Aus der Wörtersammlung: werk

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tod in peking 2

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india : 0.28 — Es ist nicht lang her, es war im Dezem­ber gewe­sen, als ich einen Text notier­te, der vom Tod eines Freun­des erzähl­te. Ich hat­te damals noch kei­ne wirk­li­che Erklä­rung, wes­we­gen das Leben mei­nes Freun­des ende­te, aber eine Ver­mu­tung, eine Befürch­tung. Ich notier­te so: „Ich war ein­mal dabei, wie Ted­dy sei­ne Kame­ra in den Park spa­zie­ren führ­te, an einem kal­ten, win­ter­li­chen Tag, es hat­te geschneit. In den Hän­den des statt­li­chen run­den Man­nes sah der Foto­ap­pa­rat, der einen Com­pu­ter ent­hielt, klein aus, zer­brech­lich. Unent­wegt berich­te­te sein stol­zer Besit­zer von den Mög­lich­kei­ten der Foto­gra­fie, die die­se Kame­ra in Zukunft für ihn eröff­nen wür­de. Es war eine Art Lie­bes­be­zie­hung, die ich damals beob­ach­te­te, Ted­dy und sei­ne klei­ne Licht­fang­ma­schi­ne, wie er mit sei­nem drit­ten Auge den Schnee betas­te­te, wie er mir erzähl­te, dass man Schnee eigent­lich nicht foto­gra­fie­ren kön­ne. Das war vor vier oder fünf Jah­ren gewe­sen. Seit­her sind Ted­dy und sei­ne Kame­ra weit her­um­ge­kom­men in der Welt, vor­wie­gend reis­ten sie nach Peking, ver­brach­ten dort meh­re­re Mona­te im Jahr, wan­der­ten durch die gro­ße Stadt auf der Suche nach Augen­bli­cken, die Ted­dy sam­mel­te. Es war ein Foto­gra­fie­ren wie ein Gespräch, auch ein Selbst­ge­spräch gegen die Ver­lo­ren­heit, gegen die Angst viel­leicht ein­mal wie­der in den Alko­hol zurück­zu­fal­len, jedes Bild ein Beweis für die eige­ne Exis­tenz. Eine sei­ner Foto­gra­fien aus dem Som­mer 2012 zeigt zwei Jun­gen, wie sie dem rie­si­gen, run­den Mann mit dem klei­nen Foto­ap­pa­rat begeg­ne­ten. Der eine Jun­ge scheint zu stau­nen, der ande­re will die rech­te, seit­wärts aus­ge­streck­te Hand des Foto­gra­fen berüh­ren. Es ist eine typi­sche Foto­gra­fie, das Werk eines Künst­lers, der manch­mal in Euro­pa anrief, weil er sich ein­sam fühl­te in irgend­ei­nem Hotel der chi­ne­si­schen Pro­vinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hat­te er Freun­de, gute, wirk­li­che Freun­de, in sei­ner klei­nen Woh­nung dort wohn­ten eine jun­ge Stu­den­tin und ihre Mut­ter. Vor weni­gen Tagen erreich­te mich nun die Nach­richt sei­nes Todes, für den es zu die­sem Zeit­punkt kei­ne Erklä­rung gibt. Auf Face­book notier­te er noch: Bit­te beach­te, dass ich prin­zi­pi­ell kei­ne Nach­rich­ten schrei­be oder beant­wor­te. Ver­wen­de bit­te immer mei­ne E‑Mail-Adres­se, um mich zu errei­chen. Per Mail bin ich stets zu errei­chen.“ – Nun habe ich eben genau durch eine E‑Mail erfah­ren, wor­an Ted­dy gestor­ben ist. Eine chi­ne­si­sche Freun­din Ted­dys schrieb: Hal­lo! Ich bin Li Bin. Erin­nerst du dich an mich, die gute chi­ne­si­sche Freun­din von Ted­dy. Es tut mir so Leid, dass Ted­dy am 22. Novem­ber in Peking gestor­ben ist, weil er zu viel Alko­hol getrun­ken hat. Als ich die Nach­richt gehört habe, fand ich mich sehr über­rascht. Eigent­lich hat­te ich mich mit Ted­dy ver­ab­re­det, am 22. Novem­ber nach Peking zu fah­ren und sei­ne Foto­aus­stel­lung zu besu­chen. Aber noch vor der Abfahrt haben ande­re Freun­de mich ange­ru­fen, dass Ted­dy schon gestor­ben ist. Sofern ich das beur­tei­len kann, hat er nicht für lan­ge Zeit Alko­hol getrun­ken, aber sehr viel. Des­we­gen war er schon ein­mal im Kran­ken­haus in Peking. Damals war es schon sehr schlimm, trotz­dem hat er nicht auf­ge­hört, zu trin­ken. Ande­re Freun­de haben erzählt, er hat­te frü­her die Krank­heit, die Abhän­gig­keit vom Alko­hol. Aber Ted­dy hat mit mir das nie bespro­chen. So war­ten wir jetzt auf das Ergeb­nis der Poli­zei. — stop
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lamelleniris

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fox­trott : 15.07 — Die Such­ma­schi­ne, von der ich ges­tern noch träum­te am hell­lich­ten Tag, war so groß wie eine Streich­holz­schach­tel. Sie hock­te auf mei­nem Sofa und rühr­te sich nicht. Indem ich sie betrach­te­te, wirk­te sie zunächst so, als wäre sie voll­kom­men unbe­weg­lich, denn es waren an dem Such­ma­schi­nen­we­sen kei­ne Bei­ne zu erken­nen, dafür an jeder Sei­ten­flä­che ein klei­nes Auge, mit dem es sogar zwin­kern konn­te. Sei­ne Haut ähnel­te der Haut eines jun­gen Ele­fan­ten, es hat­te jedoch kei­ne Ohren und auch kei­ne Arme oder Hän­de, tat­säch­lich wirk­te das Wesen in die­sem Moment als könn­te es sich nicht von der Stel­le bewe­gen. Welch ein Irr­tum! Das Wesen konn­te ganz anders, es konn­te sich zum Bei­spiel von mei­nem Sofa erhe­ben und durch die Luft fah­ren wie ein Bal­lon. Dazu hol­te es tief Luft, wur­de grö­ßer und immer grö­ßer, bis es in etwa dop­pelt so groß gewor­den war wie zuvor. In die­ser neu­en Gestalt flog die klei­ne Such­ma­schi­ne in Rich­tung mei­nes Bücher­re­gals davon. Es war nun in die­sem Flug kein Geräusch zu hören, voll­kom­men laut­los schweb­te sie durch mein Zim­mer, wur­de von einem Luft­zug kurz aus der Bahn gewor­fen, fing sich wie­der und ich rief ihr noch zu: Lamel­le­ni­ris! Es war erstaun­lich, ein klei­nes Wun­der. Das Wort schien sie zu beschleu­ni­gen, sie erreich­te rasch mein Regal und flog von links nach rechts die Rei­he der Buch­rü­cken ent­lang, hielt vor jedem der Bücher ein­mal kurz an, und sie erweck­te den Ein­druck, als ob sie sich in jedem die­ser Momen­te tat­säch­lich mit dem Buch selbst beschäf­tig­te, in das Buch hin­ein­sah oder von sei­nem Duft kos­te­te, wie auch immer. Nach eini­gen Flü­gen auf und ab, hielt sie vor einem der Bücher an, es han­del­te es sich um eine klei­ne Geschich­te der Foto­gra­fie, die von Peter Nadas auf­ge­schrie­ben wor­den war. Nun wird man nicht glau­ben, was dann zu sehen war. Die klei­ne Such­ma­schi­ne mach­te sich an dem Buch zu schaf­fen, sie schien über unsicht­ba­re Werk­zeu­ge zu ver­fü­gen, ein Buch in den Griff zu bekom­men. Und das Buch parier­te, es ließ sich aus dem Regal­fach lösen und flog mit der klei­nen Maschi­ne, die sich unter das Buch bege­ben hat­te, durch den Raum zu mir zurück, um in mei­ner Nähe sanft zu lan­den. Behut­sam setz­te sie sich neben das Buch, das sie für mich her­bei­ge­holt hat­te und bedeu­te­te mir mit stil­lem Nach­druck: Schau her, hier ist das Buch, in dem das Wort Lamel­le­ni­ris ent­hal­ten ist. Und so waren wir immer­hin schon einen Schritt wei­ter als noch zuvor. — stop

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josephine besucht chelsea

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ulys­ses : 15.07 — Ich erin­ne­re mich an einen Tag im Mai des Jah­res 2010, als Jose­phi­ne und ich durch den Cen­tral Park spa­zier­ten. Es war ein war­mer Tag gewe­sen, ein Tag, an dem Wasch­bä­ren ihre Ver­ste­cke im Unter­holz flüch­te­ten, um den Som­mer zu begrü­ßen. Nie zuvor hat­te ich Wasch­bä­ren per­sön­lich gese­hen, und auch an die­sem Tag hat­te ich kaum Zeit, sie zu beob­ach­ten, weil die betag­te Dame an mei­ner Sei­te süd­wärts dräng­te. Gut gelaunt schien sie ihr Alter nicht im min­des­ten zu spü­ren, und so folg­ten wir der 8th Ave­nue Rich­tung South Fer­ry, pas­sier­ten die Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, das zen­tra­le Post­amt und die Penn Sta­ti­on, um nahe dem Joy­ce-Thea­ter in die 18th Stra­ße ein­zu­bie­gen. Bei­na­he zwei Stun­den waren wir bis dort­hin unter­wegs gewe­sen, es däm­mer­te bereits. Vor dem Haus 264 West blieb Jose­phi­ne ste­hen. Sie hol­te ihr Tele­fon aus der Hand­ta­sche und mel­de­te mit lau­ter Stim­me, dass sie bereits unten vor dem Haus ste­hen wür­de und abge­holt zu wer­den wün­sche! Ein Herr, in etwa dem­sel­ben Alter, in dem sich Jose­phi­ne befand, öff­ne­te uns kurz dar­auf die Tür. Er war mit einem Haus­man­tel beklei­det, der in einem tie­fen Blau leuch­te­te, hat­te kei­ner­lei Haar auf dem Kopf und trug Turn­schu­he. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich wun­der­te über sei­ne gro­ßen Füße, denn der Mann, den mir Jose­phi­ne mit dem Namen Valen­tin vor­stell­te, war eher zier­lich, wenn nicht klein gera­ten. Wäh­rend wir eine enge Trep­pe in den sechs­ten Stock hin­auf­stie­gen, dach­te ich an die­se Schu­he und auch dar­an, ob ich selbst in ihnen über­haupt lau­fen könn­te. Bald tra­ten wir durch eine schma­le Tür, hin­ter der sich ein Raum von uner­war­te­ter Grö­ße befand, ein Saal viel­mehr, mit einer hohen Decke und einem gut gepfleg­ten Boden von Holz, der nach Oran­gen duf­te­te. Lin­ker Hand öff­ne­te sich ein Fens­ter, das die gesam­te Brei­te des Rau­mes füll­te, mit einem groß­ar­ti­gen Aus­blick auf Chel­sea, auf Dach­gär­ten, Anten­nen und Satel­li­ten­wäl­der, ich glaub­te, vor einer Stadt ohne Stra­ßen zu ste­hen. Und da war nun die­ser alte Mann in sei­nem blau­en Haus­man­tel, der uns bat, auf einem Sofa Platz zu neh­men, wel­ches das ein­zi­ge Möbel­stück gewe­sen war, das ich in dem Raum ent­de­cken konn­te. Ein paar Was­ser­fla­schen reih­ten sich an einer der Wän­de, die von Back­stein waren, von hel­lem Rot, und an die­sen Wän­den waren nun Papie­re, Foto­ko­pien von Buch­sei­ten, genau­er, akku­rat anein­an­der gereiht, sodass sie die Wän­de des Saa­les bedeck­ten. Jose­phi­ne schien sehr berührt zu sein von die­sem Anblick. Sie saß mit durch­ge­drück­tem Rücken auf dem Sofa und bewun­der­te das Werk ihres Freun­des, der uns zu die­sem Zeit­punkt bereits ver­ges­sen zu haben schien. Er stand vor einer der Buch­sei­ten und las. Es han­del­te sich um ein Papier des 1. Band der Entde­ckungs­rei­sen nach Tahi­ti und in die Süd­see von Georg Fors­ter in eng­li­scher Über­set­zung. Und wie wir den alten Mann beob­ach­te­ten, erzähl­te mir Jose­phi­ne, dass er das mit jedem der Bücher machen wür­de, die er lesen wol­le, er wür­de sie ent­fal­ten, ihre Zei­chen­li­nie sicht­bar machen, er lese immer im Ste­hen, er sei ein Wan­de­rer. — stop

jose­phi­ne

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teegedanken

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nord­pol

~ : oe som
to : louis
sub­ject : TEEGEDANKEN
date : dec 21 12 11.05 p.m.

Eini­ge Tage und Näch­te haben wir alle gemein­sam in der Werk­statt zuge­bracht. Noe konn­te uns hören in der Tie­fe, wir hat­ten unse­re Mikro­fo­ne nicht aus­ge­schal­tet, um ihn teil­ha­ben zu las­sen, an unse­rem Leben. Jetzt, lie­ber Lou­is, jetzt, da der Hei­li­ge Abend näher kommt, wird Noe melan­cho­lisch. Er frag­te wie­der nach sei­nen Eltern, ob sei­ne Mut­ter und sein Vater noch leb­ten. Was sol­len wir ant­wor­ten? Was nur, ver­dammt, sol­len wir ant­wor­ten? Nichts als die Wahr­heit? Wir wis­sen es nicht! Und so tun wir unser Bes­tes, Noe auf­zu­hei­tern. Ben­ny Good­man spielt von der Kon­ser­ve: Live at Car­ne­gie­hall. Noe liebt Ben­ny Good­man seit Kind­heits­ta­gen. Wei­ter­hin haben wir Noe in eine leich­te, beru­hi­gen­de Schwin­gung ver­setzt, er pen­delt jetzt unter dem Schiff mit einer Ampli­tu­de von 20 Metern nach links und nach rechts. Indes­sen ahnt Noe nicht, was hier oben bei uns vor sich geht. Es ist näm­lich so, dass wir unse­rem Tau­cher eine Über­ra­schung berei­ten wer­den. Eric, unser Maschi­nist, hat­te die Idee, einen Weih­nachts­baum für Noe zu kon­stru­ie­ren, die Anmu­tung eines Weih­nachts­bau­mes genau­er, der geeig­net ist, in die Tie­fe gelas­sen zu wer­den. Wir haben uns Mühe gege­ben, der Baum ist hübsch gewor­den, drei Meter hoch, ein Gebil­de aus Metall, das über einen Stamm und Äste ver­fügt. Da und dort haben wir Unter­was­ser­fa­ckeln befes­tigt, die wir von der Fer­ne zün­den wer­den. Ein beson­de­rer Abend, lie­ber Lou­is, steht bevor! Ob wir das Licht erken­nen wer­den an der Ober­flä­che des Mee­res? Was wird Noe sagen? Und wie wer­den die Fische, die gro­ßen und die klei­nen Raub­fi­sche reagie­ren? — Es ist jetzt Frei­tag und spät. Ein Duft von Zimt, Gewürz­nel­ken und Kaf­fee strömt durch das Schiff. Am Mon­tag wer­den wir uns ein paar jun­ge Süß­was­ser­wel­se bra­ten. Es geht alles also einen guten Weg. Vor Stun­den noch zitier­te Tau­cher Noe aus dem Gedächt­nis einen wei­sen Satz, den der Phi­lo­soph Gui­do Cero­net­ti in sei­nen Tee­ge­dan­ken notier­te. Noe sag­te: Wenn ich wie ein Ver­lie­rer leben könn­te, wäre ich es etwas weni­ger. — In die­sem Sin­ne, lie­ber Lou­is: Ahoi! Dein OE SOM

gesen­det am
22.12.2012
2065 zeichen

oe som to louis »

polaroidschirme

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buenos aires

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MELDUNG. Ange­sichts einer im Sand vor­lie­gen­den Bro­sche von Nil­pferd­dung und schil­lern­den Flie­gen­rü­cken, wur­de Julio L. bereits am Sonn­tag, 15. Dezem­ber, gegen 16 Uhr bei schöns­tem Son­nen­licht im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten zu Bue­nos Aires von Eleo­no­re B. das Jawort erteilt. Am Kunst­werk, am Glück, haben mit­ge­wirkt: 57 Tie­re der Gat­tung Cal­li­pho­ri­dae in him­mel­blau­er Pan­ze­rung, 15 Rüs­sel­kä­fer von grün­gol­de­ner Beleuch­tung, 1 Pil­len­dre­her, schwarz. — stop

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die schrift meines vaters

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nord­pol : 7.05 — Dass mein Vater älter wur­de und müde, war sei­ner Schrift deut­lich anzu­se­hen. Die Buch­sta­ben wur­den klei­ner, man­che stan­den senk­recht, ande­re neig­ten sich einer unsicht­ba­ren Linie zu, auf der sie sich wort­wei­se vor­wärts beweg­ten. Ich könn­te sagen, die Schrift mei­nes Vaters wirk­te so, als wäre ein Sturm seit­wärts über sie hin­weg­ge­fah­ren, zer­zaust, und doch waren alle not­wen­di­gen Buch­sta­ben für jedes der Wör­ter, die mein Vater geschrie­ben hat­te, gesetzt. Er notier­te zuletzt ger­ne mit­hil­fe der Tas­ta­tur sei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne, das war nicht so anstren­gend, er ver­moch­te die Grö­ße der Zei­chen zu vari­ie­ren, sodass er sehen konn­te, was er gera­de auf den Bild­schirm brach­te. Ein­mal muss­te mein Vater einen Brief unter­zeich­nen, es war ein Okto­ber­tag, mein Vater war­te­te lan­ge Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruh­te, hielt den Stift, den man ihm gereicht hat­te, in der Hand, betrach­te­te die­sen Stift, dreh­te ihn zwi­schen den Fin­gern, er zöger­te den Moment hin­aus, da er mit der Auf­zeich­nung sei­nes Namens begin­nen wür­de. In die­sem Moment ahn­te ich, dass mein Vater sei­nen Namen malen wür­de, dass sei­ne nicht bewuss­te Signa­tur, die ein Leben lang gül­tig gewe­sen war, nicht län­ger zu exis­tie­ren schien, oder dass er unter den Augen eines Beob­ach­ters sich nicht län­ger trau­te, sei­ne urei­ge­ne Signa­tur aus­zu­füh­ren. Ja, mein Vater fürch­te­te sich, weil der Wind der ver­ge­hen­den Zeit sei­ne Schrift erfass­te. Sie war ein­mal eine akku­ra­te Schrift gewe­sen, eine Schrift wie gedruckt, sie notier­te kom­pli­zier­te mathe­ma­ti­sche For­meln, ohne je ihre Fas­sung auf den Papie­ren zu ver­lie­ren. Als Jun­ge beschloss ich, die­se Geheim­schrift der Zah­len und Wör­ter zu ent­schlüs­seln, bis sie noch vor mei­nem Vater selbst zu ver­schwin­den begann. Zurück­ge­blie­ben sind nun sei­ne Stif­te in einer Schub­la­de: Kugel­schrei­ber, Füll­fe­der­hal­ter, Blei­stif­te, Bunt­stif­te, auch ein Werk­zeug, mit dem man in wei­ßer Far­be notie­ren kann, viel­leicht um zu kor­ri­gie­ren, viel­leicht um Nicht­sicht­ba­res auf das Papier zu set­zen. — stop

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tod in peking

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tan­go : 0.25 — Ich war ein­mal zuge­gen, als Ted­dy sei­ne Kame­ra in den Park spa­zie­ren führ­te, an einem kal­ten, win­ter­li­chen Tag, es hat­te geschneit. In den Hän­den des statt­li­chen run­den Man­nes sah der Foto­ap­pa­rat, der einen Com­pu­ter ent­hielt, klein aus, zer­brech­lich. Unent­wegt berich­te­te sein stol­zer Besit­zer von den Mög­lich­kei­ten der Foto­gra­fie, die die­se Kame­ra in Zukunft für ihn eröff­nen wür­de. Es war eine Art Lie­bes­be­zie­hung, die ich damals beob­ach­te­te, Ted­dy und sei­ne klei­ne Licht­fang­ma­schi­ne, wie er mit sei­nem drit­ten Auge den Schnee betas­te­te, wie er mir erzähl­te, dass man Schnee eigent­lich nicht foto­gra­fie­ren kön­ne. Das war vor vier oder fünf Jah­ren gewe­sen. Seit­her sind Ted­dy und sei­ne Kame­ra weit her­um­ge­kom­men in der Welt, vor allem reis­ten sie nach Peking, ver­brach­ten dort meh­re­re Mona­te im Jahr, wan­der­ten durch die gro­ße Stadt auf der Suche nach Augen­bli­cken, die Ted­dy sam­mel­te. Es war ein Foto­gra­fie­ren wie ein Gespräch, auch ein Selbst­ge­spräch gegen die Ver­lo­ren­heit, gegen die Angst viel­leicht ein­mal wie­der in den Alko­hol zurück­zu­fal­len, jedes Bild ein Beweis für die eige­ne Exis­tenz. Eine sei­ner Foto­gra­fien aus dem Som­mer 2012 zeigt zwei Jun­gen, wie sie dem rie­si­gen, run­den Mann mit dem klei­nen Foto­ap­pa­rat begeg­ne­ten. Der eine Jun­ge scheint zu stau­nen, der ande­re will die rech­te, seit­wärts aus­ge­streck­te Hand des Foto­gra­fen berüh­ren. Es ist eine typi­sche Foto­gra­fie, das Werk eines Künst­lers, der manch­mal in Euro­pa anrief, weil er sich ein­sam fühl­te in irgend­ei­nem Hotel der chi­ne­si­schen Pro­vinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hat­te er Freun­de, gute, wirk­li­che Freun­de, in sei­ner klei­nen Woh­nung dort wohn­ten eine jun­ge Stu­den­tin und ihre Mut­ter. Vor weni­gen Tagen erreich­te mich nun die Nach­richt sei­nes Todes, für den es zu die­sem Zeit­punkt kei­ne Erklä­rung gibt. Auf Face­book notier­te er noch: Bit­te beach­te, dass ich prin­zi­pi­ell kei­ne Nach­rich­ten schrei­be oder beant­wor­te. Ver­wen­de bit­te immer mei­ne E‑Mail-Adres­se, um mich zu errei­chen. Per Mail bin ich stets zu errei­chen. – Lie­ber Ted­dy, ich wer­de das sofort ver­su­chen. — stop

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nachtgecko

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alpha : 2.28 — Das Muse­um der Nacht­häu­ser befin­det sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, die den New Yor­ker Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Ran­di­lis Island ver­bin­det. Ich weiß nicht, ob das Muse­um noch immer exis­tiert, es war oder ist ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, und der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen konn­te. Wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges, zufäl­lig, ent­deck­te ich die­ses Muse­um, von dem ich nie zuvor hör­te. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag, ich muss­te etwas war­ten, weil das Muse­um nicht vor Ein­bruch der Däm­me­rung öff­nen wür­de, ein Muse­um für Nacht­men­schen eben, die in Nacht­häu­sern woh­nen, wel­che erfun­den wor­den waren, um Nacht­men­schen art­ge­rech­tes Woh­nen zu ermög­li­chen. Als das Muse­um dann end­lich öff­ne­te, war ich schon etwas müde gewor­den, und weil ich der ein­zi­ge Besu­cher gewe­sen, führ­te mich ein jun­ger Mann per­sön­lich her­um. Er war sehr gedul­dig, war­te­te, wenn ich wie wild in mein Notiz­buch notier­te, weil er span­nen­de Geschich­ten erzähl­te von jenen merk­wür­di­gen Gegen­stän­den, die in den Vitri­nen des Muse­ums ver­sam­melt waren. Von einem die­ser Gegen­stän­de will ich kurz berich­ten, von einem metal­le­nen Wesen, das mich an eine Kreu­zung von Gecko und Spin­ne erin­ner­te. Das ver­ros­te­te Ding war von der Grö­ße eines Schuh­kar­tons. An je einer Sei­te des Objekts saßen Bei­ne fest, die über Saug­näp­fe ver­füg­ten, eine Kame­ra thron­te oben­auf wie ein Rei­ter. Der jun­ge Mann erzähl­te, dass es sich bei die­sem Gerät um ein Instru­ment der Ver­tei­di­gung han­del­te, aus einer Zeit, da Nacht­men­schen mit Tag­men­schen noch unter ein und dem­sel­ben Haus­dach wohn­ten. Das klei­ne Tier saß in der Vitri­ne in einer Hal­tung, als wür­de er sich ducken, als wür­de es jeder­zeit wie­der eine Wand bestei­gen wol­len. Das war näm­lich sei­ne vor­neh­me Auf­ga­be gewe­sen, Zim­mer­wän­de zu bestei­gen in der Nacht, sich an Zim­mer­de­cken zu hef­ten und mit klei­nen oder grö­ße­ren Ham­mer­werk­zeu­gen Klopf- oder Schlag­ge­räu­sche zu erzeu­gen, um Tag­men­schen aus dem Schlaf zu holen, die ihrer­seits weni­ge Stun­den zuvor noch durch ihre erbar­mungs­los har­ten Schrit­te den Erfin­der der Geck­oma­schi­ne, einen Nacht­ar­bei­ter, aus sei­nen Träu­men geris­sen haben moch­ten. Es war, sag­te der jun­ge Mann, immer so gewe­sen damals in die­ser schreck­li­chen Zeit, dass sich Tag­men­schen sicher fühl­ten vor Nacht­men­schen, die unter ihnen leb­ten, die mit Schrit­ten Zim­mer­de­cken ihrer Woh­nung nie­mals erreich­ten. Aus und fini! - stop

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georges perec

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tan­go : 22.01 — Fol­gen­des. Immer gegen 8 Uhr in der Früh bre­chen wir auf, Geor­ges und ich. Wir gehen ein paar Schrit­te über die Rue de Javel, neh­men die 6er-Metro durch den Süden, stei­gen dann um in Rich­tung Por­te Dau­phin, fah­ren mal unter, mal über der Erde im Kreis her­um, bis es Abend oder noch spä­ter gewor­den ist. So kann man gut sit­zen, zufrie­den, durch­ge­schüt­telt, Sei­te an Sei­te für vie­le Stun­den, und Men­schen betrach­ten, wie sie her­ein­kom­men, Fahr­gäs­te, wie sie im Wag­gon Platz neh­men, wie sie beschaf­fen sind, davon legen wir Ver­zeich­nis­se an, Geor­ges ein Ver­zeich­nis, und ich ein Ver­zeich­nis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Ver­zeich­nis aller Erschei­nun­gen eines Rau­mes anzu­le­gen, der nicht gera­de erfun­den wird, eines Rau­mes, der sich fort­be­wegt, der betre­ten und ver­las­sen wird von Men­schen im Minu­ten­takt, das Ver­zeich­nis eines Rau­mes, des­sen Fens­ter sich von Sekun­de zu Sekun­de neu bespie­len, weil es also unmög­lich ist, das Ver­zeich­nis eines wirk­li­chen Rau­mes anzu­le­gen, machen wir das so: in der ers­ten Stun­de des Rei­se­ta­ges notie­ren wir ein Ver­zeich­nis der zuge­stie­ge­nen Kra­wat­ten, in der zwei­ten ein Ver­zeich­nis der Schu­he und der Strümp­fe, ein Ver­zeich­nis, sagen wir, der Geh­werk­zeu­ge und ihrer Beklei­dung, dann ein Ver­zeich­nis der Haar­trach­ten, der Taschen, der Metho­den sich im fah­ren­den Zug einen siche­ren Stand zu ver­schaf­fen, der Gesprächs­ge­gen­stän­de, der Art und Wei­se sich zu küs­sen, zu strei­ten, oder aber ein Ver­zeich­nis absei­ti­ger Gestal­ten, ein Ver­zeich­nis der Die­be, der Bett­ler, der Posau­nis­ten, der Ver­wirr­ten ohne Ziel, je ein Ver­zeich­nis der Spra­chen und klei­ner Geschich­ten, die wir aus der all­ge­mei­nen Bewe­gung zu iso­lie­ren ver­mö­gen. Von Zeit zu Zeit, wäh­rend wir so fah­ren und notie­ren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Geor­ges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel ver­schluckt, als lache er nur des­halb, weil er Made­moi­sel­le Moreau wie­der frei­las­sen wol­le. Dann weiß ich, Geor­ges hat etwas gefun­den, das er mir abends in irgend­ei­nem Café, wenn wir fer­tig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser bei­der Köp­fe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen auf­be­wah­ren lässt, vor­tra­gen wird, – „Auf Kra­wat­te gelb, zehn­zwei, leben­de Amei­se, argen­ti­nisch, kreuz und quer. Der Code­na­me Ser­vals war Lou­viers“, sagt Geor­ges und hebt sein Glas. Fünf Glä­ser Pas­tis, fünf Glä­ser Was­ser, – dann sind wir wie­der leicht gewor­den, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, neh­men wir den letz­ten Über­land­zug nach Nor­den oder den 11er nach Süden, dort­hin, wo die Feu­er­nel­ken blühn, und wenn es end­lich Mor­gen gewor­den ist, stei­gen wir um, öff­nen die Fens­ter und fah­ren nach Wes­ten in unse­rer Wind­ma­schi­ne spa­zie­ren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewit­ter auf­stei­gen und Schwe­fel vom Him­mel kom­men und wei­ßes Licht, das die Land­schaft ent­zün­det. So haben wir schon sehr schö­ne Gedan­ken über das Feu­er gefan­gen und über das Schlag­zeug in die­sem gewal­ti­gen Raum, der über uns hängt, einem Raum, des­sen zen­tra­les Ver­zeich­nis von nicht mensch­li­chen Maßen ist, sodass wir bald nur schwei­gen und auf ent­fern­te Men­schen schau­en, auf Sze­nen im rasen­den Vor­über­kom­men, auf Fil­me, die in unse­ren Hin und Her has­ten­den Augen der­art kur­ze Fil­me sind, dass sie einer Foto­gra­fie sehr nahe kom­men, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbe­wegt. Es ist ganz so, als wür­den wir an einer gewal­ti­gen Auf­nah­me der Zeit vor­über kom­men, an einer Foto­gra­fie, deren Gegen­wart wir nicht berüh­ren, weil wir nicht aus­stei­gen kön­nen, ohne das Leben zu ver­lie­ren, weil wir zu schnell, weil wir in einer ande­ren Zeit sind. — stop / kof­fer­text

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schneefliegen

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nord­pol : 1.15 — Eine bis­lang unbe­kann­te Flie­gen­gat­tung soll unlängst in den Ber­gen Tibets ent­deckt wor­den sein. Es han­delt sich um Schnee­flie­gen, die über einen außer­or­dent­lich fei­nen Pelz ver­fü­gen. Die­ser Pelz nun, man wür­de in ihm zunächst ein evo­lu­tio­nä­res Han­di­cap unter Flug­tie­ren ver­mu­ten, ist trotz sei­ner Dich­te von außer­or­dent­li­cher Leich­tig­keit. Es wird berich­tet, dass eini­ge der Schnee­flie­gen auf gehei­men Wegen nach Euro­pa trans­por­tiert wor­den sind, wo man sie ein­ge­hend unter­such­te. Sie ver­meh­ren sich selbst in gewöhn­li­chen Kühl­schrän­ken bei Licht mit rasen­der Geschwin­dig­keit. Wovon sie sich ernäh­ren, ist bis­her nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib rei­ßen kann mit äußerst fei­nen Werk­zeu­gen ist sicher. Über die Fabri­ka­ti­on von Flie­gen­pe­lz­män­teln wird ernst­haft nach­ge­dacht, über Flie­gen­pe­lz­müt­zen, Flie­gen­pe­lz­hand­schu­he und wei­te­re Gegen­stän­de zur Erwär­mung mensch­li­cher Exis­tenz. — stop

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