Aus der Wörtersammlung: seite

///

pseudonym no 5

2

ulys­ses : 6.05 — Ges­tern war das Wet­ter schön, ich such­te spa­zie­rend im Park nach einem Namen für mein Pseud­onym No 5. Sobald ich glaub­te, einen geeig­ne­ten Namen gefun­den zu haben, sag­te ich ihn laut vor mich hin, ich sag­te zum Bei­spiel: Felix May­er Kek­ko­la. Als Nach­mit­tag gewor­den war, gefiel mir die­ser Name noch immer, ich hat­te Lil­li M. Mur­phy bereits ver­wor­fen, auch Kas­par Joe Wei­de­mann und wei­te­re Namen waren gründ­lich ver­ges­sen. Ich notier­te den gewähl­ten Namen Felix May­er Kek­ko­la in mein Notiz­buch und ging nach Hau­se. Es ist selt­sam, ich war mit mei­nem neu­en Namen an der Sei­te stark unru­hig bis in den Abend hin­ein. Ich konn­te mir die­se Unru­he zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass ich nach­se­hen soll­te, ob der Name Felix May­er Kek­ko­la viel­leicht im Inter­net schon län­ge­re Zeit exis­tiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der die­sen Namen ver­wen­det, um sich zu ver­ber­gen und zu ver­öf­fent­li­chen in ein und dem­sel­ben Moment. Mehr­fach prüf­te ich mit Such­ma­schi­nen die Exis­tenz einer Spur. Kein Ergeb­nis für „Felix May­er Kek­ko­la“ war zu fin­den. Ich könn­te nun also ers­tens anneh­men, dass ein Mensch, der die­sen Namen trägt, nicht exis­tiert, was sicher nur sehr vor­sich­tig for­mu­liert wer­den darf. Zwei­tens könn­te ich jenen fei­nen Namen nun für mich beset­zen, okku­pie­ren sozu­sa­gen nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, was in die­ser Sekun­de genau so geschieht, indem ich mei­nen Text in die digi­ta­le Sphä­re sen­de. — stop

///

handohren

2

sier­ra

~ : oe som
to : louis
sub­ject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.

Lie­ber Lou­is, Mit­ter­nacht ist längst vor­über. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schla­fen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schlie­ße und doch wach lie­ge, zumin­dest nicht wirk­lich auf die ande­re Sei­te gelan­ge. Ich spü­re wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manch­mal erhe­be ich mich und gehe spa­zie­ren an Deck, oder ich besu­che Lin, die sich für den Monat Mai in Nacht­schicht befin­det. Seit drei Tra­gen sitzt sie in der Werk­statt an der Über­tra­gung des Romans Mol­loy von Samu­el Beckett. Ich darf ihr zuse­hen, wie sie Zei­chen für Zei­chen aus dem papie­re­nen Buch kopiert, eine geschmei­di­ge Bewe­gung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu rich­ten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüs­tert: Wach­tel­kö­nig. Als ob sie eine Anwei­sung geben wür­de, als ob ihre schrei­ben­de Hand über gehei­me Ohren ver­füg­te. Ich wünsch­te mir, ich könn­te ihre Hän­de ein­mal ein­ge­hend unter­su­chen, einen Bericht schrei­ben über die Ent­de­ckung der Hand­oh­ren kurz nach Mit­ter­nacht auf einem Schiff vor Neu­fund­land. Eigent­lich, lie­ber Lou­is, woll­te ich Dir von mei­nem ers­ten Besuch bei Noe in der Tie­fe berich­ten, was ich dort gese­hen habe, sei­ne Augen wie sie mei­ne Augen betrach­te­ten durch das Pan­zer­glas. Ich den­ke, ich bin noch nicht so weit. Ich wer­de Dir aus­führ­lich notie­ren, sobald ich ein­mal eine Nacht durch­ge­schla­fen habe. Es ist mög­lich, dass ich das Tau­chen nicht ver­tra­ge oder Noe’s hel­len Blick viel­leicht, der mich ver­folgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick ver­folgt mich. Manch­mal den­ke ich, dass nicht rich­tig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM

gesen­det am
27.05.2012
1620 zeichen

oe som to louis »

///

möwen

2

echo : 4.12 — Lese in Lou­is Kekkola’s Eis­buch Das Wal­fisch­or­ches­ter. Es ist jetzt kurz nach vier Uhr, Däm­me­rung, Vögel pfei­fen. In die­sem Moment tra­ge ich Hand­schu­he. Ich habe mein Ton­band­ge­rät ange­schal­tet und spre­che lei­se, in dem ich das zer­brech­li­che Buch­we­sen in Hän­den hal­te. Kaum habe ich eine Sei­te abge­tas­tet, schlie­ße ich den Kühl­schrank, gehe in der Woh­nung spa­zie­ren und las­se mir alles durch den Kopf gehen. Dann keh­re ich zurück und lese mit damp­fen­dem Atem wei­ter. Höre in die­sen Minu­ten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekun­den Zeit erteilt, um das Buch der unge­stü­men war­men Luft mei­ner Woh­nung aus­zu­set­zen. Auf Sei­te 87 ent­de­cke ich Lou­is Kekkola’s Notiz über das Leben der Möwen an nor­di­schen Strän­den. Er habe, schreibt er, in sei­nem Leben noch nie eine Möwe berührt. Das ist erstaun­lich, ich glau­be, es exis­tie­ren nur weni­ge Men­schen, die je eine Möwe mit ihren Hän­den berühr­ten. Auch ich habe noch nie eine Möwe mit mei­nen Hän­den berührt. Ich könn­te das ändern, ich soll­te ans Meer fah­ren. — stop
ping

///

seelenkästchen

2

zou­lou : 0.02 — Ich balan­cie­re das Kreuz, das aus Eisen gedreht wur­de, im Zug zwi­schen den Hän­den. Wun­der­schö­ne wei­ße Ber­ge am Hori­zont, ent­lang der Stre­cke blü­hen Apfel­bäu­me. Der Mann, der sich das Kreuz anse­hen will, ist Künst­ler. Er arbei­tet aus­schließ­lich an Kreu­zen. Das Kreuz mei­nes Vaters soll kost­bar, soll über 200 Jah­re alt sein, wird er bald erzäh­len, wir haben es in Süd­ti­rol auf einem Schutt­berg gefun­den. In der Hal­le fla­ckern offe­ne Feu­er. Es ist still. Ein paar Flie­gen sind im war­men Licht in der Luft zu erken­nen und die Hand des Schmie­des, klein und weich. Sie fährt die fei­nen Schmuck­li­ni­en des Kreu­zes ent­lang, da und dort feh­len Spit­zen. Jede der feh­len­den Spit­zen wird geschätzt, wie sie wohl aus­ge­se­hen haben mag und was sie viel­leicht kos­ten wird. Es ist nicht das Mate­ri­al, sagt der Mann, es ist heut­zu­ta­ge die Zeit, ver­ste­hen Sie, die Arbeits­zeit. Er öff­net behut­sam die Tür eines Gehäu­ses, das sich im Zen­trum des Kreu­zes befin­det. Jetzt schließt er es wie­der, tritt einen Schritt zur Sei­te und erkun­digt sich, ob ich den wis­se, dass die­ses Gehäu­se, ein soge­nann­tes See­len­käst­chen sei, ein Ort, an dem sich die See­le eines ver­stor­be­nen Men­schen aus­ru­hen kön­ne, bis sie wei­ter him­mel­wärts auf­stei­gen wür­de. Eine wun­der­vol­le Erfin­dung. Es ist für mich die ers­te Begeg­nung mit einer Form, die eine kon­kre­te Vor­stel­lung der Grö­ße einer Men­schen­see­le sofort ent­ste­hen lässt. Ich sage zu dem Mann, der dicht neben mir steht, dass sie doch klei­ne Wesen sind, die See­len der Men­schen. Und dann gehe ich wie­der. Es ist schon hal­ber Nach­mit­tag. – stop

ping

///

am telefon

2

romeo : 0.03 — Ich hat­te vor­ges­tern mit einem Amt tele­fo­niert. Ich saß auf einem Stuhl und ver­zeich­ne­te in einem Notiz­block, wel­che Papie­re das Amt benö­tigt, um ent­schei­den zu kön­nen, was nun von amt­li­cher Sei­te her zu tun ist, nach­dem mein Vater nicht mehr lebt. Ich hör­te die Stim­me einer jun­gen Frau, sie sag­te: Haben sie schon eine Ster­be­ur­kun­de erhal­ten? Wenn sie eine Ster­be­ur­kun­de erhal­ten haben, sen­den Sie uns das Doku­ment bit­te zu, damit wir nach­voll­zie­hen kön­nen, dass ihr Vater gestor­ben ist. Solan­ge wir ihre Urkun­de nicht erhal­ten haben, ver­ste­hen sie, ist ihr Vater den Fak­ten nach noch am Leben. Ich schick­te ein lei­ses Lachen durchs Tele­fon, ein lei­ses Lachen kehr­te von der ande­ren Sei­te her zurück. Ges­tern tele­fo­nier­te ich wie­der­um mit der jun­gen Frau vom Amt. Ich teil­te ihr mit, dass ich das Doku­ment zu ihr hin abge­schickt haben wür­de. Ein sehr selt­sa­mer Moment. Ich war, wäh­rend ich tele­fo­nier­te, wie­der ein­mal in der Lage gewe­sen, mei­nen Vater zu sehen, wie er vor­sich­tig, Schritt um Schritt, die Trep­pe her­un­ter­kommt. Ich press­te den Tele­fon­ap­pa­rat an mein rech­tes Ohr, mit dem lin­ken Ohr erwar­te­te ich, dass die Stim­me mei­nes Vaters in der nächs­ten Sekun­de hör­bar wer­den wür­de. — stop

///

stand clear to the closing doors

2

sier­ra : 0.27 —  War auf dem Weg süd­wärts in einem Sub­way­zug. Hat­te mein Notiz­buch in der Hand und notier­te Wör­ter für Geräu­sche, die ich hör­te. Heu­len. Schep­pern. Klir­ren. Zischen. Pfei­fen. Bald waren alle nahe lie­gen­den Mög­lich­kei­ten ver­zeich­net, und so fing ich an, Wör­ter zu erfin­den, dschumm dschumm. Das war kei­ne leich­te Arbeit, vor allem das Notie­ren von Hand in die­ser schwan­ken­den Land­schaft war kaum mög­lich gewe­sen, ich mach­te anstatt Wör­tern Zeich­nun­gen, die sich über eine gan­ze Sei­te mei­nes Notiz­bu­ches erstreck­ten. Und plötz­lich war da eine Stim­me, eine beson­de­re Stim­me. Es war die Stim­me einer Frau, die ich hör­te. Sie reis­te mit im Zug, ver­kün­de­te die Namen der Sta­tio­nen, die wir bald errei­chen wür­den. Die Stim­me kam aus einem Laut­spre­cher, der in die Decke des Wag­gons ein­ge­las­sen war. Eine sanf­te Stim­me, eine Stim­me, die ich viel­leicht des­halb wahr­ge­nom­men hat­te, weil man in ihr eine Spur von Anteil­nah­me ver­neh­men konn­te, eine Freu­de zu spre­chen, die­se Wör­ter auf­zu­sa­gen, Cham­bers Street. Ein Satz schien ihr beson­ders am Her­zen zu lie­gen: Stand clear to the clo­sing doors! Die­sen Satz wie­der­hol­te sie bei­na­he zärt­lich immer dann, wenn der Zug eine der Sta­tio­nen wie­der ver­las­sen soll­te. Es war wie eine Melo­die. Ich hör­te auf zu schrei­ben, und ich mach­te eine Ton­auf­nah­me, beob­ach­te­te den Aus­schlag des Zei­gers auf mei­ner Maschi­ne. Als wir eine hal­be Stun­de spä­ter die End­sta­ti­on des Zuges erreich­ten, South Fer­ry, mach­te ich mich auf die Suche nach der Frau, der ich zuge­hört hat­te. Es war eine klei­ne Frau, eine dun­kel­häu­ti­ge Frau mit wei­ßem Haar, sie war sehr fein geschminkt, etwa 60 Jah­re alt, sie unter­hielt sich, als ich an ihr vor­über­kam, mit einem Herrn, der wie sie selbst die blaue Uni­form der New Yor­ker Ver­kehrs­be­trie­be trug. Sie schien sehr glück­lich zu sein, vol­ler Freu­de, eine leuch­ten­de Per­son, dschumm dschumm. — stop

ping

///

PRÄPARIERSAAL : schwärme

2

tan­go : 1.16 — Ges­tern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich mei­ne ana­to­mi­sche Ton­band­ma­schi­ne wie­der ange­wor­fen. Ich hör­te eine Auf­nah­me, die ich mit der Beschrif­tung No 87 ver­se­hen hat­te. Lei­der konn­te ich mich nicht erin­nern, wo das Doku­ment auf­ge­nom­men wor­den sein könn­te, weil ich ver­säum­te, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der spre­chen­den Per­son zu notie­ren. Eine Frau­en­stim­me war zu hören und das Zwit­schern von Vögeln. Die Stim­me sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nach­ei­fern woll­te. Mehr­fach muss­te ich die Auf­nah­me in einem ers­ten Durch­gang anhal­ten und wie­der­ho­len, um ver­ste­hen oder erah­nen zu kön­nen, was die Stim­me gesagt hat­te. Ich habe ihr einen pro­vi­so­ri­schen Namen gege­ben. Mela­nie erzählt: > Es ist eine auf­re­gen­de Zeit. Da sind Schwär­me von Gedan­ken, Geräu­schen, Bil­dern, Gerü­chen in mei­nem Kopf. Ich kann sie jeder­zeit her­vor­ho­len. Manch­mal kom­men sie von selbst. Unge­fragt. Viel­leicht dar­um, weil ich etwas Beson­de­res erle­be. Oft habe ich schon den Ver­such unter­nom­men, von mei­nen Erfah­run­gen zu berich­ten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie ver­ste­hen, ich bin stolz, der Auf­ga­be gewach­sen zu sein. Des­halb erzäh­le ich mit Begeis­te­rung. Ich habe zum Bei­spiel davon erzählt, dass ich sehr ger­ne an Mus­keln prä­pa­rie­re. Ich habe von der luzi­den, perl­mutt­far­be­nen Haut berich­tet, die Mus­keln umgibt. Ich habe von der Befrie­di­gung erzählt, die ich emp­fin­de, wenn ich einen Mus­kel voll­stän­dig frei­ge­legt habe, wenn ich den Mus­kel begrei­fen konn­te, sei­nen Ursprung und sei­nen Ansatz erken­nen. Ich habe, wäh­rend ich erzähl­te, mit mei­nen Hän­den vor­aus­ge­ar­bei­tet, habe mit mei­nen Hän­den auf dem Tisch Bewe­gun­gen aus­ge­führt, als war­te­te dort eine Struk­tur, die ich noch rasch prä­pa­rie­ren soll­te. Hand­ar­beit, sag­te ich, wenn du eine gute Ärz­tin sein willst, musst du zunächst eine gute Hand­wer­ke­rin sein. Wenn du nicht Hand anle­gen willst an einen Men­schen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Pro­fes­so­rin erklär­te ein­mal: Sei­en Sie neu­gie­rig. Ver­fol­gen Sie die Struk­tu­ren wei­ter bis zu ihrem Ende. Glau­ben Sie nichts, prü­fen Sie, ob das, was in den Ana­to­mie­bü­chern steht, wirk­lich stimmt. Sehen Sie nach und sie wer­den mit Struk­tu­ren belohnt. — Ja, es ist auf­re­gend. Eine Assis­ten­tin notier­te eine wun­der­ba­re Geschich­te für mich. Das war an dem Tag gewe­sen, als Gehir­ne ent­nom­men wor­den waren. Da sei eine Kol­le­gin durch den Saal auf sie zuge­kom­men und habe ihr ein Gehirn in die Hän­de gelegt. Sie woll­te ihr eine ers­te Erfah­rung schen­ken, und sie woll­te in die­sem bedeu­ten­den Moment an ihrer Sei­te sein. Das Gehirn, ihr ers­tes Gehirn, sei uner­war­tet schwer gewe­sen. Sie erin­ner­te sich gut an ihre Sor­ge, sie könn­te das Gehirn fal­len las­sen. Sie habe in die­sem Augen­blick dar­an gedacht, dass sie eine ganz Welt in Hän­den hal­te, Träu­me eines Lebens, Bil­der, Sät­ze, Wör­ter, Wör­ter, die nie wie­der erreich­bar sein wer­den. – stop

ping

///

south ferry : ein mann

2

del­ta : 0.32 — Im Was­ser das Wüh­len der Schrau­ben, die sich der Fahrt des Schif­fes ent­ge­gen­stem­men. Dann Ruhe, Stil­le, eine aus­at­men­de Bewe­gung, indem sich die Fäh­re dem Lan­de nähert, glei­ten­de Fahrt. Fang­ar­men einer Got­tes­an­be­te­rin ähn­lich lau­ern Gang­ways in den Schat­ten der Hafen­ter­mi­nals. Ein Matro­se steht dort, sehr gefähr­lich, hoch über schäu­men­dem Was­ser. Es ist das letz­te Schiff sei­ner Schicht, drei­ßig Fäh­ren hat er an die­sem Tag schon in der Annä­he­rung gese­hen. Am Bug ste­hen Men­schen, sie wer­den grö­ßer, er kann Gesich­ter erken­nen, ihren Atem in der kal­ten Luft. Man­che foto­gra­fie­ren. Ande­re ver­su­chen in der Men­ge einen Platz zu errei­chen, von dem aus sie unver­züg­lich los­lau­fen wer­den, ein klei­ner Vor­sprung, ein oder zwei Minu­ten Zeit. Das Schiff kommt von der Sei­te her, von rechts, es schrammt an schwe­ren Holz­pfäh­len ent­lang, sie geben nach unter dem Gewicht des mäch­ti­gen Kör­pers, ein Äch­zen, die rei­sen­den Men­schen suchen Halt in die­ser Sekun­de, dann, in einer sanf­ten Bewe­gung dreht sich das Schiff, kommt näher, schmiegt sich an, so dass kei­ne Hand, nicht die kleins­te, zwi­schen Schiff und Steg gelegt wer­den könn­te. Das ist der Moment, da der war­ten­de Mann den Weg in die Stadt frei­ge­ben, das ist der Moment, da er den war­men Geruch der Men­schen wahr­neh­men kann. Ein Tier kommt auf ihn zu, es ist eine Schlan­ge, die drei oder vier Minu­ten sei­ner Zeit an ihm vor­über­zie­hen wird. Gera­de war sie noch schweig­sam, jetzt spricht sie, sie spricht an ihrem Kopf und auch von ihren Sei­ten her. Und da ist ein offe­ner Blick, den der Mann viel­leicht wahr­neh­men kann, mein Blick, ein Blick, der sich um ihn küm­mert, der sich auf den Land­ma­tro­sen vor­be­rei­tet hat­te, der ein­sam­meln will, jede ein­zel­ne sei­ner Bewe­gun­gen, um sie spä­ter ein­mal wie­der­ho­len zu kön­nen. — stop

///

upper new york bay : eine minute auf der samuel I. newhouse

2

ulys­ses : 17.58 — Sta­ten Island Fäh­re gegen 15 Uhr. Eine Frau und ein Mann, die tief schla­fend Sei­te an Sei­te sit­zen und doch auf eine selt­sa­me Wei­se mit­ein­an­der zu spre­chen schei­nen. Sie tra­gen bei­de kei­ne Zäh­ne, viel­leicht weil sie mor­gens ver­ges­sen haben, sie ein­an­der in den Mund zu legen. Ihre Schlä­fen, eine lin­ke und eine rech­te Schlä­fe, zuein­an­der gelehnt. Lider, ala­bas­ter­far­ben, durch­sich­tig bei­na­he, hier, an der Bewe­gung der Aug­äp­fel, ist zu erken­nen, dass sie kom­mu­ni­zie­ren. Eine Hand des Man­nes ruht, gleich­wohl schla­fend, auf dem Bauch der Frau. Drau­ßen, hin­ter Salz­fens­tern, die Was­ser­fah­ne eines Feu­er­lösch­boo­tes. Und Möwen, schwe­re Möwen, die das Schiff betrach­ten, als hät­ten sie es noch nie zuvor gese­hen. Gleich wer­den die Schla­fen­den sich erhe­ben. Sie wer­den, als ob sie in ihrem Inne­ren über eine gehei­me Sand­uhr ver­füg­ten, ihre Augen öff­nen und sich bug­wärts auf den Weg machen, Sekun­den nur, ehe eine Laut­spre­cher­stim­me sie zum Ver­las­sen der Fäh­re auf­for­dern wird. — Leich­ter Regen. — stop
ping

///

downtown south ferry : lorra

2

nord­pol : 0.22 — Elends­men­schen unter Decken, unter Män­teln, unter Kar­tons ver­bor­ge­ne Per­so­nen­we­sen, zer­schla­ge­ne, gefro­re­ne, eitern­de Gesich­ter zu Tau­sen­den auf der Stra­ße, in Tun­nels, Haus­ein­gän­gen, Parks. Ich kann nicht erken­nen, ob sie Frau­en oder Män­ner sind, sie spre­chen und bewe­gen sich nicht, oder nur sehr lang­sam, als wür­den sie sich in einer ande­ren Zeit befin­den. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu spre­chen ver­fügt, wan­dert in der Sub­way, eine äußerst schwie­ri­ge Arbeit, das Erzäh­len immer wie­der ein und der­sel­ben Geschich­te: Guten Abend, mei­ne Damen und Her­ren! Ich bit­te um ihre Auf­merk­sam­keit! Ich bin Lor­ra, ich bin 32 Jah­re alt, ich bin woh­nungs­los, ich habe kei­ne Arbeit, ich habe Kin­der, wir müs­sen über den Win­ter kom­men. Von Wag­gon zu Wag­gon. Von Zug zu Zug. Stun­de um Stun­de. Sie nimmt auch zu essen, zu trin­ken, Papier oder lee­re Fla­schen an. Alles hilft, sagt Lor­ra, alles hilft. Sie wird nicht ver­höhnt, ver­trie­ben oder miss­ach­tet, sie bekommt, sooft ich ihr in der Linie 5 down­town South Fer­ry begeg­ne­te, zwei oder drei Dol­lar über­reicht. Abends sitzt sie im War­te­saal der Fäh­re und schläft. Ein­mal nähert sich ein Poli­zist. Lor­ra war ein wenig zur Sei­te gefal­len. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schul­ter: Mam, ist alles in Ord­nung? Aber Lor­ra ant­wor­tet nicht. Ein zwei­ter Poli­zist kommt hin­zu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie rich­ten die schla­fen­de Frau gemein­sam auf. Sie tra­gen jetzt Hand­schu­he von Plas­tik. Sie spre­chen so lan­ge lei­se auf Lor­ra ein, bis sie die Augen öff­net. Dann macht sie die Augen wie­der zu. — stop

ping



ping

ping