolgreich im Internet unternommen hatte. Krapp war mit meiner Hilfe in Chaträumen zu Sprache gekommen. In einem 30-Sekundenrhythmus wiederholte er Sätze, die Samuel Beckett für ihn notierte. Eine halbe Stunde arbeitete ich mich damals voran, als in der künstlichen Welt auf Krapp reagiert wurde. Das war ein faszinierender Vorgang gewesen, ein Ereignis, das sich gestern leider nicht wiederholte. Extraordinary silence this evening. Wie ich es auch versuchte, Krapp wurde nicht bemerkt oder wurde unhöflicherweise ignoriert. Hier nun noch einmal das Dokument aus dem Jahr 2007: >
Versuchsanordnung >
20.05 – 20.07 Uhr MEZ
Krapp im Chat
[Login OK]
[Krapp joined channel Welcome!]
[82users in channel Welcome!]
RickJ2!!: Bye bye.
Krapp: „Have just eaten I regret to say three bananas and
only with difficulty refrained from a fourth.“
Gulli_S2: Hotmail?
[katsu left channel Welcome!]
UrFixation: Omg, stop it with the banana story.
Krapp: „Fatal things for a man with my condition.“
2005Guy!!: Ur…is getting visuals..lol
Gulli_S2: Hotmail
[muff’ joined channel Welcome!]
Krapp: „Extraordinary silence this evening.“
UrFixation: lol
UrFixation: I am
RickJ2!!: Some old stories krapp.
[muff’ left channel Welcome!]
Devilish.fr is away from keyboard.
UrFixation: Flashbacks
UrFixation: lol
Gulli_S2: Fuck you!
Krapp: „I strain my ears and do not hear a sound.“
RickJ2!!: lol
[Gulli_S2 left channel Welcome!]
2005Guy!!: I bet…not pretty
UrFixation grins evilly.
RickJ2!!: Watch out gulli
Krapp: „Just been listening to an old year,
passages at random.“
[2HOT4YOU left channel Welcome!]
AngusYoung: I just found out i have lung
cancer and it sucks!
RickJ2!!: aww
Krapp: „I did not check in the book, but it must
be at least ten or twelve years ago.“
UrFixation: Where did that come from?
[GuitarAddicted left channel Welcome!]
2005Guy!!: Woaw.
[Playboylovers joined channel Welcome!]
Krapp: „Now the day is over.“
2005Guy!!: Zackly.
SlicKgirl: Should i simply mute him?
[Muff joined channel Welcome!]
RickJ2!!: Same stories krapp, right?
[Kalkan left channel Welcome!]
[Space Monkey left channel Welcome!]
Muff greets all.
Krapp: „Night is drawing nigh-igh.“
[Porto-boy joined channel Welcome!]
2005Guy!!: I thought i just had dezavu…
RickJ2!!: Get it??
Playboylovers: hi dudes
Playboylovers: lol
Krapp: „Shadows.“
2005Guy!!: Don’t know how to spell it..lol
[AngusYoung left channel Welcome!]
RickJ2!!: Hey baaby
[Bryan1997_4_you joined channel Welcome!]
[Desiree left channel Welcome!]
Bryan1997_4_you: Hi all
Muff: Chess game anybody?
Bryan1997_4_you: Anyone wanna chat
RickJ2!!: Krapp do you know english?
[Andriy!!!! left channel Welcome!]
[Lana-puma-hoty joined channel Welcome!]
19-m-Francais: Kein Deutsch hier?
UrFixation: Nein
Muff: RickJ2 do you fancy me.
Krapp: „Past midnight. Never knew such silence.
The earth might be uninhabited.“
Thebigone greets all.
[BlackScorpion left channel Welcome!]
[JoeNY left channel Welcome!]
Bryan1997_4_you: hi courtney
RickJ2!!: what u mean muff
[Country-Boy joined channel Welcome!]
Muff: RickJ2 why do u ignore me?
Porto-boy greets all.
[Krapp left channel]
[Welcome!]
quallenuhr
~ : oe som
to : louis
subject : QUALLENUHR
date : sept 12 12 10.22 a.m.
Ganz plötzlich, lieber Louis, habe ich Lust bekommen, Dir zu schreiben. Eigentlich wollte ich mich erst am kommenden Samstag melden, aber ein Sturm bewegt sich auf uns zu und es ist nichts zu tun, als zu warten, ob er uns mit voller Wucht treffen wird. Vermutlich ist es diese Warterei, die an unseren Nerven zerrt. Auch, dass die Tage wieder kürzer werden. Gestern haben wir einen Schwarm Tintenfische beobachtet, der unser Schiff umkreiste. Ein ungewöhnlicher Anblick, die Tiere waren schneeweiß. Wir haben einige gefangen, sie schmecken süß, wenn man sie brät, nach Brot, nach Gebäck, nach Mandeln. Beunruhigend ist, dass sie weder über Herzen noch Augen verfügen. Eine halbe Nacht haben wir einen Fisch nach dem anderen durchsucht. Als wir kein Exemplar mehr hatten, um unsere Suche fortsetzen zu können, ist Miller mit dem Beiboot losgefahren. Fast windstill ist es hier unten auf Höhe des Meeres, weit oben jedoch rasende Wolken von West nach Ost. Ja, lieber Louis, wir durchleben schwierige Tage. Und Noe, unser Noe in der Tiefe, ist von Fieber befallen. Wir haben ihn gut 150 Fuß angehoben, damit er Licht sehen kann. Seit mehreren Stunden wiederholt er eine kleine Geschichte, von der wir nicht wissen, woher sie kommt. Noe sagt, Noe stelle sich ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von allerfeinster Quallenhaut, ein Zimmer von Wasser, ein Zimmer von Salz, ein Zimmer von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Noe sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt eine Tasse Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass er ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das er jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. Hier spricht Noe. Noe stellt sich ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von feinster Quallenhaut. — Beste Grüße. Ahoi. Dein OE SOM
gesendet am
12.09.2012
2268 zeichen
von den ohrenvögeln
marimba : 18.15 — Über Ohrenvögel notieren. Ich entdeckte sie gestern während eines Spaziergangs. Ohrenvögel kommen ohne Ausnahme paarweise vor. Haut von hellem Leder, Haut, die man als Beobachter oder als Besitzer eines Ohrenvogelpärchens weithin überblicken kann, weil sie vollkommen nackt sind, abgesehen von ihren Flügeln, dort existieren Federn, so feine Federn, dass man sie, wüsste man es nicht besser, für Pelz halten könnte, Federpelze in Gelb und Rot und Blau, kräftige Farben, die eigenartigste Muster bilden, so individuell wie die Fingerabdrücke an den Händen menschlicher Wesen. Ohrenvögel sind von eher kleiner Gestalt, sind etwa so groß wie ein Fingerhut, und verfügen über Schnabelattrappen, die den Schnäbeln der Kolibris ähnlich sind. Überhaupt wird man sich als Betrachter der Ohrenvögel oft an genau diese Gattung kleinster Luftwesen erinnert fühlen. Das sehr Besondere an ihrer Existenz ist jedoch, dass sie den Körpern jener Menschen, die sie bewohnen, eng verbunden sind. Genauer gesagt, würden sie ohne diese Verbindung überhaupt nicht existieren, eine blaue, zarte Nabelschnur, so fein wie ein Faden Zwirn schließt sie an die Ohren der Menschen an, je ein Vogel links und ein Vogel rechts des Halses. Blut fließt von da nach dort, weswegen Ohrenvögel weder trinken noch essen, also auch nicht jagen oder sammeln. Man könnte vielleicht sagen, dass sie nur zum Vergnügen leben, zur Zierde und Freude auch jener Menschen, die sie begleiten. Wenn sie nicht Stunde um Stunde unter den Ohren ihrer Besitzer schaukeln und schlafen, fliegen sie sehr gern in der näheren Umgebung herum. Weit kommen sie selbstverständlich nicht, aber weit genug immerhin, um einander begegnen zu können, der eine Vogel zu Besuch auf der Halsseite des anderen, man sitzt dann gemeinsam auf einer Schulter und schaut auf die große Welt hinaus. Oder man trifft sich heimlich hoch oben auf dem Kopf des bewohnten Menschen, eine vertraute Welt, zur gegenseitigen Pflege und zum Gespräch. Ihre Stimmen sind so hell, dass menschliche Ohren nicht in der Lage sind, sie zu vernehmen. Nichts weiter. – stop
lichtpelze
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LICHTPELZE
Ich habe Euch, liebe Daisy, liebe Violet, folgendes zu berichten. Es schneit heute Nacht, weil es schneien muss. Lichtpelze, kaum Wind, sie schaukeln an meinem Fenster aus dem Nebeldunkel kommend vorbei. Ich glaube, ich habe Euch schon erzählt, dass ich mir vor Wochen eine kleine Maschine vorgestellt habe, die fliegen kann. Diese vorgestellte Maschine ist nun eine tatsächlich sehr kleine Maschine geworden, nicht größer als eine Murmel in Kinderhand. Zarteste Rädchen und Schrauben und Gewinde sind in ihrem Innern zu finden, Batterien von der Größe eines Bergschneckenherzens weiterhin, sowie eine äußerst filigrane Funkantenne, ein Linsenauge und Mikrofone oder Ohren, die in der Nähe des Auges derart montiert worden sind, dass sie in der Lage sein könnten, Geräusche aufzuzeichnen. In wenigen Minuten, wenn ich meinen Brief an Euch aufgegeben haben werde, solltet Ihr mir zusehen, wie ich das Fenster öffnen und mein fliegendes Auge auf seine erste Reise schicken werde. Ich habe mir einen Flug südwärts vorgenommen. Zunächst abwärts 24 Stockwerke, dann die 72. Straße ostwärts bis hin zur Lexington Avenue, wir werden ihr bis zum Ende folgen. Am Gramercy Park biegen wir in Richtung Third Avenue ab, spazieren schwebend weiter, nehmen die Bowery, Saint James Place und kurz darauf die Brooklyn Bridge. Einige Stunden werden sicher vergehen, ehe wir nach 15 Meilen Brighton Beach erreicht haben werden, ein Abenteuer. Welche Höhe wird eine geeignete Reisehöhe sein? Was werden die Vögel auf der großen Brücke unternehmen, sobald sie uns erkennen? Ich habe meine Fernsteuerung bereits in der Hand. Es ist jetzt 7 Uhr und 55 Minuten. Ich fliege durch eine von Schnee und dichtem Nebel fast unsichtbare Stadt. – Ahoi! Euer Louis
gesendet am
29.08.2012
2.01 MESZ
1688 zeichen
elefantenohrtier dx-18
tango : 2.55 — Bei diesem Wesen, das mir heute Abend auf dem Schreibtisch vorliegt, handelt es sich zunächst um das Ohr eines Afrikanischen Elefanten, welches in meiner Wohnung bereits seit einigen Stunden gegenwärtig ist, während ich den dazugehörigen Elefanten ebenso dauerhaft nicht zu finden vermag. An jener Stelle des Ohres, die üblicherweise ein Elefantenkörper einnehmen würde, ist stattdessen eine Kreatur anzutreffen, nicht größer als ein Zwergbärenmaki von 30 Gramm Gewicht, riesige gelbe Augen, aber kein Schwanz, keine Füße, keine Beine, keine Hände, keine Arme. Das Wesen lebt. Man kann es füttern. Ich vermute, es wird an diesem Abend vielleicht erkältet sein, weil sein Atem pfeift. Ich habe vor wenigen Minuten noch versucht, mein eigenes kleines Ohr in die Nähe des Torsos zu bewegen, um vielleicht Herzschläge vernehmen zu können. Unverzüglich wurde ich gebissen, das Tier fauchte wie ein kleiner Tiger. Sobald ich dagegen das Elefantenohr, das über meinem Schreibtisch ausgebreitet liegt, mit meinen Händen berühre, scheint das Wesen zufrieden zu sein, schnurrt und maunzt. Gleichwohl ist gestattet, das Ohr mit kleinem Tier vom Tisch anzuheben, dann baumelt es dicht über dem Boden, was ihm Freude bereitet. Ich habe den Verdacht, es könnte sich bei dieser neuartigen anatomischen Anordnung insgesamt um eine gut durchblutete Struktur handeln, die mit Vorsatz hergestellt wurde, damit man sich in kühlen Nächten darunter legen kann. Ich werde dieser Spur nachgehen. Man frisst bevorzugt Krabben. Rosa Zapfenzunge. — stop
PRÄPARIERSAAL : schlafgänger
charlie : 6.54 — Otto Lilienthal soll als junger Mann ein Schlafgänger gewesen sein wie mein Vater. Ich erinnere mich, dass er einmal erzählte, er habe während früher Forschungszeit sein Bett mit einem „leichten Mädchen“ geteilt. Nachts schlief er auf ihrem Lager, tags sie auf dem Lager meines Vaters. Eine merkwürdige Vorstellung. Sie sind sich, wenn ich mich nicht irre, persönlich nie begegnet sein, aber ihren Gerüchen, Wärme, einem Körperabdruck, Haar. — Kurz vor Sonnenaufgang. Gerade eben lese ich einen E‑Mailbrief June’s, 22. Sie schildert in lakonischer Weise ihre Erfahrung eines Präpariersaales: > Der Tag des ersten Testates: Nervosität, Übelkeit, bestanden! Glücksgefühle, ab nach Hause, schlafen! Jetzt alles tun, außer lernen. Oh, es ist schon spät, verdammt, was muss ich morgen eigentlich machen? Das werde ich in der S‑Bahn schon noch herausfinden. Dann der erste Tag des neuen Abschnitts: Arm oder doch der Kopf? Was muss ich eigentlich tun? Ich hätte mir das gestern doch noch ansehen sollen, meine Assistentin wird mir schon helfen, erst mal das Fett abtragen, da kann ich nicht viel falsch machen. Was muss ich eigentlich finden? Ach, das finde ich morgen auch noch! Endlich nach Hause! – Der 2. Tag: Was habe ich heute zu unternehmen? Verdammt, warum meint mein Assistent, dass es nicht gut ist, dass ich diesen kleinen Hautnerv noch nicht gefunden habe. Feierabend! — Der 3. Tag: Nachtarbeit, müde! — Der 4. Tag. Ich bin schon wieder nicht vorbereitet, ich hatte so viel nachzuholen, bald ist erneut Testat und ich kann noch nicht einmal mein eigenes anatomisches Gebiet erklären. – 5. Tag, zwei Tage vor dem zweiten Testat: Panik! Ich habe überhaupt keine Ahnung. Ich muss noch so viel lernen, dass das alles niemals in meinen Kopf gehen wird. Ich habe zwar schon sehr viel gelernt, aber ich habe alles, was ich lernte, wieder vergessen. — 6. Tag, letzter Tag vor dem Testat: Ich glaube, mein Präpariergebiet kann ich jetzt inwendig und auswendig, aber ich weiß nichts vom Bein! Wenn ich über das Bein gefragt werde, dann falle ich durch! Ich muss noch dringend das Bein lernen! Nein, das lern ich jetzt nicht mehr. Mut zur Lücke. Nacht! — stop
august august
alpha : 1.02 — Der 23. August. Gewitter plustern sich über dem Haus. Ich bin ein wenig unruhig, weil ich mich einem besonderen Tag nähere. Ich habe für diesen besonderen Tag in meinem digitalen Kalender vor beinahe fünf Jahren folgenden Satz vermerkt: Truman kehrt zurück! Noch drei Nächte, dann ist es so weit, Truman wird zurückgekehrt sein und mir vielleicht auf eine Frage antworten, die ich ihm gestellt hatte. Ein Particle aus dem Sommer des Jahres 2007 erzählt davon: > Früher Abend. Sehr heiße Luft. Ich wünsche zu wissen, ob Geschöpfe, die über 5 Beinpaare verfügen, noch als Käfer anzusehen sind. Also schreibe ich einem Freund eine E‑Mail. Kaum habe ich meine Frage notiert, abgeschickt und mich erhoben, um etwas die Beine zu vertreten, kommt mit einem Pinggeräusch seine Antwort: Bin zurück > Sonntag, 26. August 2012. Haben Sie eine gute Zeit. Truman. — Es ist jetzt beinahe 5 Jahre später. Und wieder die Frage: Habe ich diese Geschichte erfunden? — stop