echo : 22.08 — Mein Vater verfügte über ein hervorragendes Gedächtnis. Jahrelang konnte er sich an Geschichten erinnern, die unmittelbar mit Lichtbildern, die er aufgenommen hatte, in Verbindung stehen. Nun, da er gestorben ist, existieren viele dieser Geschichten im Verborgenen, weil mein Vater sich nicht mehr an sie erinnert, sie nicht mehr erzählen wird. In seinem Arbeitszimmer, weiterhin unberührt, steht ein schwerer, alter Schrank gleich neben einem Fenster zum Garten, in welchem sich tausende Aufnahmen in Magazinen befinden. Einige der Magazine wurden beschriftet. Ägypten 1986, Chicago 1978 oder Wandern im Wallis 1969. Auf einer kleinen Schachtel ist Folgendes notiert: Andreas läuft. 87 Diafotografien sind in dieser Schachtel enthalten, farbige Aufnahmen, die sich mit meinen ersten Spazierversuchen verbinden. Ich trage weiche, helle Hosen und einen roten Pullover. Ich scheine sehr begeistert gewesen zu sein, mache große, runde Augen, manchmal sitze ich auf dem Boden und lache, ein andermal sitze ich auf dem Boden und weine. Auf der ein oder anderen Fotografie kommen Hände von der Seite her ins Bild oder sie kommen von oben. Einmal sind nur meine Füße zu sehen, sehr kleine Füße in blauen Strümpfen. Man könnte meinen, diese Aufnahme würde dokumentieren, dass ich das Fliegen lernte, noch ehe ich richtig stehen und laufen konnte. Indem ich die Bilder meines Vaters beobachte, wird seine Gegenwart intensiv spürbar, er war bei jeder Aufnahme in meiner Nähe gewesen, in der Nähe eines Kindes, das zur Zeit der Lichtnahme noch keine wirkliche Vorstellung davon haben konnte, was Erinnerung ist. Und tatsächlich, ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich das Laufen lernte. – Später Abend. stop. In Brooklyn, Haus 77, Orange St., soll eine Steinkirsche, Steinkirsche No 632, vollendet worden sein. — stop. — 5.08 Gramm. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
bohumil hrabal
tango : 6.56 — Ich beobachte meinen Fernsehbildschirm. Er ist so flach, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von Kriegsvorbereitungen, von chirurgischen, begrenzten Luftschlägen erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Wirklich, wahrhaftig ist dieses seltsame, schmerzende Gefühl, das ich bei dem Gedanken empfinde, man könnte die Armee des Diktators Baschar al-Assad bombardieren, seine Flughäfen, seine Flugzeuge, Raketen. Es ist ein zufriedenes, zustimmendes Gefühl, ein Reflex, wie ich so in meiner friedlichen, sicheren Wohnung sitze, eine Tasse Kaffee in der Hand. Bald wandere ich in die Küche und brate mir einen Fisch, eine kleine Dorade. Ich höre die Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich abwesend bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Vögel fliegen vorüber. Auf der Scheibe eines Fensters sitzt ein Marienkäfer und nascht von den Resten einer Wespe, die ich einen Tag zuvor tötete, weil sie sich in der Dunkelheit meinem Bett näherte. — stop
fenster zum fluss
sierra : 17.08 — Ein Freund, der sich seit längerer Zeit in Manhattan aufhält, erzählt via E‑Mail eine heitere Geschichte, die er selbst erlebt haben will. Vor einigen Tagen habe er demzufolge eine Bekannte besucht, die ein Apartment in einem modernen Mietshaus der Upper East Side bewohnt. Es handele sich um eine geräumige Wohnung in der 28. Etage mit faszinierender Aussicht auf den East River. Eine Leidenschaft der Wohnungsbesitzerin, eine Passion geradezu, sei die Beobachtung der Schiffe geworden, die den Fluss tief unten befahren. Der Anblick der Kähne und Ozeandampfer beruhige sie, schon von Weitem könne sie erkennen, wenn sich ein größeres Schiff vom Atlantik her nähere. Nicht zu vergessen natürlich, jene zierlichen, weißen und gelben Ameisenschiffe, Wassertaxis bei Tag und Nacht, und das beständige Blinken der Spierentonnen, Pulse, welche sie durch ihr Fernglas wahrnehmen könne. Als nun mein Freund seinen Besuch telefonisch ankündigte, wurde er gewarnt, der Aufzug des Hauses sei seit zwei Wochen defekt, weshalb viele der älteren Bewohner das Haus seit Tagen entweder gar nicht oder für längere Zeit ganz verlassen haben, er müsse zu Fuß emporsteigen und eine halbe Stunde Zeit für seinen Aufstieg berechnen, er solle sich etwas Proviant mitnehmen. Mein Freund machte sich wenige Stunden später auf den Weg nach oben. Weil er nicht trainiert war, ging er langsam, zunächst zählte er noch seine Schritte, aber bereits in der 6. Etage musste er sich setzen und seinen Atem beruhigen. Einige Boten, junge Männer mit Rucksäcken auf dem Rücken, kamen vorüber. Kurz darauf passierte ihn eine ältere Dame, schlafend oder bewusstlos, auf einer Trage liegend abwärts. Höhe der 18. Etage stand die Tür einer Wohnung offen. Treten Sie ein, war auf einem Zettel zu lesen. Im Wohnzimmer saß eine weitere ältere Dame hinter einem Tisch, reich gedeckt, Obst und kalter Fisch und Brot und Wasser. Ein reizender Anblick, Katzen lagen auf dem Boden herum. Die alte Frau wartete unter einem Sonnenschirm. Sie sagte: Komm, komm, in Zeiten der Not muss man zusammenhalten, alles ist umsonst, aber Du darfst in der Stadt nicht davon erzählen! Eine Stunde später erreichte mein Freund endlich die Wohnung seiner Bekannten. Sie saßen lange Zeit vor dem Fenster zum Fluss. Einmal näherte sich ein Hubschrauber. Er landete auf dem Dach. – stop
im zug
marimba : 2.32 — Am Abend spät betrat ein junger Mann einen Zug der Schnellbahnlinie, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet. Er schleppte ein Fahrrad hinter sich her, das so schwer bepackt gewesen war, dass er sich, genau genommen, nicht auf das Fahrrad setzen konnte, es war kein Platz für seinen schmalen Körper. Auf der Spitze des Gepäckberges von Taschen und Tüten, ruhte ein Körbchen, dort schlief eine Katze. Es war still, der Zug an diesem Abend beinahe leer, ein Zug, der über Gepäckabteile oder Nischen für Fahrräder, Kinderwagen und große Koffer verfügte. An keiner dieser geeigneten Stellen war der junge Mann mit seinem Fahrrad und seiner Katze jedoch eingestiegen, vielmehr in ein Abteil, in welchem sich ausschließlich Sitzplätze befanden. Nun geschah Folgendes: Eine Stimme in deutscher Sprache ersuchte den jungen Mann an der nächsten Haltestelle, auszusteigen und sich in ein Abteil zu begeben, das für ihn und sein Fahrrad vorgesehen war. Da der junge Mann nicht reagierte, wiederholte die Stimme ihr Anliegen in eben der deutschen Sprache. Auch diese zweite Aufforderung blieb ohne Erfolg, weshalb kurz darauf eine Ansprache zunächst in englischer, dann in französischer, schließlich in spanischer, zuletzt in portugiesischer Sprache zu vernehmen war. Es handelte sich je um Tonkonserven, die vermutlich alle genau denselben Text enthielten, dieselbe Botschaft oder Bitte, den Hinweis darauf, dass Fahrräder nur in den dafür vorgesehenen Abteilen befördert werden dürfen. Die Stimmen waren freundlich in ihrem Klang, angenehme Stimmen, sie wickelten sich ab in einem Zeitraum von drei oder vier Minuten. Es war vergeblich, der junge Mann bewegte sich nicht. Nach einer kurzen Phase der Stille hob sich die Stimme des Fahrers erneut. Er formulierte nun in chinesischer Sprache, ich nehme an, dieselbe Botschaft wie zuvor, ein bemerkenswerter Vorgang, ein Beispiel von Beharrlichkeit. Als der Zug kurz darauf in einem kleinen Bahnhof stoppte, erschien ein zierlicher Mann im Abteil. Er trug eine blaue Uniformhose und ein weißes Hemd, es handelte sich um einen Mann chinesischer Herkunft. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Er näherte sich dem jungen Mann, gestikulierte heftig, deutete mal auf den Besitzer des Fahrrades, dann auf das Fahrrad selbst, hob die Hände zum Himmel, um bald wieder zu verschwinden. Dann setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Vor den Zugfenstern schimmerte Schnee in den Bäumen. Ein Gespräch unter Reisenden war zu hören. Die Katze in ihrem Körbchen hatte für einen Moment die Augen geöffnet. — stop
oszillieren
marimba : 22.08 — Seit Monaten, wenn ich auf meinem Arbeitssofa sitze und zur Decke schaue, beobachte ich den Körper eines Käfers, der seine Position nicht zu verändern scheint. Genaugenommen sitzt der Käfer an der Wand, exakt dort, wo die Wand sich faltet, also endet. Sein Kopf ist nach unten gerichtet, als ob er mich besichtigen würde. Zunächst habe ich angenommen, der Käfer könnte schlafen. Aber nach zwei Wochen musste ich in Betracht ziehen, dass der Käfer vielleicht gestorben ist, dass er eigentlich herabfallen sollte, wenn sich nicht einer seiner Füße in einer Spalte der Tapete verhackt haben würde. Seltsam ist, dass ich keinen Wunsch verspüre, nachzusehen, ob es sich bei dem Käfer über mir um einen Schlafenden oder einen Toten handelt. Ich müsste nur einen Stuhl holen und mich dem Käfer vorsichtig nähern, vielleicht mit einem weichen Pinsel. Stattdessen schaue ich immer wieder gegen die Decke. Manchmal meine ich eine Bewegung gesehen zu haben, oder ich glaube, der Käfer sei etwas weiter nach Norden gezogen, während ich schlief. Ich muss das im Auge behalten. — stop
ai : USBEKISTAN
MENSCH IN GEFAHR : “Abdumavlon Abdurakhmonov ist seit April ohne Zugang zu seiner Familie in Usbekistan inhaftiert. Seine Familie befürchtet, dass ihm Folter und andere Misshandlungen drohen. / Der 38-jährige Tadschike Abdumavlon Abdurakhmonov ist am 25. April in Usbekistan angekommen, um sein Kind aus erster Ehe zu besuchen. Er hätte am 28. April wieder nach Tadschikistan zurückkehren sollen. Am 29. April erhielt Abdumavlon Abdurakhmonovs Bruder in Tadschikistan einen Anruf von dessen Ex-Frau, die ihn darüber in Kenntnis setzte, dass Abdumavlon Abdurakhmonov am 27. April vom usbekischen nationalen Sicherheitsdienst festgenommen worden war. Seine Angehörigen hatten seitdem keinen Kontakt mehr zu ihm. Berichten zufolge wurde er zwei Tage lang auf einer Polizeiwache in Bekobod in Ost-Usbekistan, 150 km von der Hauptstadt Taschkent entfernt, festgehalten. Am 10. Juni erhielt die Familie einen Anruf von einem Mann, der angab, in einer vorübergehenden Hafteinrichtung in Taschkent inhaftiert gewesen zu sein, in der auch Abdumavlon Abdurakhmonov inhaftiert war. Abdumavlon Abdurakhmonovs Familie weiß nicht, ob er Zugang zu einem Rechtsbeistand hat. / Sein Bruder kontaktierte das tadschikische Konsulat in Taschkent, um sich über die Gründe für die Inhaftierung von Abdumavlon Abdurakhmonov zu erkundigen. Das tadschikische Konsulat bat das usbekische Außenministerium um Auskunft und erhielt am 30. Mai die Rückmeldung, dass Abdumavlon Abdurakhmonov nicht von der Polizei in Bekobod festgenommen worden war. Abdumavlon Abdurakhmonovs Vater schrieb daraufhin im Juni an den tadschikischen Menschenrechtsombudsmann, um Unterstützung und Hilfe bei der Aufklärung des Verbleibs seines Sohnes zu erhalten. Der tadschikische Ombudsmann leitete die Anfrage an den usbekischen Ombudsmann weiter. Bisher hat der tadschikische Ombudsmann jedoch keine Antwort erhalten. / Menschen, die ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert sind, drohen unabhängig von der Länge der Inhaftierung Folter und andere Misshandlungen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 2. Oktober 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
linie 16
romeo : 4.15 — Mit der ersten Fahrt der Straßenbahn morgens kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus, hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und schnell auf und davonzufahren. Ich sollte einmal morgens auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen. Wenn nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen wird, der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt, Sitze und Lampen und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen tausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper, Verirrte, stürmen durch den weichen, fliegenden Falterwald. Abends kommt man dann wieder zurück, steigt aus mit der letzten Fahrt, hellgraue Geister. Ende August. In Syrien, nahe Damaskus, sollen mehr als 1000 Menschen durch Giftgas getötet worden sein. — stop
am schalter
marimba : 0.08 — Ich hatte folgenden Traum. Ich war gestorben. Ich saß mit zahlreichen Menschen in einer Halle, die mich an den Wartesaal eines Bahnhofes erinnerte. Tatsächlich hörte ich Zuggeräusche, das Schnaufen alter Lokomotiven. Alle Menschen in der Halle waren tot wie ich, zugleich aber sehr lebendig, ja fröhlich. Sie lagerten auf hölzernen Bänken. Libellen in allen möglichen Farben hasteten durch den Raum. Warmes Licht strömte durch Jalousien zu uns herein. Lautsprecherstimmen verlasen Namen, manche waren vertraut, andere klangen fremd. Ich erinnere mich an Kinder, sie tollten herum, manche spielten mit Puppen oder Bällen. Sobald ein Name aufgerufen wurde, erhob sich eine Person und ging zu einem der Schalter. Bald wurde auch mein Name verlesen. Eine Frau stand am Schalter vor mir. Die Frau scherzte mit einem Mann, der hinter einer Glasscheibe saß. Sie sagte, sie sei erschossen worden. In den Kopf, fragte der Mann. Die Frau nickte und der Mann antwortete sofort: Das müssen wir melden. Plötzlich richtete er seinen Blick auf mich und fragte: Sie auch? Sie auch in den Kopf? — stop
ai : MEXICO
MENSCHEN IN GEFAHR : “Der Menschenrechtler Herón Sixto López ist im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca verschleppt und getötet worden. Amnesty International befürchtet, dass auch seine Familie und KollegInnen in Gefahr sind. Am 20. Juli wurde die Leiche des Menschenrechtsverteidigers Herón Sixto López nahe der Gemeinde San Sebastián Tecomaxtlahuaca im Bundesstaat Oaxaca im Süden Mexikos gefunden. Sie wies mindestens sechs Schusswunden auf. Herón Sixto López war am 15. Juli als vermisst gemeldet worden; an diesem Tag war er zuletzt in seinem Büro des Orientierungs- und Beratungszentrums für indigene Völker (Centro de Orientación y Asesoría a Pueblos Indígenas — COAPI) gesehen worden. Sein Verschwinden wurde bei der Staatsanwaltschaft von Oaxaca in Juxtlahuaca offiziell angezeigt. / Herón Sixto López setzte sich in lokalen Gemeinden für die Rechte indigener Gruppen ein. So vertrat er beispielsweise das indigene Volk der Mixteken in Landstreitigkeiten. In den letzten Monaten seines Lebens hatte er zahlreiche anonyme Anrufe erhalten. Einer der Anrufer sagte ihm offenbar, dass man ihn “verschwinden” lassen würde. Seit seinem Tod haben seine Familienangehörigen Vorfälle angezeigt, die den Schluss nahelegen, dass sie sich ebenfalls in Gefahr befinden. Am 21. Juli wurde die Familie nach der Beerdigung von Herón Sixto López von einem Auto verfolgt. / Die Umstände, die zum Tod von Herón Sixto López führten, müssen noch in vollem Umfang geklärt werden. Dabei ist es allerdings wichtig, dass ein etwaiger Zusammenhang mit seiner Menschenrechtsarbeit umfassend untersucht wird.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 5. September 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
seepocken
olimambo : 2.18 — Sonntag. Große Hitze. — Zum ersten Mal habe ich eine Serie Fotografien betrachtet, die ich mit einer Kamera aufgenommen hatte, während ich die Fifth Avenue in Manhattan südwärts spazierte. Ich hatte nur eine vage Idee, was auf diesen Fotografien einmal zu sehen sein könnte, weil ich den Fotoapparat mit der rechten Hand festhielt, die an meiner Seite baumelte. Ich stellte mir vor, meine Hand würde sich in eine Kamera verwandelt haben, die in einem regelmäßigen Abstand von etwa 5 Sekunden je eine Aufnahme machte. Wie erwartet, waren Taschen und Beine, Schuhe, Hosen, Röcke, Papierkörbe, Ampeln, der Asphalt, Randsteine, Himmel, Wolken und Tauben zu sehen, Dächer sehr hoher Häuser, gleichwohl Klimaanlagen, die wie Seepocken an den Fassaden der Häuser sitzen, Feuerleitern, Dampfwolken, Gesichter von Menschen, die mir entgegengekommen waren, sie sahen mich an, nicht die Kamera, sondern mich selbst vielleicht, oder sie sahen vor sich hin, lachten, träumten. Manche der Menschen aßen, einige trugen dunkle Brillen, weil die Sonne sehr tief in die Straße leuchtete, andere hatten Hüte auf dem Kopf, es waren ein paar ausgesprochen müde Gesichter darunter, kaum jemand rauchte. Ich habe in dieser Art und Weise des Gehens 1524 Aufnahmen gemacht. Keiner der fotografierten Menschen schien indessen bemerkt zu haben, dass ich ihn abgebildet hatte. Aber es ist denkbar, dass der ein oder andere der fotografierten Menschen mein Tun bemerkte, nachdem ich längst vorübergegangen war, ein Gedanke, ein Gefühl, ein Verdacht, langsam, sehr viel langsamer als das Licht, das ich gerade noch eingefangen hatte. — stop