MENSCH IN GEFAHR : “Abdumavlon Abdurakhmonov ist seit April ohne Zugang zu seiner Familie in Usbekistan inhaftiert. Seine Familie befürchtet, dass ihm Folter und andere Misshandlungen drohen. / Der 38-jährige Tadschike Abdumavlon Abdurakhmonov ist am 25. April in Usbekistan angekommen, um sein Kind aus erster Ehe zu besuchen. Er hätte am 28. April wieder nach Tadschikistan zurückkehren sollen. Am 29. April erhielt Abdumavlon Abdurakhmonovs Bruder in Tadschikistan einen Anruf von dessen Ex-Frau, die ihn darüber in Kenntnis setzte, dass Abdumavlon Abdurakhmonov am 27. April vom usbekischen nationalen Sicherheitsdienst festgenommen worden war. Seine Angehörigen hatten seitdem keinen Kontakt mehr zu ihm. Berichten zufolge wurde er zwei Tage lang auf einer Polizeiwache in Bekobod in Ost-Usbekistan, 150 km von der Hauptstadt Taschkent entfernt, festgehalten. Am 10. Juni erhielt die Familie einen Anruf von einem Mann, der angab, in einer vorübergehenden Hafteinrichtung in Taschkent inhaftiert gewesen zu sein, in der auch Abdumavlon Abdurakhmonov inhaftiert war. Abdumavlon Abdurakhmonovs Familie weiß nicht, ob er Zugang zu einem Rechtsbeistand hat. / Sein Bruder kontaktierte das tadschikische Konsulat in Taschkent, um sich über die Gründe für die Inhaftierung von Abdumavlon Abdurakhmonov zu erkundigen. Das tadschikische Konsulat bat das usbekische Außenministerium um Auskunft und erhielt am 30. Mai die Rückmeldung, dass Abdumavlon Abdurakhmonov nicht von der Polizei in Bekobod festgenommen worden war. Abdumavlon Abdurakhmonovs Vater schrieb daraufhin im Juni an den tadschikischen Menschenrechtsombudsmann, um Unterstützung und Hilfe bei der Aufklärung des Verbleibs seines Sohnes zu erhalten. Der tadschikische Ombudsmann leitete die Anfrage an den usbekischen Ombudsmann weiter. Bisher hat der tadschikische Ombudsmann jedoch keine Antwort erhalten. / Menschen, die ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert sind, drohen unabhängig von der Länge der Inhaftierung Folter und andere Misshandlungen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 2. Oktober 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: familie
ai : MEXICO
MENSCHEN IN GEFAHR : “Der Menschenrechtler Herón Sixto López ist im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca verschleppt und getötet worden. Amnesty International befürchtet, dass auch seine Familie und KollegInnen in Gefahr sind. Am 20. Juli wurde die Leiche des Menschenrechtsverteidigers Herón Sixto López nahe der Gemeinde San Sebastián Tecomaxtlahuaca im Bundesstaat Oaxaca im Süden Mexikos gefunden. Sie wies mindestens sechs Schusswunden auf. Herón Sixto López war am 15. Juli als vermisst gemeldet worden; an diesem Tag war er zuletzt in seinem Büro des Orientierungs- und Beratungszentrums für indigene Völker (Centro de Orientación y Asesoría a Pueblos Indígenas — COAPI) gesehen worden. Sein Verschwinden wurde bei der Staatsanwaltschaft von Oaxaca in Juxtlahuaca offiziell angezeigt. / Herón Sixto López setzte sich in lokalen Gemeinden für die Rechte indigener Gruppen ein. So vertrat er beispielsweise das indigene Volk der Mixteken in Landstreitigkeiten. In den letzten Monaten seines Lebens hatte er zahlreiche anonyme Anrufe erhalten. Einer der Anrufer sagte ihm offenbar, dass man ihn “verschwinden” lassen würde. Seit seinem Tod haben seine Familienangehörigen Vorfälle angezeigt, die den Schluss nahelegen, dass sie sich ebenfalls in Gefahr befinden. Am 21. Juli wurde die Familie nach der Beerdigung von Herón Sixto López von einem Auto verfolgt. / Die Umstände, die zum Tod von Herón Sixto López führten, müssen noch in vollem Umfang geklärt werden. Dabei ist es allerdings wichtig, dass ein etwaiger Zusammenhang mit seiner Menschenrechtsarbeit umfassend untersucht wird.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 5. September 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
cairo
alpha : 4.32 — Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor zwei Jahren mit einem Bekannten führte, der lange Zeit in Ägypten lebte, genauer in Kairo am Nil. Er wurde in der alten, riesigen Stadt geboren, vor einem halben Jahrhundert. Ich hatte von unserem Gespräch bereits erzählt. Immer, wenn ich ihn seither getroffen hatte, stellte ich ihm Fragen: Warst Du zu Hause im Sommer? Wie geht es Deiner Familie? Was kostet ein Hotelzimmer in Kairo in sicherer Lage? Ich bemerkte, dass Belem sich über meine Fragen freute, aber er antwortete nur selten präzise, er sagte immer wieder, dass es eine Frage des Respekts sei, dass man irgendwie lernen müsse, gemeinsam zu arbeiten und zu leben. Viele Menschen seien arm, das sei das größte Problem, sie könnten nicht lesen und schreiben. Einmal fragte ich, ob er bereit wäre, einen kleinen Text aus der arabischen Sprache für mich zu übersetzen, einen Twitterbrief, den ich nicht lesen konnte. Aber das wollte Belem nicht, er schien sich in diesem Moment vor mir oder den Zeilen, die ich auf ein Stück Papier gedruckt hatte, zu fürchten. — Montag. Seit Stunden komme ich nicht weiter in der Lektüre digitaler Nachrichten aus Kairo. Ich versuche, zu verstehen. Es sind sehr seltsame Texte, die mir Übersetzungsmaschinen liefern, Bruchstücke, Ahnungen, Wortsand: Gott Ylankwa auf der Erde und im Himmel ein Fluch und Fluch ya Welad El Bhaim o oberste Karte Hunde vor Aiallk Einak Ahan fühlen Sodbrennen Herz Eltern und alle da Les Ahan Schafe Iowa euch haben tatsächlich Amorphophallus Rivieri CDDA Schafe ich Worte von Beleidigung und defekt, aber nach Li da Sie lip Tstahlwa schmutzigsten Beleidigung in Alashan Antua eigentlich Schafe und Hunde und Sklaven und Amrkwa welche Hatbkowa brauchen euch eine Betharbwa Alhan Cuesh Religion und nicht in die Heimat Euch Betharbwa Alhan 7tt jeder Hund und Ely ist Mursi nicht beigelegt. Mursi da wenn Ragel harte Masche 7tt Khrong wurde das Blut Division zu halten oder sogar mindestens seiner Familie und seinen Clan aber Lebensdauer Staaten Khainin Brüdern und beide Alaikum Ya Ya Welad Hunde Hunde / Und Gott Staatssicherheit haben sie Gnade, die uns von DVD Elly Zico Btalwa verließ die Sicherheit des Staates und die Herstellung da Rettung, welche Bektosh kennen sie lachen über Leute und Leute ich Tani Les ein Raza Ullah Einwohner in Sidi Gaber in der elften Runde ihre Brüder Embareh Æøáúæç Úáì Ãç Íþæã Èå Architektur und schlagen den Portier und sie in ihrer Wohnung waren und eine Stimme hörte zu mir sprechen und ich traf den Schuss und Aialha Horror und weinte und floh die besetzten Oberfläche Btaa Architektur, und Violine von Atrmi wurde die Violine ein Verbrecher und Embareh führen den Sicherheitsstatus / Erste Bewertungen über den Stausee ist klar, dass Kinder nicht müssen manuelle Illustrator Gabe Architektur der Eingang Portal Teilnehmer arbeiten und mehr Menschen sind entweder Kinder, ihre Eltern-Wächter, die nur Sie der Stausee-Entwicklung herausnehmen, aber sie Menschen, die sie benötigen sind, um Schutz gegen unsere Herrn sagen Ahan Mikhlinash Brüder hasste Sie jeden Bedarf wir sagen ganz klar die Szene zu einem meiner Brüder ist Bdkon NAS Keteer sehr Pädagogen Dkonhm Ägyptens und Familien starrte ist rührend, meine Brüder und Les in eine feste Schiene Und sie nehmen ihre Mode Welaikh und Gentleman und Menschen Wakhdinha das Alter des Propheten Christian Lehman Daqqoun Kinder-und Jugendsport halten Masche einer Bank, es nicht Brüder, ist vorausgesetzt die Tahrir Daqqoun Kteer waren die Rebellen, nicht Brüder natürlich sage ich allen mein Ziel, dass alle Medien benötigten zu Fuß und wir sahen, Schließung des Auges Ehna Lina in ich weggelassen Z Mabenshov CBC tagsüber DreamWorks benötigt, finden Sie unter Nile News und Arabisch und Al-Jazeera siehe Entwarnung Notwendigkeit gezeigt Nicht alle Kanäle Valfol Wahrheit und Bedauern-Verlängerung. — stop
ai : BAHRAIN
MENSCH IN GEFAHR : “Wie nun bekannt wurde, ist gegen die bahrainische Aktivistin Zainab Al-Khawaja am 22. Mai erneut eine dreimonatige Haftstrafe verhängt worden. Sie ist eine gewaltlose politische Gefangene. / Am 22. Mai verurteilte ein Strafgericht in der Hauptstadt Manama die Aktivistin Zainab Al-Khawaja zu drei Monaten Gefängnis und einer Kaution von 100 Bahrain-Dinaren (knapp 200 Euro). Gegen die Aktivistin Ma’suma Sayyid Sharaf wurden am selben Tag sechs Monate Haft und eine Kaution von 200 Bahrain-Dinaren (knapp 400 Euro) verhängt. Beide waren wegen “nicht genehmigter Versammlung” und “Anstachelung zum Hass gegen die Regierung” angeklagt worden; zudem wurde ihnen vorgeworfen, bei ihrer Festnahme im Dezember 2011 PolizeibeamtInnen beleidigt zu haben. Zainab Al-Khawajas befindet sich im Frauengefängnis in ‘Issa Town. Besuche ihrer Familie und ihres Rechtsbeistandes werden ihr weiterhin verweigert, da sie es ablehnt, die Gefängniskleidung zu tragen. Ma’suma Sayyid Sharaf befindet sich derzeit auf freiem Fuß. / Zainab Al-Khawaja leistet mittlerweile mehrere kurze Haftstrafen ab, zu denen sie in mindestens vier Fällen verurteilt worden ist. Ihre Entlassung steht nun erst Mitte Dezember 2013 an. Die jüngste Haftstrafe sowie die weiteren gegen sie verhängten Gefängnisstrafen sind endgültig, da sie sich weigert, Rechtsmittel vor höherinstanzlichen Gerichten einzulegen — sie ist überzeugt, dass das bahrainische Rechtssystem von der Regierung kontrolliert wird. Sie hat sich bisher außerdem geweigert, Kautionszahlungen zu leisten und zu Anhörungen vor Gericht oder der Staatsanwaltschaft zu erscheinen. Ihr Rechtsbeistand hat das Kassationsgericht von diesen Umständen unterrichtet in der Hoffnung, eine Urteilsprüfung erreichen zu können. Das Gericht hat jedoch nicht reagiert. Am 28. Februar verurteilte das Berufungsgericht in Manama Zainab Al-Khawaja wegen “Beleidigung eines Polizeibeamten” in einem Militärkrankenhaus zu einer dreimonatigen Haftstrafe. Damit hob es das Urteil des Strafgerichts auf, das sie am 2. Mai 2012 freigesprochen hatte. / Grund hierfür war, dass die Staatsanwaltschaft den Freispruch angefochten hatte. Am 27. Februar 2013 hatte das Berufungsgericht ihre Verurteilung zu einer zweimonatigen Freiheitsstrafe wegen “Zerstörung von Staatseigentum” aufrechterhalten, zu der sie verurteilt worden war, weil sie im Mai 2012 in Haft ein Bild des Königs zerrissen hatte. An diesem Tag bestätigte das Berufungsgericht außerdem ihre Verurteilung zu einer einmonatigen Freiheitsstrafe wegen “Betreten eines Sperrgebiets” (der al-Farooq-Kreuzung — ehemals Perlenplatz) durch ein Strafgericht am 10. Dezember 2012. Zainab Al-Khawaja hatte davon bereits acht Tage in Haft verbracht, bevor sie in Erwartung des anhängigen Rechtsmittelverfahrens freigelassen wurde. Ihr stehen noch weitere Gerichtsverfahren bevor.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 1. August 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
ai : SYRIEN
MENSCH IN GEFAHR : “Der Aktivist Ali Mahmoud Othman wurde im März 2012 in der Provinz Aleppo festgenommen und befindet sich seitdem an einem unbekannten Ort in Haft. Er gehörte einem Netzwerk von Aktivisten an, das in der Stadt Homs ein provisorisches Medienzentrum unterhielt. Es gab Filmmaterial an Nachrichtenagenturen weiter und half ausländischen Journalisten, während des militärischen Angriffs auf das Viertel Baba Amr im Februar 2012 nach Homs hineinzukommen beziehungsweise die Stadt zu verlassen. / Von einem anderen syrischen Aktivisten hat Amnesty International erfahren, dass Regierungskräfte Ali Mahmoud Othman eine Kurzmitteilung geschickt hatten, um ihn an einen bestimmten Ort zu locken, wo er dann festgenommen wurde. Im April 2012 strahlte das syrische Staatsfernsehen ein Interview mit Ali Mahmoud Othman aus, in dem man ihm Fragen zu seiner Beteiligung an der Protestbewegung in Homs und zu seinen Medienaktivitäten stellte. Er wurde zudem gefragt, weshalb die Proteste seiner Ansicht nach trotz der von Präsident Bashar al-Assad eingeleiteten Reformen unvermindert weitergingen. Aktivisten in Syrien sind der Ansicht, dass das Interview nicht glaubhaft ist und Ali Mahmoud Othman dazu gezwungen wurde. / Seit diesem Fernsehinterview fehlt von Ali Mahmoud Othman jede Spur. Im November 2012 sagte ein außerhalb Syriens lebender Familienangehöriger Amnesty International, die Familie habe aus inoffizieller Quelle erfahren, dass Ali Mahmoud Othman in das berüchtigte Militärgefängnis Saydnaya nahe Damaskus gebracht worden sei.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 25. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
ein leises pfeifen
bamako : 2.25 — Eine kurdische Freundin alevitischen Glaubens erzählte mir eine Geschichte, die eigentlich keine Geschichte ist, sondern ein Bericht, weil sie persönlich mehrfach erleben musste, wie ihre Tochter eine Freundin mit nach Hause brachte, eine junge Kurdin sunnitischen Glaubens, die zwar mit der Tochter Zeit verbringen, aber nicht mit der Familie essen wollte, weil sie fürchtete, vielleicht vergiftet zu werden. Ich beobachtete einen tiefen Schmerz in den Augen meiner Freundin, während sie erzählte, und auch Zorn und Enttäuschung. Sie erklärte: Das sind die Eltern, die ihre Kinder impfen. Wir Aleviten sind gefährliche Leute, verstehst Du, wir sind lebensgefährliche Leute. Ich fürchte, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kinderseelen raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minuten. Nicht wahr, das ist eine wirklich merkwürdige Begebenheit, die ich in dieser Nacht notiere, um sie nicht zu vergessen. Überhaupt vergesse ich zurzeit recht viel. Vor einigen Tagen, während ich mit einer weiteren Freundin telefonierte, machte ich eine kurze Pause, um Kaffee zu kochen. Ich bat meine Freundin in der Leitung zu bleiben und stand also in der Küche und erhitzte das Wasser, als eine Taube auf dem Fensterbrett landete. Immer, wenn ich eine Taube sehe, denke ich an Wolfgang Koeppen. Ich habe Wolfgang Koeppen einmal in München in einem Kino beobachtet, einen gebückt gehenden, alten Mann mit Brille, der sich sehr langsam bewegte. Niemand schien ihn erkannt zu haben, worüber ich mich damals wunderte. Ich erinnere mich genau, ich wunderte mich viele Tage lang und überlegte, ob ich Wolfgang Koeppen nicht einen Brief schreiben sollte, um ihm zu erzählen, dass ich ihn gesehen habe, im Kino und dass ich mich darüber sehr freute. Plötzlich hörte ich vom Tisch her, auf dem mein Telefon lag, ein leises Pfeifen. Das Pfeifen kam tatsächlich aus dem kleinen Apparat heraus. Als ich das Telefon anhob, wurde das Pfeifen lauter und lauter, und meine Freundin erzählte nur Sekunden später, sie habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich sie noch hören würde oder mich an sie erinnern. Sie habe meine Schritte deutlich gehört, außerdem soll ich mit mir selbst gesprochen haben. – stop
eine funkuhr
sierra : 7.01 — Wenige Stunden nachdem mein Vater im April des vergangenen Jahres gestorben war, überreichte mir meine Mutter eine Uhr. Sie sagte, ich, der älteste Sohn der Familie, solle sie tragen. Vielleicht meinte sie, ich solle die Uhr meines Vaters bewahren und damit die Zeit meines Vaters behüten. Ja, genau so könnte das gewesen sein, denn die kleinen und die großen Uhren der Menschen, die gestorben sind, bleiben nicht sofort stehen, auch die Uhr meines Vaters, die ich in diesem Moment an meinem linken Unterarm trage, zeigt unermüdlich weiter die vorrückende Zeit. Sie knistert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so leise, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knistert oder mein Ohr in der Begegnung mit dem kühlen Gehäuse. Viele Tage und Wochen lang habe ich die Uhr meines Vaters nicht getragen, sie ruhte auf meinem Schreibtisch. Manchmal, indem ich sie beobachtete, hatte ich den Eindruck, sie warte. Immer wieder einmal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirkliche Zeit angezeigt zu bekommen. Bei der Uhr meines Vaters handelt es sich nämlich um eine Funkuhr, die zu jeder Zeit auf die Sekunde genau die allgemeingültige Zeit anzuzeigen vermag. Ihr Zifferblatt ist übersichtlich gestaltet, ein großer Kreis für Halbtageszeit und kleiner Kreis in der unteren Hälfte, in dem der Sekundenzeiger sich um Minutenzeit fortbewegt. Diese Uhr und ihre drei Zeiger ist nun meine Uhr. Am vergangenen Sonntag setzte ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nachtzeit. Um genau zwei Uhr beschleunigte der Minutenzeiger wie von Geisterhand, drehte sich schnell einmal im Kreis herum, dann war Sommer geworden, ein seltsamer Moment, weil ich für einen Augenblick den Eindruck hatte, mein Vater selbst bewegte den Zeiger der Uhr, die seine letzte gewesen ist, weil er auf mich und meine Zeit achtet. — Gestern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop
PRÄPARIERSAAL : feuerherz
nordpol : 7.07 — In der vergangenen Nacht habe ich in meinen Verzeichnissen nach einem E‑Mailbrief gesucht, den mir eine junge Frau, Lidwien, vor einigen Jahren notiert hatte. Ich konnte den Brief nicht finden, keine meiner Suchmaschinen, weil ich den Brief versehentlich ohne Namen abgelegt hatte. Ich erinnere mich noch gut an Lidwien. Sie war eine zierliche, freundliche und zielbewusste Person, die mit einem leicht französischen Akzent formulierte. Ich hatte sie einmal beobachtet, wie sie im Präpariersaal mit ihren Händen in einem Säckchen wühlte, um kurz darauf innezuhalten und die Augen zu schließen. In dem Säckchen, das von schwarzem, lichtundurchlässigem Stoff gewesen war, befanden sich Knochen einer Hand. Es war die Aufgabe Lidwiens gewesen, unter den Knochen einen bestimmten Knochen zu finden und durch reines Tasten eindeutig zu identifizieren. Ich beobachtete die junge Frau, wie sie während ihrer Suche in dem strahlend hellen Licht des Saales stehend die Augen schloss, als ob sie in dieser Weise mit ihren Fingerspitzen in der Dunkelheit des Säckchens besser sehen könnte. Ein Gespräch folgte über Bilder, die der Saal in Lidwiens Geist erzeugte. Kurz darauf erhielt ich einen Brief, in dem sie ihre Gedanken präzisierte. Genau diesen Brief suchte ich vergeblich, dann erinnerte ich mich an den Titel eines Films, von dem die junge Frau berichtet hatte, und schon war der Brief in meinen Archiven aufzuspüren gewesen. Lidwien notierte unter anderem Folgendes: Wissen Sie, auf die Frage, ob die Bilder aus dem Saal in meinen Alltag hinübergleiten, kann ich mit einem total aufrichtigen NEIN antworten. Ich habe überlegt, wie das überhaupt sein kann, da muss ein Filter sein und ich finde diesen Filter in meinem Gehirn wirklich faszinierend. Neulich habe ich ein Interview mit einer ehemaligen Kindersoldatin aus dem Sudan gesehen, die eine Biografie mit dem Titel FEUERHERZ geschrieben hatte. Dramatische Dinge muss sie erlebt und für uns nahezu unvorstellbare Bilder gesehen haben. Auf die Frage, wie sie mit diesen grausamen Bildern umging, antwortete sie: Ich habe diese Bilder nicht besonders verarbeitet, denn ES WAR UNSER ALLTAG UND WIR WAREN ES NICHT ANDERS GEWOHNT. Ich habe diese Aussage mit meinen Erfahrungen in Beziehung gesetzt. Von dem Moment an, da ich die Präparierhallen regelmäßig betrete und viele Stunden des Tages darin verbringe, werden all die toten Körper, all die Präparate, die man auf ungewohnte und seltsame Weise mit den eigenen Händen bewirkt, ja gerade zu erschafft, und der beißende Geruch des Formalins, zu meinem Alltag. In diesem Alltäglichen, in der Routine, verlieren menschliche Emotionen und die dazugehörigen Bilder an Gewicht und Polarität: Aus leidenschaftlicher Liebe wird Freundschaft und Zusammenhalt, und aus Angst und Furcht wird Fatalismus und Gelassenheit. – Und deshalb bleiben meine Bilder im Saal und ich lasse sie dort, wenn ich nach Hause zu meiner Familie gehe. — stop
contergan
lima : 10.27 — Die Arme meiner Cousine sind kurz, an ihren Händen fehlen die Daumen. Als ich noch ein Kind gewesen war, beobachtete ich gern ihre Füße, die sich bewegten, als wären sie nicht Füße, sondern Hände. Man kann mit den Füßen malen, das wusste ich schon immer, und man kann mit den Füßen in Büchern blättern und einen Löffel zum Munde führen, man kann auf Füßen gehen und man kann sich mit den Füßen die Haare kämmen. Je nachdem, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet, ist das seltsam oder eben nicht. Meine Cousine machte die Erfahrung, dass man sie versteckte, wenn Besucher zu ihrer Familie nach Hause kamen. Ich selbst dagegen wurde gerufen, damit ich betrachtet werden konnte. Mein Gott, ist er doch wieder kräftig gewachsen, der kleine Kerl! Er heißt Andreas, nichts weiter. Meine Cousine heißt Lilli, und sie heißt noch das Wort Contergan dazu, weil das viele Menschen sofort denken, wenn sie die Malerin Lilli Eben sehen. Da kann man nichts machen. Wenn etwas anders ist an einem Menschen, wenn etwas zu viel ist oder fehlt, dann bekommt das Fehlende oder das Zusätzliche einen Namen, der ein Leben begleitet, wie das meiner Cousine, die eine starke Persönlichkeit geworden ist. Aber die Hände und der Rücken tun außerordentlich weh mit dem Alter, und auch die Zähne tun weh, weil sie so viel mit den Zähnen machen musste in ihrem Leben. Eine einzige kleine Tablette, nicht wahr, die ihre Mutter, meine Tante, zu sich genommen hatte zu einer Zeit, da sie noch nicht wusste, dass sie schwanger gewesen war. Tausende Tote. Zehntausende Menschen mit einem oder mehreren Handicaps. Am vergangenen Freitag wurde von dem Geschäftsführer der Firma Grünenthal der Versuch einer Entschuldigung unternommen, ohne weiterführende Verantwortung übernehmen zu wollen. Er sagte: Wir bitten um Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben. Wir bitten Sie, unsere lange Sprachlosigkeit als Zeichen der stummen Erschütterung zu sehen, die Ihr Schicksal bei uns bewirkt hat. — stop
nachtstimmen : julija tymoschenko chen guangcheng
tango : 3.08 — Gegen 2 Uhr in der Nacht werde ich wach. Regen, schwer, schlägt gegen das Fenster im Dach. Ein Sturm, unmöglich, der nicht angekündigt war in den Nachrichtenlinien, die ich verfolge. Stimmen kommen aus der Fernsehmaschine, berichten von der umstrittenen Politikerin Julija Tymoschenko, von der Willkür, die in nächster Nähe in einem europäischen Land herrscht. Und da ist dieser mutige Mann zu Peking, er trägt den Namen Chen Guangcheng. Wie lange Zeit werden wir noch von ihm und seiner Familie hören? stop. Die Namenlosen? stop. Dieser Sturm heute Nacht, unmöglich, ein Gewitter, kühle Luft, sie scheint im Kreis zu fahren. Wie ich am Fenster stehe und schaue, plötzlich das Bedürfnis, zum Friedhof zu laufen und einen Regenschirm über das Grab meines Vaters zu halten. – stop