nordpol : 5.04 — Denkbar, dass irgendwann einmal Warenhäuser existieren werden für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kopfes Zubehör. Auch Geschäfte für Nieren, Knochen, Sehnen, Haut und weitere Materialien eines menschlichen Körpers sind wahrscheinlich geworden. Man wird, sofern man über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, wesentliche anatomische Substanzen der eigenen Existenz in zentralen Magazinen voll ausgewachsen vorrätig halten, um in der Not ohne Verzögerung handeln zu können. Fernreisende führen dann Behälter mit sich, in welchen sich tiefgekühlte Lungen und Herzen befinden. Ein anatomischer Eisschatten könnte unsere Lebenszeit begleiten, solange man nicht in der Lage ist, eine komplette, eine durchblutete, willenlose Gestalt, eine Kopie der eigenen Person in nächster Nähe in Bereitschaft zu halten. Diese Person könnte über Reisepapiere verfügen, über persönliche Kleidung, über einen Schrankkoffer zum Schlafen, über einen Stuhl zum Sitzen, über etwas Personal, welches das doppelte Wesen füttern und baden und spazieren führen wird im Garten. Jedes fünfte Jahr würde das Wesen erneuert werden. In den Papieren meines Schattens könnte folgende Signatur zu entdecken sein: Louis / XD5878682-NOE06 24.11.10~24.11.2015. − stop
Aus der Wörtersammlung: herz
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 254, Luftfahrt — 1573, Automobile — 2546 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 5, 19. Jahrhundert – 122, 20. Jahrhundert – 568 , 21. Jahrhundert — 118 ], physical memories [ bespielt — 251, gelöscht : 88 ], Lichtfangmaschinen [ Rolleiflex Standard 620/621 : 1 ], Diary [ Mr. Kekkola 1972 — 1978 : 1 ] Öle [ 4.2 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 12, Kniegelenke – 17, Hüftkugeln – 421, Brillen – 1755 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 744, Größen 38 — 45 : 867 ], Kühlschränke [ 88 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 5, mit Taucher – 21 ], Engelszungen [ 18 ] | stop |
australien
olimambo : 3.26 — Im anatomischen Institut, unter dem Präpariersaal, befinden sich Arbeitsräume für Präparatoren, das sind kleinere Zimmer, in welchen metallene Tische stehen, helles Licht, sehr helles Licht, Lupenleuchten, Pinzetten, Skalpelle, Gefäße aller Art. Ich besuchte dort mehrere Male einen älteren Herrn, durfte ihm gegenüber Platz nehmen, beobachtete ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruhte. Ich erinnere mich noch gut an seine hellen, feingliedrigen Hände, wie sie rasend schnell Gewebe vom Herzkörper zupften. Der alte Mann war sehr erfahren in der Präparation, und er war schweigsam, also sprachen wir wenig. Gestern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Telefongespräch eine Frage entdeckte, die ich nun gerne sofort an ihn richten würde, wenn ich nur wüsste, ob er noch existiert. Ich würde nämlich gerne erfahren, wie es möglich sein kann, das Skelett eines Menschen, der gerade erst gestorben ist, seinem Körper zu entnehmen und auf dem Luftpostweg von Australien nach Europa zu senden. Genau das ist nämlich vor nicht einmal einem halben Jahrhundert geschehen. Eine Freundin, die in Griechenland aufgewachsen war, eine Griechin also, erzählte mir gestern, sie habe in ihrer Schulzeit ein menschliches Skelett vor Augen gehabt, von dem sie wusste, dass es echt gewesen war, dass es zu einem Bürger der Stadt, in der sie lebte, gehörte. Dieser Mann war nach Australien ausgewandert, um vor der Armut und Hoffnungslosigkeit, in der er lebte, zu flüchten. Kaum in Australien angekommen, starb der Mann. Und weil er nichts weiter zu verschenken hatte, vermachte er sein Skelett der Schule seiner Stadt. Der Mann hieß mit Vornamen Teofanis, weshalb auch das Skelett diesen Namen trug. Teofanis kehrte also an den Ort zurück, an dem er geboren worden war, genauer sogar in das Klassenzimmer, in dem er seine Matura abgelegt hatte, um dort dauerhaft zu verweilen in einer feinen Geschichte, deren eigentliches Ende in der Zeit bisher nicht abzusehen ist. — stop
ein anderes zimmer
tango : 6.30 — Wieder die Frage, wie lange Zeit ich bereits über Augen verfüge? Wann genau schaltete sich die Übertragung des Lichts für mich ein? Existieren noch Erinnerungen an diesen ersten Moment, Erinnerung von Farbe, Schatten, Bewegung? Welches Geräusch war erste das Geräusch gewesen, das ich hörte? Ein Herzpochen, ein Rauschen vielleicht, oder ein Standard von Benny Goodman, Musik in allernächste Nähe, und doch wie aus einem anderen Zimmer kommend? — stop
von den eisbriefen
kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop
PRÄPARIERSAAL : nachthörnchen
nordpol : 5.15 — Seit zwei Stunden sitzt ein Eichhörnchen auf meinem Fensterbrett. Es ist mitten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des kleinen Tieres, das um diese Uhrzeit eigentlich tief schlafen sollte, in der Dunkelheit zu erkennen vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche. Es ist denkbar, dass ich mir das Eichhörnchen nur vorstelle. Und wie ich über die Möglichkeit der Täuschung nachdenke, bemerke ich, dass die Vorstellung eines Eichhörnchens mittels weit geöffneter Augen tatsächlich gelingen kann, und zwar je für ein oder zwei Sekunden in einem Bild, das pulsiert, das in der dritten Sekunde schon wieder verloren ist und zunächst dann wieder erscheint, wenn ich das Wort Eichhörnchen denke oder Eichhörnchenschweif. Ich muss das weiter beobachten. Wenn ich nun die Notizen Michaels aus dem Präpariersaal, die vor mir auf dem Tisch liegen, betrachte, weiß ich, dass sie keine Täuschung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befinden, berühren, vom Tisch heben, falten und wieder entfalten kann, und damit gleichwohl Michaels Zeichen, die keinerlei pulsierender Bewegung unterworfen sind. Er schreibt: Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege, wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war, im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Gegenwärtig will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jeder Zeit rechnen. — stop
josephine auf der mary murray
tango : 6.34 — Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, wie sich Josephine an einem warmen Samstagvormittag auf den Weg macht nach New Jersey, um das Wrack der MS Mary Murray zu besichtigen? Wie sie ein Taxi ordert. Wie der Fahrer erzählt, dass er noch nie eine so weite Fahrt unternommen habe im Auftrag. Eigentlich dürfe er mit seinem Wagen die Stadt nicht verlassen. Also steigen sie in Josephines Auto um, einen uralten Buick, der seit über einem Jahrzehnt nicht aus der Garage bewegt worden war. Sie nehmen die Verrazano-Narrows Bridge südwärts. Josephine raucht schon lange nicht mehr, aber heute macht sie eine Ausnahme, eine. Ihr dünnes weißes Haar, das im Wind flattert, fängt sie mit wendigen Fingern wieder ein. Sie trägt Turnschuhe und ein orangefarbenes, sommerliches Kleid. Die Haut ihrer Beine, Arme, Schultern sind hell wie ihr Haar. Eine Stunde rauschen sie wortlos auf dem New Jersey Turnpike dahin. Nahe Freeholf halten sie an. Gleich neben dem Highway bewegt sich ein Fluss, dunkles, müdes Wasser, langsam. Am Ufer wartet ein junger, bärtiger Mann in einem Paddelboot von leuchtend roter Farbe. Wie Josephine sich in diesem Augenblick wünscht, fotografiert zu werden, wie sie sich in das Boot setzt, wie sie ihren Strohhut mit beiden Händen zurechtrückt, dann fahren sie los, unter mächtigen Brücken hindurch in Richtung des Raritanflusses. Möwen stehen im brackigen Wasser. Es ist fast still, nur das Geräusch des Paddels, ein paar Fliegen brummen durch die Luft. Einmal nähert sich ein Hubschrauber der Küstenwache, dreht wieder ab. Und plötzlich ist sie zu sehen, eine Fata Morgana in der Landschaft, das ausrangierte gewaltige Fährschiff der Staten Island Flotte, die MS Mary Murray. Schlagseite steuerbords ruht sie in einem Bett von Schilf, Libellen schießen hin und her, blaue und grüne riesige Tiere. Wie sich Josephine und der junge Mann dem Schiffswrack vorsichtig nähern. Wie der junge Mann eine Leiter am Rumpf des Schiffes befestigt. Wir sehen der alten Dame zu, wie sie vorsichtig Sprosse um Sprosse erklimmt. Ihr behutsamer Gang über das Deck, das sich neigt. Jetzt, da die Farben vom Schiffskörper fallen, von Stürmen und Regen gepeitscht, von der Sonne gebrannt, kann man das hölzerne Herz der alten Flottendame erkennen, Käfer und Ameisen spazieren über die Sitzbänke der Promenade. Josephine muss nicht lange suchen, im Schatten einer Ulme, die sich über das Schiff zu beugen scheint, eine Sitzbank, hier genau, ja, hier genau muss die Schrift ihrer Schwester Geraldine zu entdecken sein, ein Satz nur, den das kleine Mädchen im Jahr 1952 an einem Sommernachmittag auf dem Weg von Manhattan nach Staten Island in das Holz der Bank geritzt hatte, während ihre Zwillingsschwester Charlotte sie vor Entdeckung schützte. Wie Josephines zitternde Finger in diesem Augenblick über die Vertiefung der Zeichen fahren. — stop
uhrenwesen
sierra : 6.33 — Im Traum saß ich einmal in einem Zug in nächster Nähe eines Mannes und wunderte mich, weil ich ein merkwürdiges, ein sandig wisperndes Geräusch vernahm, das von dem Mann auszugehen schien. Er schlief tief und fest, erwachte auch dann nicht, als ich mich über ihn beugte und in eine der Taschen seines Mantels spähte. Die Tasche war gefüllt mit Armbanduhren. Als ich eine der Uhren herausnahm, ruhte sie warm in meiner Hand. Ich legte ein Ohr an den Körper der Uhr und hörte das Herz der Uhr leise schlagen und eine helle Stimme noch, die Sekunden zählte. — stop
PRÄPARIERSAAL : feuerherz
nordpol : 7.07 — In der vergangenen Nacht habe ich in meinen Verzeichnissen nach einem E‑Mailbrief gesucht, den mir eine junge Frau, Lidwien, vor einigen Jahren notiert hatte. Ich konnte den Brief nicht finden, keine meiner Suchmaschinen, weil ich den Brief versehentlich ohne Namen abgelegt hatte. Ich erinnere mich noch gut an Lidwien. Sie war eine zierliche, freundliche und zielbewusste Person, die mit einem leicht französischen Akzent formulierte. Ich hatte sie einmal beobachtet, wie sie im Präpariersaal mit ihren Händen in einem Säckchen wühlte, um kurz darauf innezuhalten und die Augen zu schließen. In dem Säckchen, das von schwarzem, lichtundurchlässigem Stoff gewesen war, befanden sich Knochen einer Hand. Es war die Aufgabe Lidwiens gewesen, unter den Knochen einen bestimmten Knochen zu finden und durch reines Tasten eindeutig zu identifizieren. Ich beobachtete die junge Frau, wie sie während ihrer Suche in dem strahlend hellen Licht des Saales stehend die Augen schloss, als ob sie in dieser Weise mit ihren Fingerspitzen in der Dunkelheit des Säckchens besser sehen könnte. Ein Gespräch folgte über Bilder, die der Saal in Lidwiens Geist erzeugte. Kurz darauf erhielt ich einen Brief, in dem sie ihre Gedanken präzisierte. Genau diesen Brief suchte ich vergeblich, dann erinnerte ich mich an den Titel eines Films, von dem die junge Frau berichtet hatte, und schon war der Brief in meinen Archiven aufzuspüren gewesen. Lidwien notierte unter anderem Folgendes: Wissen Sie, auf die Frage, ob die Bilder aus dem Saal in meinen Alltag hinübergleiten, kann ich mit einem total aufrichtigen NEIN antworten. Ich habe überlegt, wie das überhaupt sein kann, da muss ein Filter sein und ich finde diesen Filter in meinem Gehirn wirklich faszinierend. Neulich habe ich ein Interview mit einer ehemaligen Kindersoldatin aus dem Sudan gesehen, die eine Biografie mit dem Titel FEUERHERZ geschrieben hatte. Dramatische Dinge muss sie erlebt und für uns nahezu unvorstellbare Bilder gesehen haben. Auf die Frage, wie sie mit diesen grausamen Bildern umging, antwortete sie: Ich habe diese Bilder nicht besonders verarbeitet, denn ES WAR UNSER ALLTAG UND WIR WAREN ES NICHT ANDERS GEWOHNT. Ich habe diese Aussage mit meinen Erfahrungen in Beziehung gesetzt. Von dem Moment an, da ich die Präparierhallen regelmäßig betrete und viele Stunden des Tages darin verbringe, werden all die toten Körper, all die Präparate, die man auf ungewohnte und seltsame Weise mit den eigenen Händen bewirkt, ja gerade zu erschafft, und der beißende Geruch des Formalins, zu meinem Alltag. In diesem Alltäglichen, in der Routine, verlieren menschliche Emotionen und die dazugehörigen Bilder an Gewicht und Polarität: Aus leidenschaftlicher Liebe wird Freundschaft und Zusammenhalt, und aus Angst und Furcht wird Fatalismus und Gelassenheit. – Und deshalb bleiben meine Bilder im Saal und ich lasse sie dort, wenn ich nach Hause zu meiner Familie gehe. — stop
eine sprechende maschine
remington : 6.52 — Vor wenigen Tagen hatte ich von der Entdeckung eines Museums der Nachthäuser erzählt, das sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist noch immer ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Heute liegt der Garten tief verschneit. Ich stehe unter einem der Apfelbäume, die ohne Blätter sind. Dieser Baum trägt seine Sommerfrüchte so, als ob er sie festhalten würde, sie sind etwas kleiner geworden, voller Falten, aber sie leuchten Rot und sie duften. Der junge Mann, der mich bereits einmal durch das Museum geführt hatte, kommt in diesem Moment auf mich zu. Er freut sich, dass ich wiedergekommen bin. Eine Weile stehen wir uns gegenüber, es ist zum Erbarmen kalt, wir treten von einem Bein aufs andere, während der junge Mann eine Zigarette raucht, dann ist es fast dunkel und wir treten wieder in das Museum ein. Er möchte mir eine kleine Maschine zeigen, die im ersten Stock seit vielen Jahren in einer weiteren Vitrine sitzt. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine ähnliche Apparatur zu handeln, wie jene von der ich berichtete. Ein Gecko von Metall, der in der Lage ist, sich zum Zwecke protestierender Kommunikation Wände hinauf an die Decke eines Zimmers zu begeben, um sich dort festzusaugen. Aber anstatt eines oder mehrerer Schlaginstrumente, mit welchen gegen die Decke getrommelt werden könnte, verfügt dieses kleine Wesen über einen Lautsprecher, der wie ein Mund gestaltet ist, und deshalb hervorragend geeignet zu sein scheint, heftige Geräusche des Sprechens zu erzeugen. Bei dieser Apparatur, sagt der junge Angestellte, handelt es sich um den ersten Deckensprecher der Geschichte, ein äußerst sinnvolles Gerät. Er fordert mich auf, näherzutreten. Sehen Sie genau hin, sehen Sie, er ist verbeult! Tatsächlich war der kleine eiserne Gecko von zahlreichen Schlägen so verletzt, dass er vielleicht kaum noch in der Lage gewesen war, seiner Aufgabe nachzukommen. Denkbar ist, dass er in einer Nacht der Tagmenschen derart wirkungsvoll gearbeitet haben könnte, dass man ihn fangen wollte, weshalb man in die Wohnung des Nachtmenschen eingebrochen war, um ihn zum Schweigen zu bringen. Als man das ramponierte Gerät viele Jahre später öffnete, entdeckte man eine Tonbandspule, auf welcher Literatur von Bedeutung festgehalten war. Ein Bruchstück der historischen Aufnahme war noch vorhanden gewesen, und jetzt, in dieser Nacht, spielt mir der junge Mann vor, was der Apparat gesprochen hatte. Eine äußerst laute, scheppernde Stimme ist zu vernehmen: Zuerst wollte er mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett hinauskommen, aber dieser untere Teil, den er übrigens noch nicht gesehen hatte und von dem er sich keine rechte Vorstellung machen konnte, erwies sich als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als er schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich vorwärts stieß, hatte er die Richtung falsch gewählt, schlug an dem unteren Bettpfosten heftig an, und der brennende Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass gerade der untere Teil augenblicklich vielleicht der empfindlichste war. — Hier endet die Spule, ums sofort wieder von vorn zu beginnen. — stop