Aus der Wörtersammlung: bein

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ein zeppelinkäfer

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echo : 2.54 — Wann war es, dass ich zum ers­ten Mal bemerk­te, wie mei­ne Brie­fe klei­ner und klei­ner wur­den? Wesen von wirk­li­chem Papier, Bögen in Umschlä­gen, mit einem Post­wert­zei­chen, das zuletzt die Anschrif­ten­sei­te mei­nes Schrei­bens voll­stän­dig bedeck­te. Im Post­amt wer­de ich seit­her ernst genom­men. Vor eini­gen Wochen kauf­te ich sinn­vol­ler­wei­se ein hand­li­ches Mikro­skop und einen Satz Blei­stif­te von äußers­ter Här­te. Ich spitz­te das Schreib­werk­zeug eine Vier­tel­stun­de lang, dann leg­te ich einen Bogen Papier in das Licht einer Lin­se mitt­le­rer Stär­ke. Ich näher­te mich mit beben­den Fin­gern. Man soll­te mich in die­sem Moment gese­hen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das klei­ne Blatt notier­te, hielt ich die Luft an. Tat­säch­lich habe ich in mei­nen Leben noch nie zuvor in einer der­art sorg­fäl­ti­gen Wei­se geschrie­ben. Ich brauch­te drei Stun­den Zeit, um das Papier, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Brief­mar­ke von 1,5 cm Kan­ten­län­ge, voll­stän­dig zu beschrif­ten. Ich schrieb fol­gen­de Zei­len an einen Freund: Lie­ber Sta­nis­law, Du wirst es nicht glau­ben, nach 1 Uhr heu­te Nacht schweb­te ein Zep­pel­in­kä­fer einer nicht sicht­ba­ren, schnur­ge­ra­den Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. – Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. – Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit sechs recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. Dein Lou­is, herz­lichst. — Es war eine wirk­lich har­te Arbeit, all die­se Zei­chen zu notie­ren. Dann fal­te­te ich das Blatt Papier ein­mal kreuz und quer. Ich arbei­te mit zwei Pin­zet­ten wie­der­um unter star­kem Licht, steck­te den Brief in ein Cou­vert, des­sen Her­stel­lung noch mühe­vol­ler gewe­sen war als das Schrei­ben des Brie­fes selbst, und mach­te mich auf den Weg in das nächs­te Post­amt. Dort wur­de ich unver­züg­lich an den Schal­ter für beson­de­re Brief­for­ma­te wei­ter­ge­lei­tet, wo mein Brief, den ich mit einer Pin­zet­te auf den Tre­sen beför­dert hat­te, von einer wei­te­ren Pin­zet­te ent­ge­gen­ge­nom­men wur­de. Ich war sehr glück­lich. Ich beob­ach­te­te, wie der Beam­te eine Brief­mar­ke von der Grö­ße eines Reis­korns behut­sam auf mei­nen Brief leg­te und mit­tels eines Stem­pels, der vor mei­nen blo­ßen Augen kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ent­wer­te­te. Dann ging mein Brief auf Rei­sen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kur­ze Zeit ver­ges­sen. Nun aber, vor weni­gen Stun­den, wur­de mir von einem Son­der­bo­ten der Post ein Brief von der­art leich­ter Gestalt über­ge­ben, dass ich zunächst die Anwei­sung erhielt, alle Fens­ter mei­ner Woh­nung zu schlie­ßen. Die­ser Brief, eine Depe­sche mei­nes Freun­des, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein klei­nes Kunst­werk. Auf sei­ner Brief­mar­ke sol­len sich zwei Para­dies­vö­gel befin­den, die ihre Schnä­bel kreu­zen. Ich wer­de das gleich über­prü­fen. — Es ist Frei­tag! Guten Mor­gen! — stop / fürs marie­chen

ping

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echoes

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sier­ra : 5.28 — Eine Amei­se hat­te trotz der gro­ßen Höhe, in der sich mei­ne Woh­nung befin­det, zu mir gefun­den. Sie klet­ter­te vor­sich­tig gegen den Boden zu, tas­te­te sich über war­mes Holz, erreich­te ein Tisch­bein, um kurz dar­auf direkt vor mei­nen Augen zu erschei­nen. Viel­leicht wird sie mei­nen Atem wahr­ge­nom­men haben, einen Wind, denn sie duck­te sich kurz, ich hat­te den Ein­druck, dass sie mich betrach­te­te. Aber dann lief sie wei­ter, umrun­de­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne, kreuz­te über den Tisch, um auf der ande­ren Sei­te wie­der abzu­stei­gen und in der Dun­kel­heit des Fens­ters zu ver­schwin­den. Nur weni­ge Minu­ten spä­ter, ich hat­te das Zim­mer kurz ver­las­sen, beweg­te sich eine dun­kel schim­mern­de Amei­sen­her­de exakt auf dem Pfad, den zuvor das ein­sa­me Tier genom­men hat­te, durch den Raum. Ein doch äußerst bemer­kens­wer­ter Vor­gang. Mög­li­cher­wei­se hat­te es sich zunächst um eine Kund­schaf­ter­amei­se gehan­delt, die mich besuch­te. Ihre Brü­der, ihre Schwes­tern waren nun sehr ziel­stre­big in mei­nem Zim­mer unter­wegs. Ich mein­te, das Geräusch hun­der­ter Bei­ne ver­neh­men zu kön­nen. Sie tru­gen Papie­re in ihren Zan­gen wie Fah­nen. Tat­säch­lich waren Zei­chen oder Tei­le von Zei­chen auf der Amei­sen­beu­te zu erken­nen, die sie gleich hin­ter mei­ner Schreib­ma­schi­ne zu einem Berg schich­te­ten, um sofort wie­der zum Boden hin abzu­stei­gen. Nach einer hal­ben Stun­de, alle Amei­sen waren ver­schwun­den, schloss ich das Fens­ter. Ich hät­te schwö­ren kön­nen, mir den Besuch der Amei­sen nur ein­ge­bil­det zu haben, wenn nicht auf dem Tisch das Papier­werk der Wan­de­rer als Beweis zurück­ge­blie­ben wäre. Natür­lich mach­te ich mich sofort an die Arbeit. Eine Stun­de ver­ging, dann war ich mir sicher gewe­sen, dass es sich bei dem Arte­fakt auf mei­nem Tisch um eine ein­zel­ne, zer­teil­te Buch­sei­te han­deln muss­te. Vier wei­te­re Stun­den spä­ter hat­te ich die Sei­te und ihre Zei­chen rekon­stru­iert. Fol­gen­der Text wur­de sicher­ge­stellt: ZUVIEL / Die Welt ist „unzähl­bar“, gefüllt mit Din­gen, Büchern, Büchern, die über Din­ge spre­chen, / die Welt trägt zusam­men und die Bücher tra­gen zusam­men, was die Welt zusam­men­trägt, / und auf sei­nem Tisch Bücher und noch­mals Bücher zu sehen / und Foto­bü­cher, Kunst­bü­cher und Bücher, die von ande­ren Büchern reden, und sich nun selbst eben­falls anschi­cken, die Welt auf einem Blatt Papier zu erfas­sen, die­se ver­fluch­te Sum­me von Aus­las­sun­gen zu erfas­sen, um dem Sta­pel noch ein eige­nes Echo hin­zu­zu­fü­gen … Es ist fünf Uhr gewor­den. Ich bin zufrie­den. Ich habe den Ursprung des Tex­tes erin­nert. Er wur­de von Yas­mi­na Reza in ihrer Sona­te Ham­mer­kla­vier ver­öf­fent­licht und von Eugen Helm­lé aus der fran­zö­si­schen in die deut­sche Spra­che über­tra­gen. Drau­ßen wird es lang­sam hell, Regen fällt. — stop
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monroe

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alpha : 6.26 — Ich wünsch mir zum Geburts­tag ein klei­nes Tier, eine Libel­le näm­lich von der Grö­ße einer Hand, sie wird mich fort­an im Leben beglei­ten. Wenn ich mor­gens die Augen öff­ne, soll sie bereits vor mir auf einem Kis­sen ruhen, das ihr eige­nes, ihr Nacht­kis­sen ist. Das Sum­men üben­der Flü­gel, ein Blick von tau­send Augen, und schon sind wir hell­wach, schon auf dem Weg in die Küche. Zum Früh­stück zwei fri­sche Zwerg­frö­sche, sie leben noch für Sekun­den. Und etwas Kaf­fee für mich, und Löf­fel feins­ten Sumpf­was­sers für Mon­roe, das soll­te jeden Mor­gen mög­lich sein, im Win­ter wie im Som­mer. Was für ein sel­ten präch­ti­ger Vogel, mari­ne­blau, zitro­nen­gelb, schwarz schil­lern­de Augen, feu­er­ro­te Bei­ne. — Guten Mor­gen! — stop

 ping

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javier

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alpha

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : JAVIER IAN
date : april 1 13 10.12 p.m.

Nach wie vor bewegt sich Fran­kie sehr lang­sam den Hud­son River ent­lang. Es geht nur weni­ge hun­dert Meter am Tag vor­an. Fran­kie, als ob er ein Ziel ver­folg­te, kennt nur eine Rich­tung: süd­wärts. Der Ver­kehr auf der 12th Ave­nue ist grau­en­voll gefähr­lich bei Tag und bei Nacht. In den ers­ten Stun­den, da das Eich­hörn­chen den Cen­tral Park ver­las­sen hat­te, moch­ten wir kaum glau­ben, dass es über­le­ben wür­de. Aber er ist schnell und er scheint zu wis­sen, dass ihm die Stra­ßen der Stadt zum Ver­häng­nis wer­den könn­ten. Wir bemü­hen uns Fran­kie zu schüt­zen, wo und wie auch immer wir kön­nen. Erfolg­los haben wir nahe Man­hat­tan Crui­se Ter­mi­nal einen Hot­dog-Ver­käu­fer gebe­ten, Fran­kie nicht wei­ter zu füt­tern. Wir wis­sen jetzt, dass er Gur­ken­schei­ben und Zwie­beln bevor­zugt. Von Mit­te Febru­ar bis in die ers­te März­wo­che hin­ein war kaum eine Bewe­gung Fran­kies zu ver­zeich­nen gewe­sen. Wir haben sein Ver­hal­ten zunächst mit den groß­zü­gi­gen Spen­den des alten Man­nes aus Puer­to Rico begrün­det. Als aber Javier Ian eini­ge Tage mit sei­nem fah­ren­den Stand nicht erschie­nen war, bemerk­ten wir, dass Fran­kie Kreuz­fahrt­schif­fe beob­ach­te­te. Es waren die MS Aida, die MS Car­ni­val Mira­cle, die MS Free­dom of the Seas, die pracht­voll beleuch­tet an den Piers fest­ge­macht hat­ten. Fran­kie hock­te auf einer jun­gen Eibe, immer auf dem­sel­ben Ast, Stun­de um Stun­de. Es ist nicht mög­lich zu ver­ste­hen, was ihn an dem Blick auf den Fluss und auf die rie­si­gen Schif­fe fes­sel­te, er schien kaum zu schla­fen und er dul­de­te uns in sei­ner Nähe, wir kamen so nah an ihn her­an, dass wir ihn bei­na­he zu berüh­ren ver­moch­ten. Am 6. März brach Fran­kie wie­der auf. Er schien nach uns zu sehen, ob wir ihm fol­gen. Und tat­säch­lich war­te­te er, wenn wir uns zur Pro­be ver­steck­ten in einer der Stra­ßen, die zum Fluss füh­ren. Die Näch­te sind nach wie vor kalt, aber ohne Frost. Unser Fran­kie ist kräf­tig, ist stark über den Win­ter gekom­men. Wir befin­den uns Höhe 41. Stra­ße. Es ist Mon­tag, der 1. April 2013, frü­her Abend. — Aller­bes­te Grü­ße sen­det Mal­colm / code­wort : medusenkopfauge

emp­fan­gen am
1.04.2013
2034 zeichen

mal­colm to louis »

polaroidstrand2

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vom zufall

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del­ta : 0.12 — Hen­ry erzähl­te, er habe vor eini­gen Wochen eine Kar­ton­schach­tel erwor­ben für 80 Cent. Zu Hau­se habe er im Inne­ren der Schach­tel ein­hun­dert­und­zwölf Schwarz-Weiß-Foto­gra­fien ent­deckt, Foto­gra­fien einer Zeit um das Jahr 1965 her­um. Men­schen, die auf die­sen Foto­gra­fien zu sehen sind, tra­gen Schuh­werk jener Jah­re, Män­tel, Hüte. Auch Auto­mo­bi­le, die da und dort im Hin­ter­grund zu sehen sind, ver­wei­sen auf die Mit­te eines Jahr­zehn­tes, als Hen­ry selbst gebo­ren wor­den war. Er habe die Bil­der nun digi­ta­li­siert und wür­de sie in weni­gen Tagen auf einer Web­sei­te ver­öf­fent­li­chen mit der Bit­te, sich bei ihm zu mel­den, sobald man sich selbst auf einer der Foto­gra­fien ent­de­cken wür­de. Ich woll­te wis­sen, war­um er so han­de­le. Hen­ry ant­wor­te­te, er habe das Gefühl, die­se Auf­nah­men könn­ten viel­leicht feh­len, irgend­je­man­dem, einem Album, einer Geschich­te. Ja, selbst­ver­ständ­lich sei ihm bewusst, dass nur durch einen Zufall sei­ne Sei­te von genau jenen Men­schen besucht wer­den wür­de, die sich wie­der erken­nen könn­ten, es gehe ihm rein um die Mög­lich­keit, dass sich die­ser Zufall ereig­nen kön­ne, er habe im Grun­de die Mög­lich­keit eines Zufal­les geschaf­fen. Eine der Foto­gra­fien soll ein höl­zer­nes Feu­er­wehr­au­to zei­gen, das von Kin­der­hand geführt über einen Tep­pich fährt. In dem Tep­pich sei ein Loch, das ihn an ein Brand­loch erin­nert habe. Eine wei­te­re Auf­nah­me zei­ge eine Gar­di­ne, die sich im Wind zu bewe­gen schei­ne, im Hin­ter­grund etwas Him­mel, Wol­ken und ein Flug­zeug. Und die­se alte Frau, die auf einer Park­bank sitzt, sie wird, sag­te Hen­ry, viel­leicht oder sehr sicher nicht mehr unter den Leben­den sein. Sie hält einen Foto­ap­pa­rat, es könn­te sich um eine Lei­ca han­deln, in ihren Hän­den. Die alte Frau lacht, es ist Som­mer, sie lacht wie jene ande­re, etwas jün­ge­re Frau, die auf einem stei­ni­gen Weg breit­bei­nig steht, ein Fuß ist zur Sei­te geknickt, auch sie hält eine Kame­ra, ein Lei­ca viel­leicht, ihn ihren Hän­den. — stop

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kairo

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india : 7.00 — Weder darf ich ihren Namen ver­ra­ten, noch in wel­cher Stadt sie wohnt oder für wen sie arbei­tet. Alles ande­re darf ich erwäh­nen, dass sie wirkt, als sei sie einem Felli­ni-Film ent­kom­men, zum Bei­spiel. Sie trägt blaue Turn­schu­he, hel­le Sei­den­strümp­fe und einen grau­en, kur­zen Man­tel mit einem Pelz­kra­gen, der nicht echt ist oder doch, ich kann es nicht sagen. Wenn sie auf ihren lan­gen, äußerst dün­nen Bei­nen vor mir steht, über­ragt sie mich um einen hal­ben Kopf, kann somit mei­nen Schei­tel betrach­ten, was nie geschieht, weil sie mir stets auf oder in die Augen schaut, wenn wir mit­ein­an­der spre­chen. Auch dann näm­lich schaut sie mir in die Augen, wenn ich ihren Blick nicht erwi­de­re, weil ich gera­de irgend­ei­nen ande­ren Ort ihrer Erschei­nung besich­ti­ge. An ihrem Hals sitzt ein grün­gel­ber Schmet­ter­ling, der zu einem Tat­too gehört, das längst ihren hal­ben Kör­per bede­cken soll. Ich habe ein­mal einen flüch­ti­gen Ein­druck des Haut­ge­mäl­des erhal­ten, als sie mir ihren Bauch zeig­te. Ich war begeis­tert, aber auch ein wenig erschro­cken gewe­sen, ich konn­te ihre Rip­pen sehen, so dünn ist sie, so zer­brech­lich, dass man sie als eine Hun­ger­künst­le­rin bezeich­nen könn­te, eine, die gera­de so wenig isst, dass sie dar­an nicht stirbt. Über­haupt, ja, über­haupt das Leben, es ist nicht leicht, das sagt sie mit einer tie­fen Stim­me. Ihr Mund ist ein klei­ner Mund, ihre Augen sind grau, ihr Haar reicht bis fast zu den Knie­keh­len her­ab. Jeder Mann, aber auch alle Frau­en dre­hen sich nach ihr um, wenn sie erscheint und wie­der ver­schwin­det. Unlängst hat­te sie einen klei­nen Kof­fer gepackt und war mit ihm nach Kai­ro geflo­gen. Ich frag­te, ob sie sich nicht gefürch­tet habe. Nein, ant­wor­te­te sie, es sei ihr nicht so wich­tig am Leben zu blei­ben, weil sie eigent­lich nicht sehr ger­ne lebe, das sei schon immer so gewe­sen, wes­we­gen sie nur ungern trin­ken und essen wür­de. Um ein Schäl­chen Hafer­flo­cken zu sich neh­men zu kön­nen, muss ein hal­ber Tag ver­ge­hen. Das ist für ein Schäl­chen Hafer­flo­cken eine lan­ge Zeit. Sie lacht jetzt. Wenn doch die Män­ner nicht immer das­sel­be woll­ten, na, Du weißt! Der Künst­ler, der ihr das Haut­ge­mäl­de fer­tig­te, habe ihr gesagt, dass er sich fürch­tet über ihren blan­ken Rip­pen mit der Nadel zu arbei­ten. Wie­der lacht sie, ein wär­men­des Geräusch. — stop

polaroidnachtvogel

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sier­ra : 6.38 — Vor Kur­zem noch habe ich nicht gewusst, dass Lam­pen­me­du­sen bevor­zugt Zwerg­see­ro­sen zu sich neh­men. Eigent­lich müss­te ich sagen, dass Lam­pen­me­du­sen ihrer Auf­ga­be der Lich­ter­zeu­gung nur dann nach­zu­kom­men in der Lage sind, wenn sie eini­ge Gramm einer bestimm­ten Zwerg­see­ro­sen­gat­tung auf­ge­nom­men haben. Die­se Zwerg­see­ro­sen nun sind wun­der­ba­re Wesen, die man mit blo­ßem mensch­li­chem Auge nicht wahr­zu­neh­men ver­mag. Sobald sie aber häu­fig sind, also gehäuft, sagen wir zehn­tau­send Zwerg­see­ro­sen in nächs­ter Nähe zuein­an­der, sehen wir eine röt­li­che Wol­ke, die sich in der Form einer fla­chen Lin­se sehr wohl­zu­füh­len scheint. Unter einem Mikro­skop betrach­tet sind an jeder Zwerg­see­ro­se wun­der­vol­le Blü­ten von roter Far­be zu erken­nen, die sich lang­sam um die eige­ne Ach­se dre­hen, wes­we­gen Zwerg­see­ro­sen durch das Was­ser wan­dern­de Geschöp­fe sind, schwe­ben­de, oder genau­er, tau­chen­de Blu­men. Sie sol­len zart nach Hum­mer­fleisch schme­cken, jedoch nicht genieß­bar sein, weil auch dann, wenn Men­schen sie ver­kos­ten, eben jene Men­schen in der Art der Lam­pen­me­du­sen zu leuch­ten begin­nen, ihre Haut und ihre Haa­re, dann fal­len sie um und hören auf zu atmen. Einer, der das nicht glau­ben woll­te, wur­de ges­tern auf hoher See bestat­tet. Ein selt­sa­mer Anblick, wie man berich­tet, ein blau­es Leuch­ten mit Armen, Bei­nen und einem Kopf, das lang­sam in der Tie­fe ver­schwand. — Es ist schon weit nach Mit­ter­nacht, also Nach­mit­tag gewor­den. Ich spa­zie­re lei­se durch mei­ne Woh­nung, weil ich nie­man­den wecken möch­te. Unter mir schla­fen Men­schen. Das ist immer wie­der eine selt­sa­me Vor­stel­lung, dass sie sehr nah sind, nur durch etwas Holz und Bast und Stein von mir getrennt. Man kann in die­ser Wei­se Jah­re woh­nen, ohne zu wis­sen, wen genau man atmen oder spa­zie­ren hört. Einer der Men­schen unter mir, scheint im Schlaf zu spre­chen. Wenn er zu spre­chen beginnt, höre ich das Geräusch einer Tür, dann hört er auf zu spre­chen. Für eine Wei­le ist es still. Es gibt viel zu erzäh­len im Schlaf. — stop

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pseudonym No 5

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india : 6.22 — Ich ken­ne einen Mann, der lei­den­schaft­lich ger­ne Wör­ter erfin­det. Es han­delt sich bei die­sen Wör­tern um Wör­ter, die vor ihrer Ent­de­ckung in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich bis­her nicht exis­tier­ten. Und weil er sich nie­mals sicher sein kann, ob das Wort, das gera­de erst erfun­den wor­den ist, in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich noch nicht exis­tiert, ver­bin­det er sei­nen Com­pu­ter mit der Such­ma­schi­ne Goog­le. Wenn das Wort, das erfun­den wur­de, in den Ver­zeich­nis­sen der Such­ma­schi­ne nicht zu ent­de­cken ist, kann er sich sei­ner Sache bei­na­he sicher sein. Das Wort oli­mam­bo­sa, zum Bei­spiel, wur­de in der ver­gan­ge­nen Woche ins Leben geru­fen, ein voll­stän­dig neu­es Wort in der digi­ta­len Sphä­re. Viel­leicht des­halb, weil der Mann im Moment sei­ner Erfin­dung sehr zufrie­den mit sich und ein wenig stolz gewe­sen war, sen­de­te er einen E‑Mailbrief an mich, um mir sei­ne Erfin­dung zu schen­ken. Er schrieb, er wür­de sich ver­wandt mit mir füh­len, da ich ähn­lich vor­ge­hen wür­de wie er selbst. Für die­se Behaup­tung habe er eine beweis­kräf­ti­ge Spur in mei­nen Par­tic­les-Archi­ven ent­deckt. Dort soll ich am 30. Mai des ver­gan­ge­nen Jah­res einen Text ver­öf­fent­licht haben unter dem Titel Pseud­onym No 5. Tat­säch­lich, ich hat­te den Text bei­na­he ver­ges­sen, wur­de Fol­gen­des geschrie­ben: Ges­tern war das Wet­ter schön, ich such­te spa­zie­rend im Park nach einem Namen für mein Pseud­onym No 5. Sobald ich glaub­te, einen geeig­ne­ten Namen gefun­den zu haben, sag­te ich ihn laut vor mich hin, ich sag­te zum Bei­spiel: Felix May­er Kek­ko­la. Als Nach­mit­tag gewor­den war, gefiel mir die­ser Name noch immer, ich hat­te Lil­li M. Mur­phy bereits ver­wor­fen, auch Kas­par Joe Wei­de­mann und wei­te­re Namen waren gründ­lich ver­ges­sen. Ich notier­te den gewähl­ten Namen Felix May­er Kek­ko­la in mein Notiz­buch und ging nach Hau­se. Es ist selt­sam, ich war mit mei­nem neu­en Namen an der Sei­te stark unru­hig bis in den Abend hin­ein. Ich konn­te mir die­se Unru­he zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass ich nach­se­hen soll­te, ob der Name Felix May­er Kek­ko­la viel­leicht im Inter­net schon län­ge­re Zeit exis­tiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der die­sen Namen ver­wen­det, um sich zu ver­ber­gen und zu ver­öf­fent­li­chen in ein und dem­sel­ben Moment. Mehr­fach prüf­te ich mit Such­ma­schi­nen die Exis­tenz einer Spur. Kein Ergeb­nis für „Felix May­er Kek­ko­la“ war zu fin­den. Ich könn­te nun also ers­tens anneh­men, dass ein Mensch, der die­sen Namen trägt, nicht exis­tiert, was sicher nur sehr vor­sich­tig for­mu­liert wer­den darf. Zwei­tens könn­te ich jenen fei­nen Namen nun für mich beset­zen, okku­pie­ren sozu­sa­gen nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, was in die­ser Sekun­de genau so geschieht, indem ich mei­nen Text in die digi­ta­le Sphä­re sen­de. – stop

ping

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emilia nabokov no2

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del­ta : 6.36 — Ich hat­te ein Gespräch mit einem Freund, der seit vie­len Jah­ren in digi­ta­len Räu­men arbei­tet, bei­na­he könn­te ich sagen, ich hat­te ein Gespräch mit einem Freund, der seit vie­len Jah­ren in digi­ta­len Räu­men zu exis­tie­ren scheint. Zahl­rei­che sei­ner Arbei­ten ver­bin­den sich mit Arbei­ten ande­rer Men­schen, weil man auf ihn ver­weist, weil man auf ihn war­tet, auf Tex­te, auch auf Bil­der, Fil­me, Geräu­sche, die er auf­nimmt, sobald er etwas Inter­es­san­tes zu hören meint. Mit jeder Minu­te der ver­ge­hen­den Zeit wächst sein elek­tri­scher Schat­ten. Er macht das ähn­lich wie eine New Yor­ker Foto­gra­fin, die stun­den­lang durch die Stadt spa­ziert und mit einem iPho­ne all das foto­gra­fiert, was ihr ins Auge fällt. Manch­mal sind es hun­der­te Foto­gra­fien an einem ein­zi­gen Tag, die nur Sekun­den nach Auf­nah­me von ihrem Foto­ap­pa­rat, mit dem sie gleich­wohl tele­fo­nie­ren kann, an das Flickr – Medi­um gesen­det wer­den. Mein Freund erzähl­te, dass er den Ein­druck habe, die jun­ge foto­gra­fie­ren­de Frau in Echt­zeit zu beob­ach­ten, ihr im Grun­de so nah gekom­men zu sein, dass er kurz vor Weih­nach­ten fürch­te­te, etwas Ernst­haf­tes könn­te ihr wider­fah­ren sein, weil drei Tage in Fol­ge kei­ne Foto­gra­fie gesen­det wur­de. Am vier­ten Tag erkun­dig­te er sich mit­tels einer E‑Mail, die er an Flickr sen­de­te, ob es der schweig­sa­men Foto­gra­fin gut gehe, er mache sich Gedan­ken oder Sor­gen. Man muss das wis­sen, mein Freund hat­te der Foto­gra­fin nie zuvor geschrie­ben, kann­te nicht ein­mal ihren wirk­li­chen Namen, son­dern nur ein Pseud­onym: Emi­lia Nabo­kov No2. Eine hal­be Stun­de, nach­dem die E‑Mail gesen­det wor­den war, erschien, als habe ihm die spa­zie­ren­de Künst­le­rin zur Beru­hi­gung geant­wor­tet, eine Foto­gra­fie ohne Titel. Die­se Foto­gra­fie erzähl­te davon, dass sich Emi­lia Nabo­kov No2 ver­mut­lich nicht in New York auf­hielt, son­dern in Montauk, weil auf der Foto­gra­fie ein Leucht­turm auf einem ver­schnei­ten Hügel zu sehen war, der ein­deu­tig zur klei­nen Stadt Montauk an der nord­öst­li­chen Spit­ze Long Islands gehör­te. Im Hin­ter­grund das Meer, und vor­ne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gum­mi­stie­fel von knall­ro­ter Far­be. — stop

ping

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matrjoschka

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romeo : 6.28 — Seit mei­ner Kind­heit besit­ze ich eine Pup­pe von Holz. Ich habe sie unter dem Namen Babusch­ka ken­nen­ge­lernt. Die­ser Name war so lan­ge gül­tig gewe­sen, bis mir eine rus­si­sche Bekann­te erzähl­te, dass es sich eigent­lich um eine Matrjosch­ka­pup­pe han­deln wür­de. Man kann die­se Pup­pe öff­nen, indem man an ihr dreht, bis sie sich an ihrem Bauch der­art ent­zweit, dass sie tat­säch­lich aus zwei Tei­len mit exakt geschnit­te­nen Rän­dern besteht, einem unte­ren Teil mit Füs­sen, die in Far­be auf das hel­le Holz auf­ge­tra­gen sind, und einem obe­ren Teil mit einem gezeich­ne­ten Kopf. Mit die­ser Tren­nung geht die Gestalt der Pup­pe jedoch nicht wirk­lich ver­lo­ren, weil sie in einer klei­ner gewor­de­nen Aus­ga­be, die sich in der grö­ße­ren Pup­pen­form ver­steck­te, wei­ter­hin vor­liegt. Sie ver­fügt über das glei­che Gesicht, wie ihre Hül­le, über einen etwas klei­ne­ren Mund, und gleich­falls gerö­te­te Wan­gen und klei­ne­re Augen, und sie drückt in die­ser Erschei­nung nichts ande­res aus als: Ich bin nur eine Hül­le, ich tra­ge mein eigent­li­ches Inne­res in mir, mein Wesen, öff­ne mich! Und so wei­ter und so fort. Ges­tern nun habe ich einen Brief gele­sen, in dem von der Gat­tung der Babusch­ka­pup­pen die Rede war. Ich hat­te den Brief noch nicht zu Ende stu­diert, da stand ich auf und ging zum Regal, nahm mei­ne Pup­pe seit vie­len Jah­ren zum ers­ten Mal wie­der in die Hand und öff­ne­te sie. Tat­säch­lich habe ich sofort ein inten­si­ves Gefühl wahr­ge­nom­men, eine Emp­fin­dung mei­ner Kind­heit, zugleich in der Zeit weit ent­fernt und nah und ver­traut. Hier der Brief, der mir mei­ne Pup­pe von Holz in Erin­ne­rung geru­fen hat­te. Miri­am erzählt von Erfah­run­gen des Prä­pa­rier­saa­les: Zuerst also haben wir die Haut ent­fernt und dann das Fett. Das war wie ein zwei­ter Man­tel gewe­sen, und dann kamen die Mus­keln dran, und plötz­lich war der Bauch offen. Bis dahin habe ich immer an die­se Babusch­ka­pup­pen gedacht. Die wer­den ja auch immer klei­ner, wenn man eine geöff­net hat und danach die nächs­te. Aber dann waren auf dem Tisch plötz­lich nur noch Arme und Bei­ne und ein Kopf, der aus zwei Tei­len bestand. Ich weiß noch, wie ich am Ende des Tages alles so hin­ge­legt habe, als wäre der Rumpf noch da, solch eine Ord­nung habe ich ver­sucht. Das sah also aus wie ein Strich­männ­chen. Aber eben ohne Bauch. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment sehr gut an eine merk­wür­di­ge Geschich­te aus der Anfangs­zeit des Kur­ses. Ich war schon sehr früh am Mor­gen im Prä­pa­rier­saal des Insti­tu­tes. Ich hat­te schlecht geschla­fen wegen einer leich­ten Grip­pe, und so war ich eine der ers­ten Stu­den­tin­nen gewe­sen, die an die­sem Tag die Arbeit an ihrem Leich­nam auf­ge­nom­men haben. Ich prä­pa­rier­te an einem der Arme, eine recht kom­pli­zier­te Ange­le­gen­heit war das gewe­sen, und ich dach­te immer wie­der, dass mei­ne Hand nicht ruhig genug wäre, um eine so fei­ne Auf­ga­be aus­zu­füh­ren. Ich fluch­te also ein wenig vor mich hin und dann ent­schul­dig­te ich mich plötz­lich. Ganz im Ernst. Ich ent­schul­dig­te mich bei dem Leich­nam für mei­ne unfreund­li­chen Wor­te. Ich höre das jetzt noch. Ich höre mich sagen: Sor­ry! Und ich sage Dir, ich habe mich gut gefühlt. Ich habe, nach­dem mir bewusst gewor­den war, dass ich zur Lei­che gespro­chen hat­te, noch ein wenig so wei­ter­ge­macht. Eine Unter­hal­tung war das natür­lich nicht. Ein Mono­log. One way! Aber gut. — stop

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