nordpol : 22.01 — Seit Tagen lässt sich in aller Ruhe die Erfindung eines fragenden Gedankens beobachten. Es handelt sich bei diesem Gedanken um eine Zeichenkette folgenden Inhalts: Ist es vielleicht denkbar, die eingeschlossenen Bürgermenschen der Stadt Aleppo mit Trinkwasser, Medikamenten und Brot aus der Luft zu versorgen? Noch lässt sich nicht sagen, ob der Gedanke so weit in einer logischen Form verwirklicht werden wird, dass aus einem Gedanken im Stadium der Entwicklung, ein Gedanke werden könnte, der sich tatsächlich denken, also verstehen lässt, demzufolge mit einem weiteren Gedanken in Verbindung gebracht werden könnte: Wann werden wir die eingeschlossenen Bürgermenschen der Stadt Aleppo mit Trinkwasser, Medikamenten und Brot aus der Luft versorgen? — stop
Aus der Wörtersammlung: kette
im museum
tango : 2.12 — Auf der Suche nach Texten, die das Wesen der Briefmarkensammler beschreiben, entdeckte ich eine wundervolle Beobachtung der Schriftstellerin Dubravka Ugresic. Sie notiert: Im Berliner Zoologischen Garten steht neben dem Bassin mit einem Seeelefanten eine ungewöhnliche Vitrine. Hier liegen unter Glas die im Magen des See-Elefanten Roland gefundenen Gegenstände, nachdem dieser am 21. August 1961 verendet war, und zwar: Ein rosa Feuerzeug, vier Eisstiele (Holz), eine Metallbrosche in Gestalt eines Pudels, ein Flaschenöffner, ein Damenarmband (Silber?), eine Haarspange, ein Bleistift, eine Wasserpistole aus Plastik, ein Plastikmesser, eine Sonnenbrille, ein Kettchen, eine kleinere Metallfeder, ein Gummireifen, ein Spielzeugfalschirm, eine Eisenkette, (ca. 40 cm lang), vier lange Nägel, ein grünes Plastikauto, ein Metallkamm, ein Püppchen, eine Bierdose (Pilsener, 0,33 l), eine Streichholzschachtel, ein Kinderpantoffel, ein Kompaß, ein Autoschlüssel, vier Münzen, ein Taschenmesser mit Holzgriff, ein Schnuller, ein Bund mit Schlüsseln (5 St.), ein Vorhängeschloß, ein Plastiketui mit Nähzeug. / aus: Das Museum der bedingungslosen Kapitulation. — stop
homs
delta : 0.25 — Noch nicht lang her, da entdeckte ich einen Film, der seltsamerweise einige Tage später auf der Position, da ich ihn im Internet bemerkt hatte, nicht mehr anzutreffen war. Der Film, so wird erzählt, war von einer Drohne aus aufgenommen worden, einem künstlichen Vogel, der über und durch die Straßen der Stadt Homs gesteuert worden war. Beinahe hätte ich notiert, die Drohne, sie muss ein recht großes Gerät gewesen sein, sei durch die Straßen der Stadt geirrt, aber für dieses Wort irren flog die Drohne viel zu souverän herum und über Häuser hinweg, sie bewegte sich wie eine professionelle Filmdrohne einer Hollywoodproduktion, oder aber so, als wäre sie an einem gefederten Schwenkkran befestigt, sie bewegte sich erschütterungsfrei durch die Luft, keinerlei Druckwelle, kein Wind weit und breit. Was wir sehen, wenn wir diesen Film betrachten, ist eine fürchterlich zerstörte Stadt. Ich habe diese Art Verwüstung auf Fotografien gesehen, Fotografien der Stadt München oder der Stadt Berlin oder Frankfurts, die im Jahr 1945 aufgenommen worden waren. Ich erinnere mich, man sah dort Menschen, die mit Eimern in langen Reihen hintereinander standen, um Steine in einer Kette zu transportieren, oder Menschen mit Kinderwagen, in welchen Kartoffelsäcke lagen, Menschen mit Rucksäcken und Menschen mit Koffern, die sie über Schuttberge wuchteten. Im mehrere Minuten andauernden Flug über und durch die Stadt Homs war jedoch kein Mensch zu erkennen. Mehrfach habe ich den Film vor und zurückgespielt, nein, kein Mensch war zu sehen, nicht ein einziger Mensch, sosehr ich meine Augen bemühte, nicht einmal Geister. — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war, damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
am nachttisch
india : 3.02 — Ich träumte von Winterfliegen. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich, vor Jahren einmal über Winterfliegen nachgedacht zu haben. Ich notierte Folgendes: Die Gattung der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, die sie mit ihren Fliegenfüßen persönlich in den Schnee eingraben. Vielleicht, das ist möglich, sind Winterfliegen von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen wärmenden Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen, dachte ich, werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton, das aus den vom Wind gebeugten Wäldern angeflogen kommt, von Moosen, Birkenpollen, vom Kotsand nordischer Füchse. Ich stellte mir vor, sie sind weiß, so weiß, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts im Sommer aus einem Apfel steigen. – Ein ruhiger Tag, Augen zu, warm, Sonne. — Abends sitze ich in der Küche am Tisch. Ich öffne eine Schreibmaschine, die ich vor drei Jahren aus dem aktiven Schreibmaschinenleben in mein Schreibmaschinenmuseum transferierte, um nachzusehen, ob ich sie vielleicht noch einmal in Gang setzen könnte. Kleine Schrauben türmen sich zu einem Berg, es riecht nach Metall, nach Zinn, wie in der Kindheit, wenn ich meine Nase an Radiogeräte drückte. An der Wand in nächster Nähe hockt Esmeralda, sie scheint mich zu beobachten oder das Innere der Schreibmaschine. Aus dem Nebenzimmer dringen noch immer Kampfgeräusche, Schüsse von Gewehren, helle Töne, als würden Kieselsteine aneinander schlagen. Auch große Kaliber sind zu vernehmen, deren genaue Bezeichnungen ich nicht kenne, Mörser vielleicht, Panzerkanonen, Maschinenwaffen. Ein Mann, ich möchte seinen Decknamen an dieser Stelle nicht verzeichnen, sammelt Filme in der digitalen Sphäre, die er zu endlosen Ketten knüpft, Szenen aus dem syrischen Bürgerkrieg, zuletzt von dem Kampf um Kobanê. Personen stehen auf einer Straße, sie feuern auf Häuser, plötzlich fallen sie um. Ein junger Mann hüpft vor dem Körper einer jungen Frau, die auf dem Rücken liegt, ein Teil ihres Gesichtes fehlt. Der junge Mann preist Gott, er stellt seinen Stiefel auf die Brust der jungen Frau, die vermutlich, nein sicher, gegen ihn kämpfte. Bärtige Männer eilen gebückt über Felder, einem der Männer fliegt ein Arm davon. — stop
analog
echo : 22.58 — In dem unterirdisch im Verborgenen liegenden Saal, von dem ich berichte, arbeiten 5756 Menschen. Gerade eben hat die Nachtschicht begonnen. Es ist feucht und warm, 36° Celsius, feiner warmer Regen hängt in der Luft, auch ein Rauschen vielfältiger Stimmen, die flüstern. Man sitzt vor kleinen Tischen, welche mit dem Boden verschraubt worden sind, wie auch die Stühle, auf welchen man arbeitet in allen möglichen Positionen. Über jedem der 5756 Tische befindet sich ein Körbchen, dort ruhen Briefe, die scheinbar endlos von der Decke wie vom Himmel fallen. Beobachtet man nun einen der Tische genauer und für eine gewisse Zeit, wird man bemerken, dass es sich bei der Arbeit der Menschen, die sich im Saal eingefunden haben, um die Arbeit des Brieföffnens handelt, keine körperlich schwere Arbeit, weil die Luft des Saales so feucht ist, dass sich die Briefumschläge in den Händen der arbeitenden Menschen wie von selbst öffnen wollen. Kaum liegen die Eingeweide eines der Briefe flach auf dem Tisch, werden sie fotografiert von allen Seiten her, um sodann wieder in ihren Umschlag gelegt und verschlossen zu werden. Eine Wolke von Klebstoff tritt zu diesem Zweck aus einer Düse, die sich je an der rechten Seite der Tische befindet, eine Art Rüssel, aus welchem kurz darauf ein heißer Luftstrom pfeift. Prüfende Blicke, ist alles so gefaltet und beschriftet wie vor der Öffnung gewesen? Und schon fällt der nächste Brief auf den Tisch, wird geöffnet, belichtet, verschlossen, in Form gepresst, Minute um Minute, ein Brief und noch ein Brief, gelesen wird an anderer Stelle, es ist viel zu warm hier, um noch studieren und nachdenken zu können, rasende Pulse. Da und dort fallen Sand, fallen glitzernde Papierherzen aus den geöffneten Kuverts, Schlüssel, Gebetsketten, Banknoten, Federn, digitale Speicherkärtchen, auf welchen, faszinierend, weitere geheime Schriftstücke zu entdecken sind. – stop / Versuchsanordnung
ai : KOLUMBIEN
MENSCH IN GEFAHR : „Das Haus des indigenen Menschenrechtsverteidigers Pedro Manuel Loperena im Nordosten Kolumbiens wurde am 11. Mai von einer Granate getroffen. / Am 11. Mai warfen zwei unbekannte Motorradfahrer eine Granate auf das Haus von Pedro Manuel Loperena im Bezirk Don Carmelo in Valledupar, der Hauptstadt des Departamento Cesar. / Pedro Manuel Loperena ist Koordinator der Menschenrechtskommission der Indigenenvereinigung Organización Wiwa Yugumaiun Bunkuanarrua Tayrona (OWYBT), die das indigene Volk der Wiwa vertritt, welches in der Bergkette der Sierra Nevada de Santa Marta lebt. Die Menschenrechtskommission setzt sich seit einiger Zeit in mehreren Fällen für Gerechtigkeit ein, bei denen es um die Verletzung der Menschenrechte geht, wie z. B. im Fall der außergerichtlichen Hinrichtung von elf Angehörigen der Gemeinschaft der Wiwa durch Sicherheitskräfte zwischen dem 15. Februar 2005 und dem 3. August 2006 sowie in anderen Fällen, in denen auf der einen Seite Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs, auf der anderen Seite Guerillaeinheiten Menschenrechtsverstöße begangen haben. Die Menschenrechtskommission kämpft zudem gegen zahlreiche Bergbau‑, Infrastruktur- und Tourismusprojekte im Gebiet der Sierra Nevada, da das Volk der Wiwa der Ansicht ist, diese Projekte würden ihre Nahrungsmittelversorgung einschränken, ihre traditionelle Lebensweise beeinträchtigen und somit ihr Überleben gefährden. Pedro Manuel Loperena hat sich zudem öffentlich gegen das anhaltende Operieren von illegalen bewaffneten Gruppen im Lebensraum der Wiwa ausgesprochen. / Zum Zeitpunkt des Granatenanschlags auf das Haus von Pedro Manuel Loperena befanden sich zudem seine Frau, die im Büro des Menschenrechtsbeauftragten (Defensoría del Pueblo) als Vertreterin der Gemeinschaft tätig ist, sowie seine vier Kinder (sieben, zehn, 18 und 19 Jahre alt) im Haus. Niemand von ihnen kam bei der Explosion zu Schaden. / Im Februar wählte die Gemeinschaft der Wiwa neue GemeindesprecherInnen. Das kolumbianische Innenministerium hat sich bislang geweigert, die neuen SprecherInnen anzuerkennen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 27. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
jamaica
echo : 20.26 — Ich will von einem Mann erzählen, der mir in einem Subwaywagon auf der Fahrt von der Lexington Avenue nach Jamaica begegnet war. Er trug, obwohl es im Abteil sehr warm gewesen war, Handschuhe an beiden Händen. Das waren recht merkwürdige Handschuhe, denn die Daumen des Mannes wurden von Schnüren, die an den Fäustlingen befestigt waren, ins Innere der Hand gezogen. Finger umschlossen sie fest, auch sie waren mittels Schnurwerkes gefesselt. Man könnte sagen, dass die Handschuhe, die der Mann trug, seine Hände bändigten, indem sie Fäuste formten. So, gefesselt, saß der Mann während der langen Fahrt vor mir und nickte. Er betrachtete seine Hände, wie mir schien, mit zärtlicher Aufmerksamkeit, in der Art und Weise der Liebenden vielleicht, wenn ein Blick nachts heimlich einen schlafenden Mund umschmeichelt. Ich versuchte zu arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren. Nach einiger Zeit fragte ich den Mann, ob er denn etwas in Händen hielte, etwas, das vielleicht flüchten könnte, wenn er seine Hände öffnete. Das schien nicht der Fall zu sein, weil der Mann seinen Kopf schüttelte und lachte, ohne indessen mit mir ein Gespräch aufnehmen zu wollen. Ich wartete also einige Zeit, sah aus dem Fenster, späte Flugzeuge, eine Kette von Lichtern, näherte sich dem Flughafen. Und da war mein müdes Gesicht im Spiegel der Scheibe. Und dann wieder der Mann und seine Hände, die auf seinen Schenkeln lagen. Sie drücken die Daumen, sagte ich, ist das möglich? Der Mann lachte jetzt. Er schien zu überlegen, dann antwortete er mit leiser Stimme, die in dem scheppernden Lärm des Subwaywagons kaum noch zu hören war, dass ein Problem sei, dass er nicht wisse, wie er seine Fäustlinge für das Wünschen bei Nacht, ohne die Hilfe eines weiteren Menschen anlegen könnte. Der linke der Handschuhe war im Übrigen von gelber, der rechte von blauer Farbe. — stop
luftgespräch
tango : 15.01 — Eine Notiz wiedergefunden, die Mr. Salter vor einigen Jahren unter dem Titel Elephantisland notierte. Er schrieb Folgendes: Kurz nach acht Uhr. Kalte, trockene Luft, ich notiere mit klammen Händen. Um 7 Uhr heute Morgen haben wir bei stürmischer See Elephantisland erreicht. Suche nach Miller unverzüglich aufgenommen. Südwestliche Bewegung die Küste entlang. Gegen 9 Uhr erste größere Seeelefantengruppen gesichtet. Heftiger Schneefall. Mittags dann auf menschliche Spuren gestoßen. Eine Mulde von zwei Fuß Tiefe im groben Untergrund, hüfthoher Steinwall nordwärts. Im Windschatten: drei gebleichte Walknochen, ein halbes Dutzend fingerdicker Hautstücke, ein Kamm, zwei rostige Kugelschreiber, eine Blechtasse, zwölf Pinguinschnäbel, fünf Batterien, drei Klumpen ranzigen Fettes, Bruchstücke eines Sonneneillektors und einer Schreibmaschine. Das Werkzeug war in einer Weise sorgfältig demoliert, als sei eine Dampfwalze darüber hin und her gefahren. Dann weitere zehn Minuten die Küste entlang, dann auf Miller gestoßen. Der Dichter stand mit dem Rücken zu einem Felsen hin und richtete ein Messer gegen einen Seeelefanten. Das Tier, das sehr gewaltig vor unserem Mann in den Himmel ragte, war nur noch zwei Armeslängen entfernt und scheuerte mit dem Rücken über den Felsen. Eigenartige Geräusche. Geräusche wohl der Lust. Geräusche, als habe das Tier eine verbeulte Trompete verschluckt. Geräusche auch von Miller. Helle Geräusche, kreischende, irre Töne. Wir haben zu diesem Zeitpunkt das Folgende über Miller zu sagen: Unser Mann ist entkräftet und stark verschmutzt. Zwei Finger der linken Hand sind erfroren. Kopfwärts wandernde Spuren von Dehydration. Miller spricht nur einen Satz: All for nothing. Wir haben den Rückweg angetreten, indessen, bei genauerer Betrachtung unserer Umgebung, auf Felsformationen entlang der Küste Fragmente von Zeichenketten entdeckt. Eindeutig Millers Handschrift. Bringen Dichter Miller jetzt nach Hause. — Mittwoch: Ein wispernder, knatternder, singender, knirschender, lirrpender, pfeifender, sirrender Bauch. Tiere von Luft sind zu Besuch gekommen, hüpfen, springen, seilen unter dem Zwergfelldach. Gespräche tatsächlich, die ich hören kann. — stop
menkem
nordpol : 4.56 — Flughafen. Früher Morgen. Regen. Das Licht verspätet sich, Flugzeuge, die weite Strecken gegen die Nacht geflogen sind, reihen sich, eine Kette zitternder Lichter, hintereinander bis zum Horizont. Neben mir auf einer Bank, den Blick auf die Landebahn gerichtet, sitzt ein alter Mann. Er heißt Menkem. Menkem lebt seit vielen Jahren in Deutschland, ein afrikanischer Mann, der Italienisch fließend spricht, Trigrinja und auch Deutsch, eine Sprache, die ihm nicht so leicht von den Lippen gehen will, weswegen er sehr langsam, Wort für Wort, formuliert. Wir warten auf einen weißen Vogel, einen Airbus 380, Linienflug LH 401 New York JFK – Frankfurt am Main, um 5 Uhr 15 soll das Flugzeug eintreffen. Da noch Zeit ist, frage ich, ob sich Menkems Familie in Sicherheit befinden würde oder ob sie vielleicht von Hunger bedroht sei in diesen Wochen. — Lange andauerndes Schweigen. — Dann antwortet mir der alte Mann. Er sagt: Afrika ist groß, sehr, sehr groß. Wir essen in Eritrea nicht vom Boden, wir sitzen immer auf einem Stein oder auf einem Stück Holz, wenn wir eines finden, oder wir haben ein Tuch, auf das wir uns setzen können. Wir sind einfache Mahlzeiten gewöhnt, wir essen nicht komplizierte Dinge wie die Menschen in Äthiopien, sofern sie nicht in Armut leben. Aber wir essen niemals vom Boden. Unsere Speisen sind scharf gewürzt. Oft haben wir sehr wenig. Immer müssen wir uns beeilen, essen, und dann sofort weiter. Der alte Mann macht eine schnelle Bewegung mit seiner Hand, als wollte er etwas von sich werfen. — stop