Aus der Wörtersammlung: vermutlich

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josephine auf dem bildschirm

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echo : 15.07 — Ges­tern Abend habe ich zum ers­ten Mal mit Jose­phi­ne, einer alten Dame, die in Brook­lyn wohnt, ein Gespräch über Sky­pe geführt. Ich weiß nicht genau, wie lan­ge Zeit ich benö­tig­te, sie davon zu über­zeu­gen, dass das Tele­fo­nie­ren mit­tels eines Com­pu­ters nicht gefähr­lich sei, viel­mehr ange­nehm, weil man ein­an­der sehen kön­ne, wenn­gleich etwas in der Zeit ver­zö­gert. Ich glau­be, es waren Mona­te gewe­sen. Ich muss­te ihr zuletzt hoch und hei­lig ver­spre­chen, kei­ne Foto­gra­fien von ihrem Abbild zu machen, oder nur dann, wenn sie mir das Foto­gra­fie­ren aus­drück­lich gestat­ten wür­de. — Frü­her Nach­mit­tag in Brook­lyn, die Son­ne schien noch, genau die Son­ne, die bei mir längst unter­ge­gan­gen war. Jose­phi­ne hat­te eine Lese­bril­le auf­ge­setzt, ihr rotes Haar schim­mer­te im hel­len Licht, das von den Fens­tern her auf sie fiel. Aber das Zim­mer, in dem sie saß, lag im Schat­ten. Ich konn­te eine Lam­pe erken­nen, die neben jenem Schreib­tisch stand, vor dem Jose­phi­ne Platz genom­men hat­te, um genau in die­sem Moment mein Gesicht auf einem Bild­schirm zu betrach­ten. Wir waren uns schon ein­mal per­sön­lich begeg­net, aber nicht in die­ser Wei­se, ich konn­te sehen, dass sie sich geschminkt hat­te und ein wenig ner­vös war, ver­mut­lich des­halb, weil sie nicht wie üblich im Gespräch mit ihrem Tele­fon auf und ab lau­fen konn­te. Wie geht es Ihnen, erkun­dig­te sie sich. Ich ant­wor­te­te, dass es mir gut gehen wür­de, eine leich­te Erkäl­tung viel­leicht, nichts Erns­tes. Es soll kalt wer­den in den kom­men­den Tagen, sag­te Jose­phi­ne. Sie sprach lang­sam, über­legt, wie immer, wenn sie in deut­scher Spra­che for­mu­lier­te, und sie lach­te und stand kurz dar­auf vor dem Com­pu­ter auf, sodass sie für mich unsicht­bar wur­de. Sie frag­te, ob ich sie noch hören kön­ne, das Bild, das ich auf dem Schirm mei­nes Com­pu­ters sehen konn­te, wackel­te jetzt, weil sich der Com­pu­ter der alten Dame selbst zu bewe­gen schien. Tat­säch­lich hat­te sie ihr Net­book vom Tisch geho­ben und war mit ihm zum Fens­ter gelau­fen, hat­te die klei­ne Maschi­ne auf das Fens­ter­sims gestellt, sodass ich einen Aus­blick hat­te auf die Brook­lyn Heights Pro­me­na­de, auf das duns­ti­ge Meer, es war ein wun­der­ba­rer Moment gewe­sen. Ich konn­te Men­schen erken­nen, die unter Regen­schir­men spa­zier­ten, es schien win­dig zu sein, Kin­der spiel­ten im Gar­ten des Hau­ses, unter des­sen Dach Jose­phi­ne seit Jahr­zehn­ten lebt, Laub wir­bel­te her­um, ein paar Läu­fer kreuz­ten durch das Bild, am Pier 5 anker­ten zwei Schlep­per. Es war ein bei­na­he ver­trau­ter Aus­blick gewe­sen. Und wie­der wackel­te das Bild und das Meer ver­schwand und Jose­phi­ne wur­de erneut sicht­bar. Kön­nen Sie mich sehen, woll­te sie wis­sen, kön­nen Sie mich wirk­lich sehen? — stop

jose­phi­ne

ping

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vor den kapverden

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del­ta : 6.58 — Vor zwei Jah­ren ein­mal mel­de­te sich mein Vater am Tele­fon, er woll­te mir eini­ge Gedan­ken über­mit­teln. Ich hat­te ihn gefragt, ob es Tief­see­ele­fan­ten in phy­si­ka­li­scher Hin­sicht mög­lich sei, Atem­luft über kilo­me­ter­lan­ge Rüs­sel in die Tie­fe zu lei­ten. Mein Vater sen­de­te meh­re­re Vari­an­ten einer Lösung die­ses Pro­blems, unter ande­rem dach­te er dar­über nach, dass die Luft gegen den stei­gen­den Druck des Was­sers ver­mut­lich in einem Kam­mer­sys­tem in klei­ne­ren Por­tio­nen nach unten gedrückt wer­den könn­te. Das leuch­te­te mir ein, ich war sehr zufrie­den mit die­ser Vor­stel­lung eines Luft­trans­port­we­sens. In der ver­gan­ge­nen Nacht habe ich mich an die Vor­stel­lun­gen mei­nes Vaters erin­nert, in einer Nacht, da ich Mel­dung erhielt, man habe vor den Kap­ver­den Tief­see­ele­fan­ten gesich­tet. Wie­der ein Fischer­boot, wie es sich in einer leich­ten Mee­res­strö­mung dreht. Schwei­gen­de Män­ner. Lam­pen­licht, das über das Was­ser springt. Die Män­ner betrach­ten auch in die­sen Minu­ten der Nacht schnau­ben­de Rüs­sel­spit­zen einer rie­si­gen Her­de Tief­see­ele­fan­ten, die sich viel­leicht soeben auf den Weg bege­ben, den Atlan­tik zu durch­que­ren, geräusch­voll atmen­de, sich lieb­ko­sen­de, sam­tig flei­schi­ge Knit­ter­blü­ten. — Leich­ter, küh­ler Regen. – stop

ping

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mululela

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bamako : 3.05 — Habe in den ver­gan­ge­nen Wochen ver­schie­de­ne Wör­ter­bü­cher unter­sucht, ins­be­son­de­re jene Samm­lun­gen, die im Hin­ter­grund zahl­rei­cher Text­edi­to­ren heim­li­che Arbeit ver­rich­ten. Es ist so, dass auf der Ebe­ne der Spra­chen, Nacht­men­schen in einem Wort exis­tie­ren, aber nicht Tag­men­schen. Das Wort Tag­mensch wird sofort als nicht kor­rek­tes Wort aus­ge­wie­sen. Es scheint dem­zu­fol­ge für am Tage leben­de Men­schen mög­lich zu sein, ande­re, näm­lich Men­schen, die über­wie­gend in der Nacht­zeit exis­tie­ren, mit einem Wort zu kenn­zeich­nen, wäh­rend hin­ge­gen Nacht­men­schen nicht mög­lich ist, jene Men­schen, die die Nacht ver­schla­fen, mit einem ein­deu­ti­gen Wort zu bezeich­nen. Das ist aus mei­ner Sicht zunächst selt­sam, eine Übung, die sich ver­mut­lich bald ändern wird, indem sich Lebens­ar­ten und Arbeits­wel­ten der Men­schen immer fort ver­dich­ten. — Flug­ha­fen. Leich­ter Schnee­fall. Es ist kurz vor drei Uhr. Eine rie­si­ge Anto­now-Maschi­ne rollt über das Flug­feld. Kein Laut zu hören vom Unge­tüm, das doch flie­gen kann. Weni­gen Minu­ten zuvor erzähl­te mir Mulu­le­la, 24, Trai­nee aus Kame­run, dass sich das Leben in Deutsch­land doch sehr vom Leben in Afri­ka unter­schei­de. In ihrem Dorf, zum Bei­spiel, spa­zie­re sie ein­fach los, wenn sie an jeman­den den­ken wür­de, um die­sen Men­schen sofort zu besu­chen. In Deutsch­land müs­se man zunächst tele­fo­nie­ren, fra­gen, sich ankün­di­gen. Über­haupt müs­se man hier für alles, aber auch wirk­lich alles bezah­len, nur das Was­ser in den Trink­brun­nen schei­ne kos­ten­los zu sein und die Luft zum Atmen. Ganz sicher sei sie sich in die­ser Sache aber nicht! — stop

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polaroidcafe

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depesche aus neuseeland

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ulys­ses: 6.58 — Viel­leicht liegt die Foto­gra­fie, die Rahel vor zwei Tagen im Zug kurz vor dem Flug­ha­fen mit ihrem Han­dy von mir mach­te, soeben in Neu­see­land auf einem Holz­tisch in der Küche ihres Hau­ses, dun­kel­grü­ne Wei­den, Scha­fe vor den Fens­tern. Ja, viel­leicht, das ist denk­bar. Sicher ist, dass die­se Auf­nah­me tat­säch­lich gemacht wur­de, und dass ich auf ihr ver­mut­lich etwas unru­hig wir­ken könn­te, weil ich Rahel so vie­le Jah­re nicht gese­hen hat­te, wie sie plötz­lich vor mir sitzt, ein Geist sozu­sa­gen, ich glaub­te, sie sei längst gestor­ben. Man hat­te mir erzählt, ein Freund, sie sei tot, das war plau­si­bel, so wie Rahel leb­te. Von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de war sie in dem Moment der Nach­richt ihres Able­bens nach Jah­ren voll­kom­me­ner Abwe­sen­heit, wie­der zu einer Anwe­sen­den gewor­den, eine Tote nun mit einem Sta­tus. Jah­re war sie ein Nichts gewe­sen, weder da noch dort, eine Lee­re. Und plötz­lich saß sie in mei­ner Gegen­wart im Zug und nann­te mich beim Namen. Sie wun­der­te sich, sie frag­te: War­um siehst Du mich so selt­sam an? Ich ant­wor­te­te, dass ich über­rascht sei. Lie­be Rahel, sag­te ich, ich kann noch nicht glau­ben, Dich hier zu sehen. Ja, so sprach ich zu ihr hin, ohne mich eigent­lich hören zu kön­nen. Lei­der war kaum Zeit für ein Gespräch gewe­sen, ehe Rahel aus dem Zug stür­men wür­de, um das Nacht­flug­zeug nach Sin­ga­pur noch zu errei­chen. In die­ser Zeit, die nur Minu­ten dau­er­te, erzähl­te sie, dass sie damals, vor vie­len Jah­ren, nach Neu­see­land gereist und dort geblie­ben sei. Sie habe Euro­pa bei­na­he ver­ges­sen, sie sei nur des­halb zurück­ge­kom­men, weil ihre Mut­ter gestor­ben war. Stolz erwähn­te sie, dass sie zwei Töch­ter habe, und ich stel­le mir nun vor, wie sie viel­leicht in die­sem Moment, da ich mei­nen Text notie­re, jene Foto­gra­fie gemein­sam betrach­ten, die auf dem höl­zer­nen Tisch der Küche in Neu­see­land liegt, aus­ge­druckt in schwar­zer und wei­ßer Far­be, das Gesicht eines Man­nes, der staunt, der im Grun­de glaubt, zu träu­men. Ges­tern war die­ses Bild zu mir gekom­men, durch Luft, sagen wir, Signa­le. Ich hör­te, wie mein Tele­fon ein Geräusch mach­te, als die Foto­gra­fie voll­stän­dig ein­ge­trof­fen war. Unter dem Bild war eine klei­ne Notiz zu fin­den. Rahel schrieb: Lie­ber Lou­is, ich freu mich sehr, Dich gese­hen zu haben. Ich glaub­te, Du wärest nicht mehr unter uns. Mel­de mich wie­der. r. – stop

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handschuhbäume

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alpha : 6.45 — Im Waren­haus ent­de­cke ich Prei­se, unter ande­rem den Preis von 1.99 für ein Paar Hand­schu­he, gestrickt. Das fünf­te Jahr in Fol­ge ist es gekom­men, dass die Prei­se für Hand­schu­he fal­len. Sie schei­nen inzwi­schen auf Bäu­men zu wach­sen wie Bana­nen. Auch Bana­nen wer­den immer bil­li­ger. An den Hand­schuh­spit­zen, dort wo man einen Zei­ge­fin­ger hin­ein­ste­cken kann, ent­kom­men dem Gewe­be Fäden. An die­ser Stel­le, so neh­me ich an, waren sie mit ihrem Baum ver­bun­den, hier wur­den sie getrennt vom Wind, der Schwer­kraft oder von Men­schen, die kaum etwas ver­die­nen, nur gera­de so viel, dass sie nicht ver­hun­gern oder ver­durs­ten, weil man sie noch gebrau­chen könn­te in den nächs­ten Jah­ren, geüb­te, gedul­di­ge Frau­en und Män­ner. Ver­mut­lich sind Hand­schuh­bäu­me ganz­jäh­rig blü­hen­de Wesen, irgend­wo ist immer Win­ter. Außer­dem las­sen sich Hand­schu­he gut auf­be­wah­ren, sie ver­der­ben nicht so schnell, man muss sie nicht ein­mal küh­len, nur gefrä­ßi­ge Tie­re ver­trei­ben. Das alles, dass Hand­schu­he von den Bäu­men kom­men, scheint noch sehr geheim zu sein. Ich habe vor weni­gen Minu­ten ver­sucht mit­tels der Such­ma­schi­ne Goog­le her­aus­zu­fin­den, wo Bäu­me, wie ich sie mir vor­stell­te, wach­sen und wo man sie ihrer Früch­te beraubt. –stop

polaroidstrand5

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karawane

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echo

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : KARAWANE
date : nov 6 12 0.30 a.m.

Wir soll­ten viel­leicht eines der Rat­te­n­un­ge­tü­me fan­gen, die den Cen­tral Park seit der gro­ßen Flut bevöl­kern. In Her­den lun­gern sie unter Bäu­men im Feu­er­laub, unzäh­li­ge rie­si­ge Tie­re, pfei­fen­de Spra­che, weit­hin zu hören, hel­le Töne. Eine ihrer Kara­wa­nen beweg­te sich vor weni­gen Stun­den noch Höhe 61. Stra­ße über ein Base­ball­feld, lang­sam, ein unheim­li­cher Anblick. Ver­mut­lich des­halb ver­harrt Fran­kie in den Kro­nen der Bäu­me, aber auch dort haben wir ein­zel­ne Rat­ten­tie­re gesich­tet. Es ist denk­bar, dass sie sich nicht wie­der zurück wagen wer­den in den Unter­grund. In einem Haus an der Lex­ing­ton Ave­nue sol­len Rat­ten in Appar­te­ments des 32. Stock­wer­kes ein­ge­drun­gen sein. Man stel­le sich das ein­mal vor, man wird die­sen Anblick nie wie­der ver­ges­sen, wo eine Rat­te gewe­sen ist, wird sie fort­an immer sein, wenn nicht per­sön­lich, dann als Mög­lich­keit, als eine Unru­he der Gedan­ken, der Träu­me. Sie stei­gen in den Fall­roh­ren auf­wärts. — Es ist schon lan­ge dun­kel gewor­den, der 6. Novem­ber ange­bro­chen. Leich­ter Regen, obwohl der Him­mel wol­ken­los scheint. Selt­sa­me Span­nung liegt in der Luft. – Ihr Mal­colm / code­wort : syracus

emp­fan­gen am
06.11.2012
1785 zeichen

mal­colm to louis »

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im reservat der trinkerlemure

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hima­la­ya : 6.46 — Ich hör­te, irgend­wo auf die­ser Welt soll eine Stadt exis­tie­ren, die über einen beson­de­ren Park ver­fügt, eine Natur­land­schaft, in wel­cher Trin­ker­le­mu­re exis­tie­ren, Aber­tau­sen­de bei­na­he unsicht­ba­re Per­so­nen. Man kann sich das viel­leicht nicht vor­stel­len, ohne län­ge­re Zeit dar­über nach­ge­dacht zu haben. Wäl­der und Wie­sen, ein Fluss, da und dort ein Berg, nicht sehr hoch, Höh­len, Hüt­ten, Schlaf­sackt­rau­ben, die von mäch­ti­gen Bäu­men bau­meln. Man könn­te sagen, dass es sich bei die­sem Park ver­mut­lich um ein Hotel oder ein Reser­vat han­deln wird von enor­men Aus­ma­ßen, 15 Kilo­me­ter in der Brei­te, 20 Kilo­me­ter in der Län­ge. Das Are­al ist umzäunt. Tore bie­ten Zugang im Wes­ten, im Nor­den, im Osten, im Süden. Dort fah­ren Ambu­lan­zen vor oder Kran­ken­wa­gen­bus­se, um schreck­li­che Gestal­ten aus­zu­la­den, die in den gro­ßen Städ­ten der Welt auf­ge­sam­melt wur­den, zer­lump­te, eit­ri­ge, zit­tern­de Wesen, sie spre­chen oder flu­chen in Spra­chen, die wir nur ahnen, wenn wir uns Mühe geben, ihnen zuzu­hö­ren, Eng­lisch ist dar­un­ter, Rus­sisch, Chi­ne­sisch, Deutsch, Fran­zö­sisch, Spa­nisch und vie­le wei­te­re Spra­chen mehr. Sie haben meist eine wei­te Rei­se hin­ter sich, aber jetzt sind sie ange­kom­men, End­sta­ti­on Sehn­sucht, Kran­ken­schwes­tern hel­fen, den letz­ten Weg zurück­zu­le­gen durch eines der Tore. Dann sind sie frei. Wir erken­nen am Hori­zont eine Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le. Sie liegt am Ran­de eines Wal­des. Tat­säch­lich fah­ren dort aus­ran­gier­te Züge der Stadt Lis­sa­bon im Kreis her­um, es geht um nichts ande­res, als dass man in die­sen Zügen sit­zen und trin­ken darf so viel man will. Aus polier­ten Häh­nen strömt Whis­key. An jedem zwei­ten Baum ist ein Fäss­chen mit Likö­ren oder Gin oder Wod­ka zu ent­de­cken. Es riecht sehr fest in die­ser Land­schaft, gera­de dann, wenn es warm ist, Bie­nen und Flie­gen und Libel­len tor­keln über wun­der­voll blü­hen­de Wie­sen. Da und dort sit­zen hei­te­re Grup­pen voll­trun­ke­ner Män­ner und Frau­en in der Idyl­le, sie erzäh­len von der Hei­mat oder von den Deli­ri­en, die man bereits über­lebt haben will. Manch einer weiß nicht mehr genau, wie sein Name gewe­sen sein könn­te. Ande­re leh­nen an Bäu­men, klap­pe­ri­ge Tote, die ungut rie­chen, arme Hun­de. Aber wer noch lebt, ist rasend vor Angst oder zufrie­den, man kann sich über­all­hin zur Ruhe legen. In dem Flüss­chen, das ich bereits erwähn­te, lagert fla­schen­wei­se küh­les Bier, es scheint sogar der Him­mel nicht Was­ser, son­dern Wod­ka zu reg­nen, auch die Vögel alle sind betrun­ken. Aus einem Wald­ge­biet tritt eine zier­li­che Frau, sie tau­melt. Die Frau trägt einen Hut und ein lan­ges wei­ßes Kleid, so schrei­tet sie durch das hohe Gras, bückt sich nach den Blü­ten, es ist in der Zeit der Korn­blu­men, die­ses zau­ber­haf­te Blau. Manch­mal fällt die Frau um, sie ist dann eine Wei­le nicht zu sehen, aber dann erscheint ihr Hut zunächst und kurz dar­auf sie selbst. Jetzt steht sie ganz still, schau­kelt ein wenig hin und her, seit Stun­den fra­ge ich mich, um wen genau es sich han­deln könn­te. — stop

 

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mr. blankfeins schweigen

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bamako : 6.45 — In der 37. Minu­te einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die von den Struk­tu­ren der Gold­man Sachs Bank erzählt, ereig­ne­te sich etwas sehr Merk­wür­di­ges. Lloyd Blank­fi­ne, Vor­stands­vor­sit­zen­der genau die­ser Bank, wur­de in einem Fern­seh­in­ter­view befragt. Ein äußerst scharf­zün­gi­ger Red­ner von hel­ler Stim­me, erkun­dig­te sich Mr. Blank­fi­ne zunächst bei dem Mode­ra­tor der Sen­dung, wie oft er ihn, Blank­fi­ne, im Fern­se­hen gese­hen habe? Nie! Wis­sen Sie was. Das war ver­mut­lich ein Feh­ler. Wir müs­sen uns jetzt bemü­hen, den Leu­ten zu erklä­ren, was wir tun. Sofort spitz­te sich die Lage zu. Der Mode­ra­tor der Sen­dung, der Mr. Blank­fi­ne unmit­tel­bar gegen­über­saß, parier­te mit­tels einer wei­te­ren Fra­ge, die der Ban­ker so nicht erwar­tet haben mag. Er for­mu­lier­te prä­zi­se: Ist es vor­ge­kom­men, dass ihre Invest­ment-Bera­ter einem Kun­den Anla­gen ver­kauft haben, gegen die Gold­man zur sel­ben Zeit spe­ku­lier­te? Nun geschah Fol­gen­des: Mr. Blankfine’s Augen wei­te­ten sich, er senk­te sei­nen Blick, setz­te zu einer Ant­wort an, ein Geräusch war zu hören, der Teil eines nicht erkenn­ba­ren Wor­tes, sein Mund stand leicht offen, er schwieg, er schwieg sehr gründ­lich, sie­ben Sekun­den lang, für eine übli­cher­wei­se äußerst schnell spre­chen­de und den­ken­de Per­son, die sich unter öffent­li­cher Beob­ach­tung weiß, ein bedeu­ten­der Zeit­raum. Ich habe die­se Sen­tenz des Gesprä­ches mehr­fach vor und zurück­ge­spielt, da mir Lloyd Blank­fi­ne in jenem Moment eine außer­or­dent­lich authen­ti­sche Per­sön­lich­keit gewe­sen zu sein schien. Ein Mensch, der nach ein­zel­nen Wör­tern such­te, nach einem ange­mes­se­nen Gedan­ken in sei­nem Kopf, weil sich bis­lang dort Sät­ze for­mu­lier­ten, die so auf­rich­tig waren, dass Mr. Blank­fi­ne sie nicht aus­spre­chen durf­te, um nicht für immer Scha­den zu neh­men, er selbst nicht und sei­ne Bank nicht. Ich beob­ach­te­te sein Gesicht. Drei­fach war Lid­schlag zu erken­nen, sei­ne Aug­äp­fel erweck­ten den Ein­druck, als wür­den sie wach­sen unter dem Druck eines Bli­ckes, der nicht ent­schei­den konn­te, ob er sich nach innen oder nach außen rich­ten soll­te, wäh­rend unge­heu­re, vor­be­wuss­te Rechen­leis­tung ent­fes­selt war, um viel­leicht doch einen Aus­weg zu fin­den. — stop
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rom : umberto ecco

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alpha : 22.57 — Der Mann hin­ter dem Tre­sen ist ein freund­li­cher Mann, unra­siert, akku­rat gebü­gel­tes wei­ßes Hemd, ein hüb­sches, jun­ges Gesicht, das an den Wän­den auf zahl­rei­chen Foto­gra­fien wie­der­zu­fin­den ist, ver­mut­lich des­halb, weil man sich mit ihm zei­gen woll­te, abge­lich­tet sein, sagen wir, berühm­te Men­schen und ein­fa­che Men­schen, die ich nicht aus­ein­an­der­hal­ten kann, weil ich die berühm­ten Men­schen der Stadt Rom nicht ken­ne. Sie lächeln an der Sei­te des jun­gen Man­nes ste­hend, man­che schei­nen viel­leicht betrun­ken zu sein. Aber einen der foto­gra­fier­ten Män­ner habe ich schon ein­mal gese­hen, es han­delt sich bei die­sem Herrn um Umber­to Eco. Der Schrift­stel­ler zeigt sei­ne Zäh­ne, er lacht in die Kame­ra. Umber­to Eco scheint an die­sem Abend, der einem Stem­pel­auf­druck zufol­ge drei Jah­re zurück­liegt, her­vor­ra­gend gelaunt gewe­sen zu sein. Viel­leicht hat­te er gera­de einen die­ser herr­li­chen Espres­sos getrun­ken, wie ich an die­sem Mor­gen. Es war ver­mut­lich Win­ter gewe­sen, Umber­to Ecco trägt einen Hut und einen Man­tel mit einem Pelz­kra­gen. Oder es war Som­mer und Umber­to Ecco hat­te sich in der Jah­res­zeit ver­tan. Wie­der ist es sehr warm heu­te. Eine Ambu­lanz rast an der weit geöff­ne­ten Tür des Cafés vor­bei, man kann das Geräusch der Sire­nen der Not den gan­zen Tag über ver­neh­men. Aber nachts ist es still in die­ser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Men­schen, die sie bewoh­nen. Es riecht nach war­mem Schin­ken in die­sem Moment. Auf dem Bild­schirm mei­nes Foto­ap­pa­ra­tes sind Säu­len zu sehen und Durch­leuch­tungs­ma­schi­nen und Hun­der­te lee­re Plas­tik­fla­schen, Sub­stan­zen, die man nicht mit in die gro­ße, kal­te Kir­che am Peters­platz neh­men darf, sie könn­ten explo­die­ren. Ich hebe den Foto­ap­pa­rat leicht an und foto­gra­fie­re Umber­to Eco, sodass er jetzt zwei­fach im Pelz­kra­gen exis­tiert. Wenn ich mir nicht vor­ge­nom­men hät­te, das Pan­the­on zu besu­chen, ich wür­de gern war­ten, Tage, Wochen, um nach­zu­se­hen, ob Umber­to Eco zurück­kom­men wird. Ich habe bemerkt, dass mei­ne Ohren knis­tern, wenn ich Kaf­fee trin­ke in Rom. — stop
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MELDUNG : ameisengesellschaft ln — 788

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MELDUNG. Amei­sen­ge­sell­schaft LN – 788 [ lasi­us niger ] : Posi­ti­on 48°21’N 07°01’O : Fol­gen­de Objek­te wur­den von 14.00 – 15.55 Uhr MESZ über das nord­west­li­che Wen­del­por­tal ins Waren­haus ein­ge­führt : sie­ben­und­zwan­zig tro­cke­ne Flie­gen­tor­si mitt­le­rer Grö­ße [ je ohne Kopf ], sech­zehn Baum­stäm­me [ à 5 Gramm ], vier Rau­pen in Grün, zwei­hun­dert­zwölf Rau­pen in Oran­ge, zwei Insek­ten­flü­gel [ ver­mut­lich die eines Zwerg­kopf­nacht­fal­ters ], fünf Streich­holz­köp­fe [ à 2 Gramm ], vier Flie­gen der Gat­tung Cal­li­pho­ri­dae in vol­lem Saft, son­nen­ge­trock­ne­te Rosen­blät­ter [ ca. 20 Gramm ], ein­hun­dert-vier­und­vier­zig Schne­cken­häu­ser [ je ohne Schne­cke ], acht gelähm­te Schne­cken [ je ohne Haus ], 5328 Amei­sen anlie­gen­der Staa­ten [ betäubt oder tran­chiert ], sechs Rüs­sel­kä­fer [ blau­tür­ki­se ], die Aas­ku­gel eines Pil­len­dre­hers, wenig spä­ter der Pil­len­dre­her selbst, eine Wild­bie­ne, sieb­zehn Frag­men­te eines Blat­tes [ Ili­as / Homer ] 7.5 Gramm. – stop



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