tango : 6.52 – Dieses Wort, Propellerwort, das sich seit einigen Stunden, weiß der Himmel, woher es gekommen ist, in meinem Kopf bewegt, scheint in der wirklichen Welt noch nicht zu existieren. Ich suchte in Wörterbüchern, ich suchte in der digitalen Sphäre, vergeblich. Was also könnte unter einem Propellerwort exakt zu verstehen sein? Ein Wort vielleicht, das in der Lage wäre, weitere Wörter, die vor oder hinter ihm in einem Satzverbund notiert worden sind, im Geiste eines Lesenden zu beschleunigen, oder den Lesenden selbst in seiner Art des Lesens heftig anzuregen. In diesem Augenblick kommt mir kein Wort in den Sinn, das in dieser Weise wirksam werden könnte. Stattdessen dachte ich an das Wort Zwergseerose, welches ich gestern noch notierte, das Wort Zwergseerose könnte für mich zu einem Propellerwort werden, weil es mich leichter werden lässt, weil ich mich freue, sobald ich das Wort denke oder höre, weil ich sofort weitere Zwergwörter bemerke, die mir gefallen, das Wort Zwerglibelle beispielsweise, oder das Wort Zwergameisenpferd, von den Ameisenpferden habe ich bereits erzählt, auch das Wort Ohrfeige, wenn ich das Wort Ohrfeige hinsichtlich der Baumfrüchte betrachte, scheint sich gleichwohl zu einem Propellerwort zu entwickeln. Oh, Du schöner Frühlingsmorgen. – stop
Aus der Wörtersammlung: november
ai : USA
MENSCH IN GEFAHR: „In den frühen Morgenstunden des 13. Februar 1994 entdeckte ein Polizist in einem Supermarkt in Columbia im US-Bundesstaat Missouri die Leichen der 44-jährigen Mary Bratcher, des 58-jährigen Fred Jones und der 57-jährigen Mabel Scruggs. Alle drei hatten in dem Supermarkt gearbeitet und waren an Kopfverletzungen gestorben. Ernest Lee Johnson, der regelmäßig in dem Supermarkt eingekauft hatte, wurde festgenommen und wegen dreifachen Mordes angeklagt. Man stellte ihn im Mai 1995 vor Gericht, sprach ihn schuldig und verurteilte ihn zum Tode. / 1998 ordnete der Oberste Gerichtshof von Missouri eine neue Strafzumessung an. Grund dafür war, dass der Rechtsbeistand von Ernest Lee Johnson es versäumt hatte, die Aussage eines Psychiaters vorzubringen, welcher seinen Mandanten untersucht hatte. Das Gericht erklärte, dass sich der “eindeutige und nachdrückliche Eindruck gefestigt” habe, dass diese Aussage “die Erwägungen der Geschworenen beeinflusst hätte”. Nach Ansicht des Gerichts hätten sich die Geschworen in der Folge möglicherweise für eine lebenslange Haftstrafe ausgesprochen. / Bei der erneuten Festlegung des Strafmaßes 1999 wurde gegen Ernest Lee Johnson jedoch wieder die Todesstrafe verhängt. 2002 entschied der Oberste Gerichtshof der USA, dass die Hinrichtung von Menschen mit einer geistigen Behinderung (intellectual disability / mental retardation) verfassungswidrig ist. 2003 ordnete der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Missouri abermals eine neue Strafzumessung im Fall von Ernest Lee Johnson an. Diesmal, weil Beweise für eine geistige Behinderung nicht angemessen dargelegt worden waren. Sein Intelligenzquotient (IQ) war im Laufe seines Lebens mehrfach bestimmt worden. Bei einem IQ-Test im Alter von acht Jahren ergab sich ein IQ von 77, bei einem Test im Alter von zwölf Jahren betrug der gemessene IQ 63. Ernest Lee Johnson hatte Probleme in der Schule und besuchte eine Sonderschule. Bei ihm wurde außerdem eine Alkoholembryopathie diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine Schädigung des Kindes, welche durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entstanden ist und unter anderem zu geistigen Entwicklungsschädigungen führt. Außerdem hat Ernest Lee Johnson während seiner Kindheit zwei schwere Kopfverletzungen erlitten. / 2006 wurde Ernest Lee Johnson zum dritten Mal zum Tode verurteilt. Die Geschworenen waren der Ansicht, dass es keine ausreichenden Beweise für eine geistige Behinderung gäbe. Ernest Lee Johnsons Verteidigung hatte erklärt, dass die Beweislast nicht bei ihrem Mandanten liegen dürfe und der Staat beweisen müsse, dass er keine geistige Behinderung aufweist. Zwei Expert_innen der Verteidigung hatten während des Verfahrens eine geistige Behinderung bestätigt. Einer von ihnen hatte den IQ von Ernest Lee Johnson bestimmt und erklärt, dass dieser bei 67 läge. Zudem sagten beide, dass er in verschiedenen Bereichen Anpassungsschwierigkeiten habe und sich seine geistige Behinderung bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahrs manifestiert habe. Der Mitarbeiter des hinzugezogenen staatlichen Experten ermittelte zwar ebenfalls einen IQ von 67, dieser gab jedoch an, Ernest Lee Johnson würde simulieren. Der Experte der Verteidigung stritt dies wiederrum ab und gab an, mithilfe von Untersuchungen ausgeschlossen zu haben, dass Ernest Lee Johnson simuliert. Die Staatsanwaltschaft erklärte gegenüber den Geschworenen, dass “anzunehmen, dass es wahrscheinlicher ist, dass dieser Mann eine geistige Behinderung hat, als dass er gesund ist, eine Beleidigung ist, eine Beleidung der Opfer”. Der Oberste Gerichtshof von Missouri bestätigte das Todesurteil 2008 und erklärte, dass “die Entscheidung der Geschworenen respektiert” werden müsse. Drei der sieben Richter_innen widersprachen dem jedoch und argumentierten, dass die Tatsache, “dass der Angeklagte beweisen musste, dass er geistig behindert ist, die Entscheidung — ob Johnson zum Tode verurteilt werden sollte — willkürlich erscheinen lässt” und dass die widersprüchlichen Fakten in diesem Fall “zeigen, dass das Ergebnis — Leben oder Tod — durchaus davon abhängen kann, bei welcher Seite die Beweislast liegt“. / Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 3. November 2015 hinaus, unter »> ai : urgent action
von schuhen
charlie : 3.25 – Bahnsteig 23, Zentralbahnhof, Dienstag, 28 Minuten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunklem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von ebenso schwarzer oder dunkelgrauer Farbe, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht einmal drei Stunden ist es her, dass sie an diesem Ort eingetroffen ist. Ich höre, der junge Mann, der an ihrer rechten Seite sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewesen, der die alte Frau aus dem Zug getragen hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte, so erschöpft waren ihre Füße vom wochenlangen Wandern durch halb Europa, außerdem waren zuletzt Schuhe kaum noch vorhanden. Ein Mädchen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroßmutter geborgen und schläft. Eigentlich müssten da noch zwei Jungs sein, der ältere Bruder des kleinen Mädchens, aber der ist tot, und auch ihr jüngerer Bruder ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mutter nicht, da ihre Wohnung von einer Granate getroffen worden war, als das kleine Mädchen auf die Straße rannte ganz allein, was eigentlich verboten war im November des vergangenen Jahres in einem Dorf 16 Kilometer weit entfernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroßvater des überlebenden Mädchens ist abwesend, weil er tot ist. Allerdings ist der Urgroßvater zur üblichen Zeit eines natürlichen Todes gestorben und in Form einer Fotografie nach Europa mitgekommen, die die alte Frau in diesem Moment in ihrer Hand hält und betrachtet. Ihr Sohn, der Vater des jungen Mannes, der seine Großmutter aus dem Zug getragen hatte, spricht gerade mit einer fröhlichen Person, die eine Weste trägt, welche leuchtet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er versucht der jungen deutschen Frau zu erklären, dass er vor Stunden seine Ehefrau aus den Augen verloren habe, er sagt immer wieder ihre Namen auf, damit man unverzüglich nach ihr suchen könne. Sein Sohn, der junge Mann, der neben seiner Großmutter sitzt, erzählt indessen in englischer Sprache, seine Großmutter habe das Dorf, aus dem die Familie vor Monaten geflüchtet war, in ihrem ganz Leben nicht ein einziges Mal verlassen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in diesem Nordland, Bahnsteig 23, Zentralbahnhof, versteht kein Wort, von dem, was da so überall um sie herum gesprochen wird, und streicht mit ihren Händen behutsam über das Haar des schlafenden Kindes. Immer wieder schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass diese Füße ihre eigenen Füße sind. Vorsichtig bewegt sie sie hin und her, noch keine Viertelstunde ist vergangen, da hatte sich ihr Enkel vor ihr niedergekniet, um ihr nagelneue feuerrote Turnschuhe anzuziehen von Puma. – stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR: „Die gewaltlose politische Gefangene Atena Farghadani befindet sich seit dem 9. Februar im Iran im Hungerstreik, um gegen ihre Haft zu protestieren. Nun schwebt sie in Lebensgefahr. Die Künstlerin befindet sich wegen ihrer friedlichen Aktivitäten in Haft, unter anderem hatte sie in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert. Die iranische Malerin Atena Farghadani trat am 9. Februar in einen Hungerstreik. Sie nahm fortan nur noch Wasser, jedoch keine Nahrung mehr zu sich. Hiermit will sie gegen die Fortdauer ihrer Haft im Gharchak-Gefängnis in der Stadt Varamin protestieren, in dem es keinen Trakt für politische Gefangene gibt und in dem die Haftbedingungen äußerst schlecht sind. Am 25. Februar gab ihr Rechtsbeistand an, dass Atena Farghadani als Folge ihres Hungerstreiks einen Herzinfarkt erlitten und kurzzeitig das Bewusstsein verloren habe. Sie gab an, ihren Hungerstreik solange nicht zu beenden, bis die Behörden ihrem Antrag nachkommen, sie in das Evin-Gefängnis in Teheran zu verlegen. Am 26. Februar wurde sie in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht. Atena Farghadani wurde zum ersten Mal am 23. August 2014 wegen ihrer friedlichen Aktivitäten festgenommen. Sie hatte Familien von politischen Gefangenen besucht und in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert, die einen Gesetzentwurf eingebracht hatten, der freiwillig durchgeführte Sterilisationen unter Strafe gestellt hätte und der Teil eines groß angelegten Plans ist, den Zugang zu Verhütungsmitteln und Dienstleistungen bezüglich der Familienplanung zu beschränken. Sie wurde fast zwei Monate lang im Trakt 2A des Evin-Gefängnisses festgehalten, davon 15 Tage in Einzelhaft. Zu ihrer Familie und ihrem Rechtsbeistand durfte sie keinen Kontakt aufnehmen. Am 6. November 2014 wurde sie gegen Zahlung einer Kaution freigelassen. Ihre neuerliche Festnahme am 10. Januar erfolgte nach der Vorladung eines Revolutionsgerichts, möglicherweise als Vergeltungsmaßnahme für ein Video, das sie nach ihrer Haftentlassung veröffentlicht und in dem sie erklärt hatte, wie Gefängnisaufseherinnen sie geschlagen und erniedrigenden Leibesvisitationen unterzogen sowie anderen Misshandlungen ausgesetzt hatten. Ihre Eltern gaben in Interviews an, dass Atena Farghadani vor ihrer Überführung ins Gharchak-Gefängnis noch im Gerichtssaal geschlagen wurde. Die Anklagen gegen sie lauteten auf “Verbreitung von Propaganda gegen das System”, “Beleidigung von Parlamentsabgeordneten durch Zeichnungen” und “Beleidigung des Religionsführers.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und bis spätestens 10. April, unter »> ai : urgent action
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR: „Der iranisch-amerikanische Journalist Jason Rezaian befindet sich seit sechs Monaten im Teheraner Evin-Gefängnis in Einzelhaft. Er hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand, wurde aber am 6. Dezember zum ersten Mal vor Gericht gestellt. Er ist ein gewaltloser politischer Gefangener. / Jason Rezaian, ein Iran-Korrespondent der Washington Post, wurde am Abend des 22. Juli zusammen mit seiner Frau Yeganeh Salehi, die für die Zeitung The National aus den Arabischen Emiraten schreibt, von Sicherheitskräften in Zivil festgenommen. Das Haus des Ehepaars wurde durchsucht und ihre Pässe konfisziert. Etwa einen Monat später erst wurde die Familie von Jason Rezaian und Yeganeh Salehi über den Verbleib der beiden informiert. Yeganeh Salehi kam im Oktober auf Kaution frei. Jason Rezaian wurde seinem Bruder Ali Rezaian zufolge mehrmals verhört. Ein von der Familie beauftragter Rechtsbeistand hat bislang keine Erlaubnis erhalten, Jason Rezaian zu besuchen oder seine Gerichtsakten einzusehen. Bei der Gerichtsverhandlung am 6. Dezember, die laut Ali Rezaian einen ganzen Tag lang angedauert haben soll, wurde Jason Rezaian lediglich ein Dolmetscher und kein Rechtsbeistand zur Verfügung gestellt. Zudem wurde er aufgefordert, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem er sich der Anklagen schuldig bekennt. Was Jason Rezaian vorgeworfen wird oder warum, ist nicht bekannt. / Seit seiner Festnahme wird Jason Rezaian im Evin-Gefängnis in Einzelhaft festgehalten. Dort darf ihn seine Familie nur gelegentlich besuchen. Er leidet unter Bluthochdruck und muss deshalb täglich Medikamente einnehmen. / In einem Interview mit der Nachrichtenagentur EuroNews am 6. November wurde der Vorsitzende des iranischen Obersten Rats für Menschenrechte, Mohammad Javad Larijani, gefragt, wann Jason Rezaian freigelassen werde. Nach seiner Einschätzung hätte dies “in weniger als einem Monat” geschehen müssen. Kaum eine Woche später sagte jedoch der Stellvertreter der Obersten Justizautorität des Irans, Hadi Sadeghi, dass die Ermittlungen im Fall Jason Rezaian noch im Gange seien und dass diese länger als einen Monat dauern können. Die iranischen Behörden haben bisher nichts über die Gründe für die Festnahme von Jason Rezaian verlauten lassen.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 20. Januar 2015 hinaus, unter »> ai : urgent action
ai : INDONESIEN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 27. September verabschiedete das Parlament von Aceh das islamische Strafgesetz für die Provinz Aceh (Qanun Hukum Jinayat) auf Grundlage der Scharia. Darin sind unter anderem bis zu 100 Stockschläge für gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und vor- sowie außereheliche sexuelle Beziehungen (“Ehebruch”) vorgesehen. Das Gesetz sieht die Prügelstrafe zudem für eine Reihe weiterer Vergehen vor, wie z. B. Alkoholkonsum, Glücksspiel, “Alleinsein mit einer oder einem Angehörigen des anderen Geschlechts, der oder die kein(e) Ehepartner_in oder Verwandte® ist” (khalwat), sexuelle Misshandlung, Vergewaltigung, außerehelicher Austausch von Zärtlichkeiten sowie Beschuldigung einer Person, Ehebruch begangen zu haben, ohne aber vier Zeugen vorweisen zu können. Es wird zudem befürchtet, dass die Vorschriften zur Beweislast in Fällen von Vergewaltigung und sexueller Misshandlung nicht den internationalen Standards entsprechen. Das islamische Strafgesetz der Provinz Aceh ist auf in der Provinz wohnhafte Muslime anwendbar. Jedoch könnten auch Nichtmuslime unter dem Gesetz verurteilt werden, wenn es um Vergehen geht, die nicht im indonesischen Strafgesetzbuch geregelt sind. /Das islamische Strafgesetz der Provinz Aceh wird nur dann der Zentralregierung zur Billigung vorgelegt, wenn der Gouverneur der Provinz es zuvor abzeichnet. Nach den gegenwärtigen Regelungen hat die Zentralregierung nach Vorlage des Gesetzes 60 Tage Zeit, eine Überarbeitung anzuordnen oder das Gesetz abzulehnen, falls es der indonesischen Verfassung oder anderen nationalen Gesetzen zuwiderläuft. / Die Prügelstrafe stellt eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafe dar, die gegen das Völkerrecht verstößt, insbesondere gegen Artikel 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und die UN-Antifolterkonvention, deren Vertragsstaat Indonesien ist.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 14. November 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
kollibry
echo : 5.55 — Im vergangenen November verlegte ich eine Nachricht, die mir per E‑Mail zugestellt worden war. Vermutlich hatte ich ihre Existenz bereits nach wenigen Stunden vergessen, sodass ihr Sender vergeblich auf eine Antwort wartete. Heute Nacht habe ich sie glücklicherweise wieder entdeckt. Es war damals etwas Bedeutendes geschehen. L. hatte ein Notebook geschenkt bekommen, das erste Notebook seines Lebens. Es war kein neues, es war ein gebrauchtes Gerät, aber noch in einem guten Zustand, kaum ein Kratzer am silbergrauen Gehäuse, seine Tasten funktionierten tadellos, und die Programme des Betriebssystems waren hervorragend sortiert. Ein ernstes Problem stellte allerdings eine Buchstabenmaschine dar, präzise die Korrekturroutine eines Textverarbeitungsprogramms, welches vom Vorbesitzer des Notebooks jahrelang intensiv verwendet worden sein musste. Das kleine Zusatzprogramm konnte nicht ausgeschalt werden, was angenehm gewesen wäre. Zahlreiche fehlerhafte Wörter waren in seine tiefen Speicher gewandert, und so webte das Programm, während L. mit seiner Hilfe notierte, Vorschläge in gerade eben entstehende Texte, beispielsweise anstatt des Wortes Kolibri das Wort Kollibry, was schließlich zu äußerst erstaunlichen Befunden führte. L. glaubte bald, sehr ernsthaft krank geworden zu sein. Er bat mich um Unterstützung, er wolle den Speicher der Wortmissbildungen unverzüglich ausradieren. – Es ist kurz vor drei Uhr. Vermutlich komme ich mit meinen Hinweisen viel zu spät, das ist denkbar, sogar wahrscheinlich, dass ich viel zu spät sein werde. Machen wir uns trotzdem sofort auf die Suche nach einer Lösung. Gewitterstimmung vor den Fenstern, Fliegen, Blitze, aber kein Donner, vielleicht eine Art Wetterleuchten, grandiose, aus dem Himmel stürzende Bäume von Licht. – stop
schlafen in turku
himalaya : 2.32 — Vielleicht werden Sie sich erinnern. Vom Schlafen habe ich bereits im Jahr 2008 notiert, und zwar im Monat November. Vor wenigen Minuten, als ich nach schwebenden Ballonen über der Stadt Turku suchte, habe ich einen entsprechenden Text unter dem Titel „Schlafen in Turku“ in den Verzeichnissen der Google-Suchmaschine wiederentdeckt. Der Text ist mir noch immer nah, weshalb ich ihn mitgenommen und an diesem Zeitort eingefügt habe. Ich stelle nun zum zweiten Mal die Frage: Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — Stille herrscht. — Nur das Fauchen der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. - Drei Uhr dreiunddreißig auf dem Maidan zu Kyjiw. — stop
rooseveltblüte
~ : malcolm
to : louis
subject : ROOSEVELTBLÜTE
date : nov 22 13 8.15 p.m.
Am 22. November berichtet die New York Times über Eichhörnchen Frankie, das seit Wochen auf dem Hurrikane Deck der Staten Island Fähre John F. Kennedy lebt. Wir konnten das nicht aufhalten. Weder den Bericht selbst, noch eine Fotografie, die das Eichhörnchen zeigt, wie es auf einer Sitzbank nach einem Finger greift. Frankie scheint sich auf dem Schiff wohlzufühlen. Vielleicht ist es die Wärme, vielleicht sind es die Bewegungen der Fähre auf dem Meer, die ihm gefallen. Natürlich ist er längst zur Attraktion geworden, zum Stadtgespräch, wird fotografiert und mit frischen Erdnüssen versorgt. Seit einigen Tagen nimmt Frankie gleichwohl Bananen zu sich, zutraulich wagt er sich nah an die Passagiere der Fähre heran, greift mit seinen Händen nach den Früchten, vermag sie zu öffnen, duckt sich, hastet mit seiner Beute je unter eine der Sitzbänke, weshalb zahlreiche Passagiere niederknien, um Frankie nicht aus den Augen zu verlieren. Gestern beobachteten wir, wie ein Mädchen Frankie berühren durfte. Er zitterte leicht, als das Kind mit einer Hand über seinen Rücken fuhr. Das Mädchen bemerkte Frankies Sender, der dicht unter seiner Haut verborgen liegt, rasch zog es seine Hand zurück. Es ist beunruhigend, welch große Aufmerksamkeit Frankie genießt. Wir haben den Eindruck, manche der Passagiere fahren nur deshalb mit der Fähre, um Frankie besichtigen zu können. Kaum noch kommen wir an ihn heran, ohne selbst fotografiert zu werden. Heute ist es sehr windig. Brooklyn und New Jersey liegen im Nebel. Man könnte glauben, dass wir uns auf hoher See befinden. Die Scheiben des Schiffes scheppern. Wasser peitscht über die Vordecks der Fähre. Menschen mit Fotoapparaten stehen im Wind und suchen nach Manhattan. Etwas seekrank sende ich allerbeste Grüße aus New York – Malcolm / codewort : rooseveltblüte
empfangen am
23.11.2013
1855 zeichen