delta : 5.08 — In der Bibliothek entdeckte ich vor einiger Zeit einen Zettel. Der Zettel steckte in einem Buch, das ich entliehen hatte, um nach einer Geschichte zu suchen, die ich vielleicht schon einmal gelesen haben könnte vor vielen Jahren. Es war eine Geschichte, die von einem Gespräch erzählt, welches Frau Blum mit ihrem Milchmann führte, in dem sie dem Milchmann Botschaften sendete, ein Verhalten, das notwendig gewesen war, weil Frau Blum üblicherweise schlief, wenn der Milchmann frühmorgens das Haus besuchte, in dem sie wohnte. Diese Geschichte, ein wunderbares Stück, hat Peter Bichsel geschrieben, eine ganze Welt scheint in ihr enthalten zu sein, obwohl sie so kurz ist, drei Seiten, dass man sie von einer Station zur nächsten Station in einer Straßenbahn reisend Wort für Wort zu Ende lesen könnte. Ich erinnere mich, das Buch lag weich in meiner Hand, es war etwas schmutzig, zerlesen, auf seiner Rückseite waren einige dutzend Stempelaufträge zu finden, so wie man das früher noch machte, Bücher mit Rückgabeterminen zu versehen, so dass jeder sehen konnte, wie oft das Buch bereits gelesen worden war. Dieses Buch, von dem ich gerade erzähle, war seit über zwanzig Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich stellte mir vor, dass das Bändchen vielleicht hinter eine der Bücherreihen gerutscht sein könnte, weswegen es lange Zeit nicht gefunden werden konnte. Vermutlich war das Buch längst verloren gemeldet, so dass ich ein Buchexemplar in Händen hielt, das in den Verzeichnissen der Bibliothek nicht länger existierte. Anderseits scheint es möglich zu sein, dass das Buch versteckt worden sein könnte. Vielleicht war es von genau jener Person versteckt worden, die den Zettel in das Buch gelegt hatte, eine Person, die möglicherweise bereits gestorben ist. Das alles ist natürlich reine Spekulation, allein die Existenz des Zettels ist sicher. Dort war in blauer, akkurater Schrift zu lesen: Wie man einen Vermerk schreibt, um sich an gelesene Geschichten erinnern zu können. – stop
Aus der Wörtersammlung: schrift
gallipoli : melissano : ugento
marimba : 2.10 — Linosa erzählte mir eine Geschichte, von der ich nicht sagen kann, ob sie sich tatsächlich so ereignete wie behauptet, oder ob die Geschichte rein erfunden sein könnte. Seit einigen Monaten erhalte er nämlich täglich einen Luftpostbrief aus Italien. In dem Brief sei jeweils ein beidseitig bedrucktes Blatt Papier enthalten, Text in englischer Sprache, nummeriert, feine, präzise formulierte Sätze. Er habe, so berichtete Linosa, einige dieser Sätze in die Maske einer Suchmaschine eingegeben, weshalb ihm nun bekannt sei, dass es sich wohl um ein zerlegtes Buch handeln könnte, das man ihm schicken würde, um Herman Melvilles Erzählung Bartleby. Das sei für sich genommen schon eine seltsame Angelegenheit, noch merkwürdiger komme ihm aber vor, dass dem Schreiben bisher keine Erklärung, Begründung oder auch nur ein Gruß beigefügt worden sei. Manchmal könne er mithilfe des postalischen Stempels entziffern, in welcher Stadt der Brief Tage zuvor aufgegeben wurde. Städte mit wundervollen Namen, Gallipoli, Melissano, Ugento, Lecce, Brindisi, seien darunter. Während er sich in den ersten Tagen noch gewundert, ja sogar ein wenig gefürchtet habe, würde er sich inzwischen darüber freuen, nachmittags aus dem 12. Stock seines Mietshauses zum Briefkasten hin abzusteigen, um den Brief entnehmen, öffnen und wieder im Aufstieg befindlich lesen zu können. 34 Briefe habe er bislang erhalten, 16 weitere Briefe sollten noch folgen, sofern der unbekannte Absender in logischer Weise fortsetzen würde. Der letzte Brief, der gestern aus Fasano kommend, bei Mr. Linosa eingetroffen war, soll eine besondere Briefmarke auf seiner Anschriftenseite getragen haben, acht Rentiere, die in einen verschneiten Himmel fliegen. Diese Briefmarke leuchte nachts in der Küche im Dunkeln, wo sie nun auf dem Stapel zuvor eingetroffener Briefe so lange sichtbar ruhen werden, bis wieder Nachmittag geworden sein wird. — stop
ai : TASCHIKISTAN
MENSCH IN GEFAHR: „Der tadschikische Staatsbürger Alexander Sodiqov, der derzeit in Kanada lebt, ist am 16. Juni im Osten Tadschikistans bei einem Forschungsaufenthalt festgenommen worden. Es besteht Sorge um seine Sicherheit und Grund zu der Befürchtung, dass er gefoltert oder anderweitig misshandelt wird. Alexander Sodiqov wurde am 16. Juni in Chorugh, der Hauptstadt der Autonomen Provinz Berg-Badachschan im Osten des Landes, von zwei Angehörigen des Staatskomitees für Nationale Sicherheit festgenommen. Alexander Sodiqov lebt derzeit in Kanada. Am 16. Juni um 9.30 Uhr Ortszeit konnte er seine Frau anrufen, sagte ihr jedoch nicht, wo er festgehalten wird. Seither fehlt von ihm jede Spur. Amnesty International geht davon aus, dass er bisher keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand hat. / Alexander Sodiqov ist Doktorand an der Universität Toronto. Er recherchierte in Tadschikistan für das Projekt Rising Powers and Conflict Management in Central Asia (Aufstrebende Mächte und Konfliktmanagement in Zentralasien) des Britischen Wirtschafts- und Sozialforschungsrats, an dem die Universität Newcastle und die Universität Exeter beteiligt sind. Seine Festnahme erfolgte, als er gerade ein Interview mit dem zivilgesellschaftlichen Aktivisten und stellvertretenden Leiter des regionalen Arms der Sozialdemokratischen Partei Tadschikistans, Alim Sherzamonov, führte. / Am 17. Juni durchsuchten Polizeibeamt_innen das Haus von Alexander Sodiqovs Mutter in der Hauptstadt Duschanbe und nahmen diverse Computer und Datenspeichergeräte mit. Am 17. Juni gab das Staatskomitee für Nationale Sicherheit eine Stellungnahme ab, in der Alexander Sodiqov Spionagetätigkeiten für ausländische Regierungen vorgeworfen werden. Laut Berichten der Nachrichtenagentur Asia Plus und von Radio Free Europe/Radio Liberty erschien Alexander Sodiqov am Abend des 18. Juni und am Morgen des 19. Juni im Lokalfernsehen in Badachschan und sprach über die Situation in der Autonomen Provinz. Radio Free Europe berichtete, dass manche Beobachter der Ansicht waren, das Filmmaterial sei editiert worden. Am 19. Juni sagte der Leiter des Staatskomitees für Nationale Sicherheit, Saimumin Yatimov, dass ausländische Spione unter dem Deckmantel von NGOs in Tadschikistan operierten und versuchten, die Sicherheit im Land zu untergraben. / Alexander Sodiqov wird nun schon seit 72 Stunden festgehalten und muss daher gemäß den tadschikischen Gesetzen entweder angeklagt oder freigelassen werden.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 31. Juli 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
nordseebild
himalaya : 0.58 — Eine Postkarte, die mich gestern erreichte, zeigt die Fotografie einer Insel. Die Aufnahme wurde aus großer Höhe, vermutlich aus einem Flugzeug, aufgenommen. Ein reetgedecktes Haus. Und Schafe. 12 dunkelhaarige und 21 hellhaarige Schafe. Auf einem Pfad, der zu einem Ladungssteg führt, ein Mann neben einem Fahrrad. Er blickt vielleicht auf das Meer. Weder die Farbe des Fahrrades noch das Alter des Mannes ist zu erkennen, der Mann könnte eine Frau sein. Auf der Rückseite der Postkarte wurde mit ungelenken Schriftzeichen eine Botschaft notiert: Liebe Aka, es ist hier sehr schön. Es ist 25 °C. Das Wasser ist 15 °C. Wir waren natürlich drin. Euer J. – Eine Anschrift fehlte. — stop
valletta : west street
nordpol : 2.54 — Gestern Abend erreichte mich eine E‑Mail von Georges. Er schreibt: Mein lieber Louis, wie ich durch die Stadt Valletta schlenderte, bemerkte ich in der West Street nahe St. Lucia eine kleine Werkstatt. Sie war düster, aber gerade noch hell genug, dass ich ein Mädchen erkennen konnte, das an einem Tisch saß, sie schien Hausaufgaben zu machen. Ich richtete meine Kamera auf das Mädchen, um es zu fotografieren, da hob sie den Kopf und sah mich an, mit einem freundlichen Blick. Ich fragte, ob ich eintreten dürfe. Es war ein wirklich düsterer Ort, das Licht der Straße erreichte gerade noch den Tisch, auf dem das Schulheft des Mädchens lag, und es war kühl, und es ging ein leichter Wind. In der Tiefe des Raumes erkannte ich einen weiteren Tisch, der von einer Glühbirne beleuchtet wurde, die ohne Schirm von der Decke baumelte. Hinter dem Tisch hockte ein dunkelhäutiger, alter Mann mit weißem Haar. Ich grüßte auch in seine Richtung. Als ich mich gerade herumdrehen wollte, um auf die Straße zurückzukehren, schaltete der Mann einen gläsernen Leuchtglobus an. Ein schönes blaues und gelbes Licht von Meeren und Wüsten strahlte in den Raum, vor dessen Wänden Regale bis zur Decke ragten. Dort warteten weitere Erdkugeln, es waren einige Hundert bestimmt. Ich bemerkte, dass der Mann auf dem Tisch Gläschen mit Farbe zu einer Reihe abgestellt hatte, er selbst hielt einen feinen Pinsel und ein Messer mit einer winzigen Klinge in der Hand. Außerdem ruhte der Globus vor dem Mann auf dem Kopf, vielleicht deshalb, weil er einmal aus seiner Fassung genommen und augenscheinlich herumgedreht worden war, der Südpol befand sich im Norden, der Nordpol im Süden der leuchtenden Kugel, an welcher der Mann mit seinen Werkzeugen arbeitete. Es war eine Arbeit für ruhige Hände. In dem Moment, als ich näher gekommen war, nahmen sie gerade die Entfernung des Schriftzuges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf stehend in das Blau des Meeres jenseits des afrikanischen Kontinentes reichte. Aus nächster Nähe nun beobachtete ich, wie der alte Mann die Spuren, die die Radierung des Schriftzuges erzeugt hatte, mit blauer Farbe füllte. Immer wieder prüfte er indessen den Ton der Pigmente, in dem er eine Lupe in sein linkes Auge klemmte. Er schien weitgehende Erfahrung in dieser Arbeit gesammelt zu haben, seine Hände bewegten sich schnell, es roch nach Terpentin, und der Mann hauchte gegen das Meer, wohl um seine Trocknung zu beschleunigen. Dann begann er zu schreiben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wörter so, dass sie richtig herum vor unseren Augen erschienen. Ich erinnere mich an ein Motorrad, das auf der Straße vorbei knatterte. Das Mädchen hatte seine Schulhefte geschlossen und war ins Licht der Sonne getreten. Plötzlich war es verwunden. — stop
tucholsky : dos passos
echo : 5.32 — Um kurz nach vier Uhr entdecke ich das Patent eines Bürostuhls, der sich mit Strom versorgen lässt, um Schlafende durch leichte oder mittelschwere elektrische Schläge zu wecken. Kurz darauf, schon hell, ein Text Kurt Tucholskys aus dem Jahr 1928. Ich zitiere: John Dos Passos, ›Manhattan Transfer‹ Da ist ›Manhattan Transfer‹ von John Dos Passos (bei S. Fischer in Berlin). Dieser halbe Amerikaner, dessen ›Drei Soldaten‹ (im Malik-Verlag) gar nicht genug zu empfehlen sind, hat da etwas Gutes gemacht. Ich denke, dass die Mode der amerikanischen Romane, die uns die Verleger und die Snobs durch Übermaß sacht zu verekeln beginnen, nachgelassen hat – und das ist auch gut so. Nicht etwa, weil nervöse und wenig erfolgreiche Reaktionäre der Literatur, zum Beispiel in den ›Münchner Neuesten Nachrichten‹, gegen die Übersetzungen aus dem Fremdländischen poltern –, sondern weil es zwischen der Hysterie der Anbetung und der Neurasthenie der Verdammung ein vernünftiges Mittelmaß gibt. Man soll fremde Länder kennenlernen – man soll sie nicht sofort segnen und nicht gleich verfluchen. ›Manhattan Transfer‹ ist ein gutes Buch – die Amerikaner haben sich da einen neuen Naturalismus zurechtgemacht, der zu jung ist, um an den alten französischen heranzureichen, aber doch fesselnd genug. Es sind Fotografien, nein, eigentlich gute kleine Radierungen, die uns da gezeigt werden; ob sie echt sind, kann ich nicht beurteilen, die Leute, die lange genug drüben gelebt haben, sagen Ja. Es ist die Lyrik der Großstadt darin, eine männliche Lyrik. Der Einsame auf der Bank: »Fein hast du dein Leben versaut, Josef Harley. Fünfundvierzig und keine Freude und keinen Cent, um dir gütlich zu tun.« Das hat einmal so gehießen: »Qu’as tu fait de ta jeunesse?«, und das ist von Verlaine und ist schon lange her, aber doch neu wie am ersten Tag. Das Mädchen da liegt auf ihrem Zimmer in der großen Stadt, schwimmt in der Zeit und ist so allein. Sehr schön, wie ein Mann auf der Bettkante sitzt, und da ist eine Frau, seine Frau, und ein Kind, sein Kind – und plötzlich sieht er, dass er »hagere rötliche Füße hat, von Treppen und Trottoirs verkrümmt. Auf beiden kleinen Zehen saß ein Hühnerauge.« Und da hat er Mitleid mit sich und weint. Das Buch ist auch formal gut – Dos Passos ist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein begabter Schriftsteller. Sehr hübsch ist diese Denkfigur, der man öfter bei ihm begegnet: »Auf dem Treppenabsatz befand sich ein Spiegel. Kapitän James Merivale blieb stehen, um Kapitän James Merivale zu betrachten.« Und diese, die gradezu programmatisch ist und viel tiefer als sie, leichtgefügt, wie sie ist, zu sein scheint: »Nichts hat so viel Erfolg wie der Erfolg.« Eine ähnliche Drehtür des Stils steht bei Sinclair Lewis, im ›Elmer Gantry‹, einem Buch von dem hier noch ausführlich die Rede sein soll … Ein einziger Klub, heißt es da, wird Herrn Gantry, den Prediger, vielleicht aufnehmen. »Des Ansehens wegen. Um zu beweisen, dass sie unmöglich den Gin in ihren Schränken haben können, den sie in ihren Schränken haben.« Die Übersetzung von ›Manhattan Transfer‹ durch Paul Baudisch ist sauber und anständig. Kleine Anmerkung: Man sagt im Deutschen kaum: »Das macht mich zipflig« –, sondern wohl immer: »Das macht mich kribblig«. Und was ist dies hier? »Dü Mauretania läuft öben eun; vürundzwanzig Stunden Verspötung« – Spricht eine alte gezierte Dame so? ein Oberhofprediger? Nein, das ist die Übersetzung irgendeines ›slang‹, und die Männer, die sich mit Übertragungen aus dem Englischen befassen, sollten sich das abmachen. — Der Morgen kommt. Tauben sitzen auf dem Fensterbrett. Sie haben tief geschlafen. — stop
quallenhautkoffer
ulysses : 3.25 — Ein blauer italienischer Himmel und Wärme, Hitze. Mitte Mai. Über den Sandboden schaukeln müde Eidechsen, zwei Enten sitzen auf einer Parkbank in unserer Nähe im Park. Als wir telefonierten, erinnert sie mich daran, dass sie in einer Grenzsituation lebe. Ich vergesse immer wieder ihr Alter. Sie sei bald vollständig belichtet, reise aber noch viel herum, Koffer werden ihr getragen, mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, Notizbüchern, einem Notebook. Das Notebook ruht in diesem Moment auf ihren Knien. Sie sucht in der digitalen Sphäre einen Text, an den ich mich erinnern kann. Sie liest mir vor, und ich notiere vom Quallenzimmer. Sie will das Zimmer von meiner Hand in ihrem Notizbuch haben. Ich schreibe langsam. Im Notizbuch finden sich zahlreiche weitere Handschriften, die nicht ihre Handschriften sind. Sie scheint Geschichten zu sammeln, oder Augenblicke des Schreibens. Ich höre meine eigene Geschichte, eine Entdeckung meiner Hände, die von einem freundlichen, hellen Raum erzählen, einem Zimmer von feinster Quallenhaut, einem Zimmer von Wasser, einem Zimmer von Salz, einem Zimmer von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Man sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt eine Tasse Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass man ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das man jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. — stop
ai : FRANKREICH
MENSCHEN IN GEFAHR: „Mehr als 200 Roma, darunter 50 Kindern, droht die rechtswidrige Zwangsräumung. Gegen die Bewohner_innen einer informellen Siedlung nahe der französischen Gemeinde Bobigny wurde ein Räumungsverfahren eingeleitet. Das Urteil eines Gerichts in Bobigny wird für den 30. Mai erwartet. / Die Bewohner_innen der Siedlung nahe Bobigny, nordöstlich der Hauptstadt Paris, wurden offiziell am 23. Mai durch einen Gerichtsdiener über das laufende Räumungsverfahren informiert. Wenige Tage zuvor kamen Behördenvertreter_innen in die Siedlung und teilten den Roma mit, dass ihre Wohnstätten am 2. Juni geräumt würden. Allerdings erklärten sie den Bewohner_innen nicht, wie genau dies geschehen würde, was bei den Roma Besorgnis und Furcht hervorrief. Amnesty International geht davon aus, dass die Siedlungsbewohner_innen nicht konsultiert wurden und den Familien keine alternativen Unterkunftsmöglichkeiten angeboten worden sind. Die Roma befinden sich nun in einer prekären Situation ohne Perspektive und sind in Gefahr, obdachlos zu werden. / Die Kinder der Siedlung sind an ihren Schulen gut integriert und werden von ihren Mitschüler_innen und Lehrer_innen unterstützt. Die französische interministerielle Vertretung für Wohnen (Délégation interministériel pour l’hébergement et l’accès au logement — DIHAL) hat die Bildung, die Roma-Kinder in Bobigny derzeit erhalten, als Beispiel für “gute Praxis” gelobt. Wenn diese Familien vertrieben werden, wird dies die Schulbildung der Kinder beeinträchtigen, wie bereits in anderen Fällen rechtswidriger Zwangsräumungen geschehen, die von Amnesty International dokumentiert wurden. Viele Jugendliche der Siedlung engagieren sich ehrenamtlich im Rahmen eines Projekts zur sozialen Inklusion, das von Rom Civic ins Leben gerufen wurde, eine Initiative, die von verschiedenen Ministerien, die für junge Menschen, Wohnungsbau und soziale Inklusion zuständig sind, begrüßt wird. Viele der erwachsenen Siedlungsbewohner_innen leben seit über zehn Jahren in Frankreich, sprechen Französisch und haben entweder eine Arbeitsstelle oder sind aktiv arbeitssuchend. / Sollte diese rechtswidrige Zwangsräumung tatsächlich stattfinden, so würde sie gegen internationale Standards verstoßen, die rechtswidrige Zwangsräumungen untersagen und festlegen, dass Räumungen nur dann rechtmäßig sind, wenn die im Völkerrecht vorgegebenen Bestimmungen über entsprechende Schutzmaßnahmen eingehalten werden. Hierzu gehört auch die Vorgabe, den Betroffenen angemessene Alternativunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Eine rechtswidrige Zwangsräumung der Siedlung würde alle Fortschritte, die von den Familien bei der Integration in die lokale Gemeinde bereits erzielt wurden, wieder zunichtemachen.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 2. Juni 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
papiere in zügen
delta : 0.08 — Ich erinnerte mich an einen Mann, dem ich vor zwei Jahren in einem New Yorker U‑Bahnzug begegnet war. Der Mann saß gleich vis-à-vis, sein Rücken lehnte an der Wand des Waggons, er hatte die Beine übereinander geschlagen, trug ramponierte, blaue Turnschuhe, und einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd zudem, sowie eine grellbunte Krawatte, deren Knoten locker vor einem langen, schmalen Hals schaukelte. Ich hatte damals den Eindruck, dass der Mann sich freute, weil ich ihn beobachtete, indem er Zeitungen durchsuchte, die sich auf dem Sitzplatz neben ihm türmten, und zwar in einer sehr sorgfältigen Art und Weise durchsuchte, jede der Zeitungen Seite für Seite. Er schien Übung zu haben in dieser Arbeit, seine Augen bewegten sich schnell und ruckartig, wie die Augen eines Habichts, hin und her. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neigte sich dann leicht nach vorn, um mit einer Schere einen Artikel oder eine Fotografie aus der Zeitung zu schneiden. Das Rascheln des Papiers. Und das helle, ziehende Geräusch der Schere, wie es die Seiten zerteilte. Ich notierte in mein Notizbuch: Ein verrückter Mann, ich werde ihm nie wieder begegnen. Diese Notiz habe ich heute bemerkt unter weiteren Notizen, die sich mit dem geduldigen Schlafen in U‑Bahnzügen beschäftigen. Ich frage mich nun, wie ich darauf gekommen sein könnte, den beobachteten Mann als verrückt zu bezeichnen. Vielleicht deshalb, weil ich mir vorgestellt hatte, wie der Mann leben könnte. Ich glaube, ich stellte mir das Leben eines Verrückten vor. In seiner Wohnung türmten sich Zeitungen, Tische, Stühle, Schränke existierten nicht, aber ein Bett, das von Papieren bedeckt war. Auch in der Wohnung, oder gerade eben dort, wurden Zeitungen durchsucht, neuere oder ältere Zeitungen, die der Mann während seiner täglichen Spazierfahrten durch die Stadt mit sich nahm. Eigentlich las der Mann die Zeitungen nicht wirklich, sondern nur Überschriften. Sobald er eine bemerkenswerte Überschrift entdeckte, wurde der dazugehörende Artikel gesichert, Artikel, die sich beispielsweise mit Blumen, Afrika, Ozeanografie, Geheimdiensten, Waffensystemen, Hungersnöten oder erzählender Literatur beschäftigten. Hunderttausende Schriftstücke waren so über viele Jahre gesammelt worden, eine faszinierende Tätigkeit, eine Arbeit, die den Mann glücklich gemacht haben könnte, ich vermute, weil er vor sich selbst verheimlichte, dass er seine gesammelten Dokumente niemals lesen wird, weil seine Lebenszeit nicht ausreichte, selbst dann nicht, wenn er das Sammeln einstellen und mit der Lektüre seiner Beweisstücke ohne Verzug beginnen würde. — stop
ai : IRAN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Berichte über GefängniswärterInnen, die im Trakt 350 des Evin-Gefängnisses in Teheran, in dem viele politische Gefangene inhaftiert sind, eine Razzia durchführten, verstärken die Sorge um die Sicherheit der Gefangenen. Infolge der Unruhen haben einige Gefangene offenbar Verletzungen, darunter Rippenbrüche, erlitten. Berichten zufolge wurden mindestens 32 Personen aus Trakt 350 in Einzelhaft in Trakt 240 des Gefängnisses verlegt. / Medienberichten zufolge drangen am Morgen des 17. April MitarbeiterInnen des iranischen Nachrichtendienstes sowie etwa 100 WärterInnen in Kampfausrüstung in den Trakt 350 des Evin-Gefängnisses ein, möglicherweise um eine Durchsuchung durchzuführen. Die genauen weiteren Geschehnisse sind nicht bekannt, doch es kam offenbar zu einer Konfrontation mit Gefangenen, die die Razzia zu verhindern suchten, wobei einige Gefangene verletzt worden sein sollen. Mindestens vier der verletzten Gefangenen wurden in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses eingeliefert. Berichten zufolge wurden weitere 26 Gefangene verletzt, doch ob sie innerhalb des Gefängnisses eine medizinische Behandlung erhielten, ist nicht bekannt. Mindestens zwei Gefangene, Esmail Barzegari und Akbar Amini, sollen sich Rippenbrüche zugezogen und ein dritter einen Herzinfarkt erlitten haben. Letzterer wurde auf die Intensivstation eines Krankenhauses außerhalb des Gefängnisses gebracht. / Weitere 32 Personen wurden in Einzelhaft verlegt, darunter der Anwalt Abdolfattah Soltani, der Aktivist für die Rechte von Minderheiten Sa’id Metinpour, der selbst der aserbaidschanischen Minderheit im Iran angehört, der ehemalige Staatsanwalt Mohammad Amin Hadavi, der Arbeitsrechtsaktivist Behnam Ebrahimzadeh und die politischen Aktivisten Behzad Arabgol und Hootan Dolati. All diejenigen, die in Einzelhaft verlegt wurden, sollen während der Verlegung von WärterInnen mit Schlagstöcken geschlagen worden sein.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 29. Mai 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action