india : 17.02 - Gigi Ibrahim, ägyptische Aktivistin, twittert von Mitternacht bis 10 Uhr morgens folgende Sequenzen in englischer Sprache, 42 Tweets in arabischer Sprache sind an dieser Stelle nicht wiedergegeben:
Gigi Ibrahim @Gsquare86 17h
My friend’s uncle was shot and killed in #Alexandria along 5 others +100s injured while millions of people cheering Sisi to end bloodshed
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 17h
Follow @Fo2ElSoto7 reporting on his uncle’s death and the injured from inside the hopital in #alexandria ..may he RIP :(
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 17h
Follow @Moud_Aly for updates in #Alexandria
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 17h
Comrade Medhat El Shinnawy got detained by police in #Damitta for raising anti-SCAF banner along with Susan Ghoniem and others
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 17h
The situation in #alexandria is intense, 150 arrested including women and injured (translation of #PT ) armed thugs around the mosque
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 16h
@Beltrew by 6 oct brigde on nasr st …it’s far from center that why u cant see it
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 16h
@alaa @Fo2ElSoto7 while army and police there but not intervening
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 14h
Reprots on clashes by #Rabaa pro Morsy sit-in resulting in 3 dead and many injured (so far), seems like Sisi’s mandate is in effect.
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 14h
I live in #NasrCity close to #Rabaa and I can hear the sound of the ambulances there
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 13h
@MowSamy the question is how did these weapons get there in the first place?
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 13h
@QALAWA @MowSamy exactly then who is responsible and should be prosecuted? The leaders of ikhwan not killing protesters
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 13h
@MowSamy to arrest the leaders of ikhwan even go into the sitin to capture them, why r these ppl still free?
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 12h
I am hearing gun shots from home ..near rabaa #NasrCity
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
I literally am hearing machine guns being fired #NasrCity near #Rabaa
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
Still hearing gun fire being shot while sitting home near / Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
It’s a bit ironic that the tear gas being fired at Pro-Morsy protesters was probably shipped/delivered under Morsy to be used against us
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
It is also ironic to read tweets coming from #Rabaa abt how horrible the tear gas is,simply cuz it has been a while since MB have smelled it
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
Let me be clear,I didnt join protests calling for Sisi’s mandate &i’m against Morsy & #Rabaa sitin but I only believe in one slogan #ACAB
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
Repetitive gun shots #NasrCity ..near #Rabaa
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 11h
@0301kalam check my timeline u idiot #block! / Gigi Ibrahim @Gsquare86 10h
I love hearing chruch bells in the morning ..for a change #NasrCity
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 10h
Still hearing gun shots being fired repetitively #NasrCity …near #Rabaa
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 9h
#Rabaa field hospital via @soltanlife / Gigi Ibrahim @Gsquare86 9h
GRAPHIC people killed at #Rabaa via @3askarKateloon / Gigi Ibrahim @Gsquare86 9h
GRAPHIC I’m against Morsy, against Sisi/SCAF mandate and against police killing protesters (pic) / Gigi Ibrahim @Gsquare86 9h
The sound of gun fire on and off since 3am until now ..near #Rabaa #NasrCity
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 9h
GRAPHIC makeshift hospital 4hrs ago via @moh_sawaf / Gigi Ibrahim @Gsquare86 9h
:( RT @kfahim: Nineteen bodies in the #Rabaa field hospital just now. / Gigi Ibrahim @Gsquare86 8h
I haven’t slept all night and I cant sleep ..this is really too much happening to take in at once #mentalbreakdown
Gigi Ibrahim @Gsquare86 8h
I am hearing someone yelling “ya allah” on the street by my house near #Rabaa #NasrCity
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 8h
I have a problem w/ people who are ok & actually happy w/mascares even if I oppose those being killed & would like to see them prosecuted
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 8h
MB will not leave any easier now and anyone who was ever in clashes b4 never forgets the moment ur friend was killed regardless of the cause
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 8h
I will never forgive all the 60 years of past regimes, political corruption & dictatorship is the root of all nightmares we are living today
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 7h
@Agenda_kid @SoniaElSakka @TheKaouther @hfakhry dont open ur mouth before actually knowing what u r talking about #idiot
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 7h
:(( I still cant sleep ..I will try
/ Gigi Ibrahim @Gsquare86 8h
Seems like in all Arab Spring states, question of political Islam is dominating the streets and the political scene #Tunisia #Egypt #Libya / Gigi Ibrahim @Gsquare86 11m
I woke up hoping that the massacre at Rabaa was just a nightmare to find out that I am daydreaming ..last night was a tragedy RIP
— stop ::: gigi ibrahim on twitter
Aus der Wörtersammlung: still
südostnordwest
~ : oe som
to : louis
subject : SÜDOSTNORDWEST
date : july 02 13 8.12 p.m.
Taucher Noe seit 851 Tagen unter der Wasseroberfläche. Tiefe 812 Fuß. Position: 42°55’NORD 51° 42’ WEST. stop. Es ist kurz nach Mitternacht, die See wieder ruhig. Gestern, ungefähr zur selben Tageszeit, wurden wir wie aus dem Nichts von einer mächtigen Welle getroffen. Beinahe wären wir gekentert. Entsetzt über das Vorgefallene, lagen wir einige Minuten still. Dann machten wir uns auf die Suche, wollten wissen, ob wir noch vollzählig waren. Momente voller Demut. Ich erinnere mich an Lidwiens zartes, blasses Gesicht, wie sie vor dem Funkgerät sitzt und Noe anruft, er möge sich melden. Es war wie ein Gebet, sie fürchtete, ihn verloren zu haben, das Tau, an dem er in der Tiefe schwebt, könnte gerissen sein, aber wir spürten ein leichte, schaukelnde Bewegung unter dem Schiff. Es hatte den Anschein, als würde Noe unter uns durchs Dunkel pendeln. Nach einer halben Stunde geduldigen Hoffens meldete er sich, wollte wissen, was geschehen war. Natürlich antworteten wir ausweichend, um ihn nicht zu beunruhigen. Erst vergangene Woche war es gewesen, da wir Noe erklärten, dass zu seinen Füßen weitere 10660 Fuß Tiefe warteten. Noe war für zwei Tage sprachlos gewesen, dann begann er Murphys Geschichte zu lesen Stunde um Stunde, setzte immer wieder von vorn an, das Buch scheint ihn zu beruhigen. In diesem Moment, da ich Dir schreibe, geht es wieder los: Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues. Murphy saß, als ob es ihm frei stünde, im Schatten, in einer Gasse West Brombtons. Hier hatte er wohl schon sechs Monate lang gesessen, getrunken, geschlafen, sich an- und ausgezogen, in einem mittelgroßen Käfig mit Front nach Nordwesten und ununterbrochener Sicht auf mittelgroße Käfige mit Front nach Südosten. – Es ist uns, lieber Louis, ein gutes Zeichen, dass Noe wieder liest. Wir haben ihm versprochen, noch in diesem Monat eine Brille aufzutreiben, ein Gestell zu fabrizieren, das an seinem Helm befestigt werden kann. Manchmal denke ich, Noe glaubt uns nicht mehr, keinem unserer Versprechen, keiner Idee. — Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
03.07.2013
2071 zeichen
sieben punkte
himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
louis 1 + 2 + 3
kilimandscharo : 22.58 — Merkwürdige Stille an diesem Tag, da die Nachricht gesendet wird, dass tatsächlich möglich geworden ist, menschliche Wesen zu klonen. Ich stellte mir vor, wie in zwei oder drei Jahrzehnten Louis 1 und Louis 2 und Louis 3 mit mir, mit Louis 0 auf Reisen gehen. Wie sie sich darum streiten, meinen Koffer tragen zu dürfen. Wie ich sie betrachte und mich wundere, dass ich mich vor ihrem Anblick nicht fürchte. — stop
vögel
~ : oe som
to : louis
subject : VOEGEL
date : april 24 13 2.05 p.m.
Ich hörte, wie Noe mit Vögeln sprach. Eine Stunde lang war seine knisternde Stimme zu vernehmen. Er flüsterte: Hallo, hier ist Noe, seht ihr mich? Schaut her, was für ein Wunder! Aber dann, sobald sich die Vögel von ihm entfernten, wurde seine Stimme laut, sein Ausdruck nachdrücklich. Er versuchte sich bemerkbar zu machen, als ob er hoffte, sie würden ihn mit sich nehmen. Niemand kann seine Stimme hören, nur wir können Noes Stimme hören! Gegen drei Uhr habe ich Taucher Noe angesprochen, um ihn festzuhalten, um ihn daran zu erinnern, dass wir noch bei ihm sind. Noe, sagte ich, Noe, hör zu! Ich erwarte, dass Du mir erzählst, was Du siehst! — Da sind Vögel, antwortete Noe, sehr große Vögel, Vögel, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Wir wollen davon schweigen! — Der Morgen kam glücklicherweise rasch, Martin machte sich unverzüglich auf den Weg in die Tiefe, noch drei oder vier Stunden und er wird Noe erreichen. Unser Taucher indessen war eingeschlafen. Mehrfach habe ich versucht, ihn zu wecken. Ich sagte: Noe, wie geht es Dir? Erzähl mir, was sind das für Vögel, die Du siehst? Keine Antwort. Stille von der Tiefe her, nichts als Noes langsam schlagendes Herz. Gegen den Mittag zu vermerkte Noe plötzlich, wir hätten ihm schon lange Zeit eine Brille versprochen. Ich meine, fuhr Noe fort, dass ich ein Recht auf eine Brille habe, wenn ich schon lese, stundenlang aus Büchern lese, die ich weder wählte noch wünschte. Meine Augen schmerzen, Ihr solltet mich heraufholen und mir eine Brille verpassen. Das sagte Noe noch vor wenigen Minuten. Es klang wie eine Drohung. — stop. — Mittwoch, 24. April 2013. Taucher Noe seit 781 Tagen unter Wasser. — stop. Tiefe 828 Fuß. — stop. Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
24.04.2013
1852 zeichen
i love you
romeo : 15.18 — Am See im Palmengarten. Erste milde Stunden. Abendsegler jagen durch die Dämmerung. Für einen Moment der Eindruck, es könnte sich bei den Schatten der Fliegenjäger um kleine, spielende Engel handeln. Auf der Bank neben mir ruht mein Filmtelefon, soeben erscheint der Feuerball einer detonierenden Bombe in der Stadt Boston nahe einer Marathonstrecke. Wenn ich den Kanal wechsele, Skateboardfahrer, die über Hausdächer springen auf der Insel Santorin, ein Mädchen mit Zahnspange trällert: I love you, i love you! Bald dunkle Rauchpilze über der Stadt Aleppo. Auf einer Straße liegt der Körper einer Frau, der sich noch bewegt, obwohl sie unbedingt tot sein müsste, so furchtbar die Verletzungen, die ihr zugefügt worden sind. Ich spiele den Film immer wieder ab, warum? Als es dunkel wird über dem Wasser, Stille. Man hört in der Lichtlosigkeit nichts vom Jagen der Tiere, wenn man sie nicht sieht. Wenige Stunden später wird Wladimir Putin sagen, bei dem Anschlag in Boston handele es sich um ein barbarisches Verbrechen. — stop
von der freiheit der maria
victor : 6.28 — Jeden Samstag kam Maria ins Café Gazette. Wenn Mittwoch war, konnte man sie im Hemingways besuchen, einem heruntergekommenen Laden in der Nähe des Hauptbahnhofes. Montags saß sie in der Bar-Celona. An Dienstagen und Freitagen war sie mal da und mal dort, und am Donnerstag ging sie ins Kino. Es war immer dasselbe, die kleine Frau, deren Alter niemand zu bestimmen wusste, kam herein, setzte sich an einen freien Tisch, oder wartete so lange im Stehen, bis ein Tisch freigeworden war, um sofort mit ihrer Arbeit zu beginnen. Sie bedeckte den Tisch, an dem sie Platz genommen hatte, mit weißen Papieren in unterschiedlichen Größen, holte aus einem Kofferwagen, der ihr ständiger Begleiter war, kräftige Filzstifte und begann zu malen. Wer sie einmal genau beobachtet hatte, wird vielleicht bemerkt haben, dass sie bei Eintritt in das Café oder die Bar, mit einem scheuen Blick alle anwesenden Menschen wahrgenommen oder in sich aufgenommen hatte, um sie nun zu porträtieren, einen Menschen nach dem anderen Menschen, auch dann, wenn sie den Ort längst verlassen hatten. Maria malte langsam, sie malte wie ein Kind, manchmal biss sie sich auf die Zunge. Sie war eine sehr stille, eine stumme Frau, und ihr Gesicht vom Leben ohne Obdach gezeichnet. Sie hatte einen Buckel, der mit den Jahren zu wachsen schien und sie immer weiter gegen den Boden drängte. Viele Menschen kannten sie. Vielleicht kann man sagen, dass es sich bei Maria um eine Ikone der Stadt handelte, sie lachte niemals, aber alle Menschen auf ihren Bildern lachten. Alle sahen sie aus wie Maria, ihre Gesichter genau genommen, Augen, Nase, Mund, aber die Haare waren andere Haare, auch die Farben der Hemden, Pullover, Krawatten, Blusen, waren genau jener Sekundenwirklichkeit entnommen, da Maria von der Straße hereingekommen war. Ja, sie malte langsam, und wenn es einmal sehr still war, konnte man die Geräusche ihrer Werkzeuge deutlich hören. Sobald Maria alle Menschen porträtiert hatte, erhob sie sich und ging von Tisch zu Tisch, um ihre kleinen, wertvollen Malereien zu verkaufen. Sie verlangte nie mehr als 1 Deutsche Mark. Im Laufe der Jahre kaufte ich immer wieder einmal eines ihrer Bilder, also Maria und mich, mal mit kurzen, mal mit längeren Haaren. Da war der Sommer der weißen Hemden und dort der Sommer der blauen Hemden. Einmal, es war Winter gewesen, trugen wir einen Hut. – stop
elisabeth
himalaya : 6.10 — Im Winter des vergangenen Jahres, an einem windig kalten Tag, besuchte ich in Brooklyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszweska und seine Frau Elisabeth. Sie wohnen nahe der Clark Street in einem sechsstöckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hatte den alten Mann während einer Fahrt auf einem Fährschiff zufällig kennengelernt. Er beobachtete, wie ich Fahrgäste fotografierte, die ihre Namen heimlich in die hölzernen Sitzbänke des Schiffes ritzten. Er sprach mich freundlich an, wollte mir einen Schriftzug zeigen, den er selbst drei Jahrzehnte zuvor an Ort und Stelle in der gleichen Weise wie die beobachteten Passagiere eingetragen hatte. Stolz war der alte Mann gewesen. Wir führten ein kurzes Gespräch über die New Yorker Hafenbehörde, Eisenbahnen und Flugzeuge, weiß der Himmel, wie darauf gekommen waren. Als wir das Schiff verließen, lud Mr. Tomaszweska mich ein, einmal zu ihm zu kommen, darum stieg ich nur wenige Tage später in den sechsten Stock des schmalen Hauses auf den Höhen Brooklyns. Die Tür zur Wohnung stand offen, warme Luft kam mir entgegen, die nach süßem Teig duftete, nach Zimt und Früchten. Die Räume hinter der Tür waren verdunkelt. Ich hatte sogleich den Eindruck, dass ich vielleicht träumte oder verrückt geworden sein könnte, weil in diesem Halbdunkel an den Wänden, auch auf dem Boden, Lampen, Diodenlichter, glühten. Modelleisenbahnzüge fuhren auf schmalen Geleisen herum. Ich höre noch jetzt das leise Pfeifen einer Dampflokomotive, das meinen Besuch begleitete. Es war eine rasende Zeit, Stunden des Staunens, da in der Wohnung des alten Herrn eine sehr besondere Modellanlage gastierte, ja, ich sollte sagen, dass die Wohnung selbst zur Anlage gehörte, wie der Himmel zur wirklichen Welt. Alle Züge fuhren automatisch von einem Computer gesteuert, die Luft über den Geleisen roch scharf nach Zinn. Wir sprachen indessen nicht viel, Mr. Tomaszweska und ich, sondern schauten dem Leben auf dem Boden in aller Stille zu. An einem Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisabeth. Sie beachtete mich nicht, starrte vielmehr lächelnd auf eine kleine Klappe, die in die Wand des Hauses eingelassen war. Manchmal öffnete sich die Klappe und ich konnte für Momente das Meer erkennen, das an diesem Tag von grüngrauer Farbe gewesen war, wunderbare Augenblicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem kleinen Fenster erschien, lachte die alte Frau mit glockenheller Stimme auf, um kurz darauf wieder zu erstarren. Einmal setzte sich Mr. Tomaszweska neben seine Frau und fütterte sie mit warmem Orangenkuchen, den er selbst gebacken hatte. Und wie wir uns wieder auf den Boden setzten, um ein Modell des Orientexpress durch die Zimmer der Wohnung kreisen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemeinsam hier oben sehr glücklich seien. Er könne mit seiner Frau zwar nicht mehr sprechen, er könne sie nur noch streicheln, was sie irgendwie verstehen würde oder sich erinnern an die Sprache seiner Hände. Verstehst Du, sagte er, sie vergisst immer sofort, alles vergisst sie, auch wer ich bin, aber sie vergisst niemals nach den kleinen Engeln zu sehen, die uns besuchen, sie kommen dort durch die Klappe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wunder, sagte der alte Mann, wie schön sie lacht, mein junges Mädchen, nicht wahr, mein junges Mädchen. — stop
amsterdam
sierra : 7.05 — Immer wieder wundere ich mich darüber, wie ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Eindruck haben würde, Arbeit verrichtet zu haben, weitere Bilder erzeugt, Geschichten, Filme, Zeiträume von Abwesenheit. Ich erinnere mich, in einem dieser Räume kürzlich in Amsterdam gewesen zu sein, während ich zur selben Zeit im Zug durch südliche Landschaft reiste. Ich hatte das Bild eines Lädchens vor Augen, in welchem in einer Pfanne menschliche Ohren geröstet wurden. Es roch gut nach gebratenem Fleisch und natürlich frage ich mich, woher ich diese Vorstellung genommen habe. Menschen standen bis auf die Straße hinaus, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, eine Portion der gerösteten Ohren in einer Papiertüte entgegenzunehmen. 100 Gramm kosteten 72 englische Pfund, vielleicht war es deshalb, in Anbetracht des Preises, so still im Laden, man hörte nur ein Zischen, sobald aus einem Schäufelchen eine weitere Portion Ohren in die Pfanne fiel. Aber draußen auf der Straße war Tumult entstanden. Während die einen sich über den enormen Preis der Ohren beschwerten, waren andere sehr deutlich gegen den Verkauf menschlicher Ohren überhaupt eingestellt. Das sind gezüchtete Organe, sagten sie, sie waren nie an einem menschlichen Kopf befestigt. Andere hingegen empörten sich darüber, dass es doch verrückt sei, für etwas, das niemals echt gewesen war, eine derart exzellente Summe Geldes pro Gramm bezahlen zu müssen. Die einen wie die anderen schienen mir recht zu haben. Fenster gingen zu Bruch, berittene Polizei fegte über eine Brücke. Und wie ich in dieser Weise in einem Zug sitzend einen Film erlebte aus dem Nichts, beobachtete mich ein Freund. Ich bemerkte ihn nicht. Als ich ihm später erzählte, was ich erlebt hatte, sagte er, er habe indessen, in der Beobachtung meiner Person, nicht den geringsten Laut gehört. — stop
zwergseerosen
sierra : 6.38 — Vor Kurzem noch habe ich nicht gewusst, dass Lampenmedusen bevorzugt Zwergseerosen zu sich nehmen. Eigentlich müsste ich sagen, dass Lampenmedusen ihrer Aufgabe der Lichterzeugung nur dann nachzukommen in der Lage sind, wenn sie einige Gramm einer bestimmten Zwergseerosengattung aufgenommen haben. Diese Zwergseerosen nun sind wunderbare Wesen, die man mit bloßem menschlichem Auge nicht wahrzunehmen vermag. Sobald sie aber häufig sind, also gehäuft, sagen wir zehntausend Zwergseerosen in nächster Nähe zueinander, sehen wir eine rötliche Wolke, die sich in der Form einer flachen Linse sehr wohlzufühlen scheint. Unter einem Mikroskop betrachtet sind an jeder Zwergseerose wundervolle Blüten von roter Farbe zu erkennen, die sich langsam um die eigene Achse drehen, weswegen Zwergseerosen durch das Wasser wandernde Geschöpfe sind, schwebende, oder genauer, tauchende Blumen. Sie sollen zart nach Hummerfleisch schmecken, jedoch nicht genießbar sein, weil auch dann, wenn Menschen sie verkosten, eben jene Menschen in der Art der Lampenmedusen zu leuchten beginnen, ihre Haut und ihre Haare, dann fallen sie um und hören auf zu atmen. Einer, der das nicht glauben wollte, wurde gestern auf hoher See bestattet. Ein seltsamer Anblick, wie man berichtet, ein blaues Leuchten mit Armen, Beinen und einem Kopf, das langsam in der Tiefe verschwand. — Es ist schon weit nach Mitternacht, also Nachmittag geworden. Ich spaziere leise durch meine Wohnung, weil ich niemanden wecken möchte. Unter mir schlafen Menschen. Das ist immer wieder eine seltsame Vorstellung, dass sie sehr nah sind, nur durch etwas Holz und Bast und Stein von mir getrennt. Man kann in dieser Weise Jahre wohnen, ohne zu wissen, wen genau man atmen oder spazieren hört. Einer der Menschen unter mir, scheint im Schlaf zu sprechen. Wenn er zu sprechen beginnt, höre ich das Geräusch einer Tür, dann hört er auf zu sprechen. Für eine Weile ist es still. Es gibt viel zu erzählen im Schlaf. — stop