sierra : 22.01 – Unter den Büchern, die bei mir wohnen, findet sich eines, das von einem großen russischen Erzähler geschrieben wurde, von Wenedikt Jerofejew, der nicht mehr unter uns Lebenden weilt, Alkohol hat ihn umgebracht oder er sich selbst oder wie auch immer. Sein Buch berichtet die Reise eines Trinkers vom Kursker Bahnhof zu Moskau nach Petuschki, einem russischen Städtchen draußen in der Weite. Eine Höllenfahrt, ein Buch, das ich niemals aufgeben werde, ein Gespräch mit Engeln: Warum hast Du alles ausgetrunken, Wenja! – Von Zeit zu Zeit trag ich das Bändchen in meinen Händen, schau hinein, lese Wörter und Sätze, aber ich habe die Geschichte nie bis zu ihrem letzten Satz gelesen, kann nicht genau sagen, warum das so ist. Vielleicht wünsche ich insgeheim, dass das Buch kein Ende finden möge. Es ist kein umfangreiches Buch, nein, nein, 170 Seiten, und sein Rücken zerschlissen, sodass ich manchmal nähertreten und nach ihm suchen muss. Gelegentlich, als Wenedikt Jerofejew noch unter uns war, hatte ich mir vorgestellt, wie ich ihn einmal besuchen würde, wie ich vor seinem hölzernen Haus auf einer Treppe sitzend warte, wie er auf mich zukommt, wie ich seine Hand nehme, wie ich das zitternde Feuer seiner Lebenshölle spüre, wie ich zu ihm sage: Wenja, mein lieber Wenja, lies mir vor! Und wie wir dann auf einer Treppe in der Sonne sitzen, Fliegen tanzen über unseren Köpfen, seine Stimme: Louis, hör zu! – Alle sagen, – der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum anderen, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen. — stop
Aus der Wörtersammlung: viele
matrjoschka
romeo : 6.28 — Seit meiner Kindheit besitze ich eine Puppe von Holz. Ich habe sie unter dem Namen Babuschka kennengelernt. Dieser Name war so lange gültig gewesen, bis mir eine russische Bekannte erzählte, dass es sich eigentlich um eine Matrjoschkapuppe handeln würde. Man kann diese Puppe öffnen, indem man an ihr dreht, bis sie sich an ihrem Bauch derart entzweit, dass sie tatsächlich aus zwei Teilen mit exakt geschnittenen Rändern besteht, einem unteren Teil mit Füssen, die in Farbe auf das helle Holz aufgetragen sind, und einem oberen Teil mit einem gezeichneten Kopf. Mit dieser Trennung geht die Gestalt der Puppe jedoch nicht wirklich verloren, weil sie in einer kleiner gewordenen Ausgabe, die sich in der größeren Puppenform versteckte, weiterhin vorliegt. Sie verfügt über das gleiche Gesicht, wie ihre Hülle, über einen etwas kleineren Mund, und gleichfalls gerötete Wangen und kleinere Augen, und sie drückt in dieser Erscheinung nichts anderes aus als: Ich bin nur eine Hülle, ich trage mein eigentliches Inneres in mir, mein Wesen, öffne mich! Und so weiter und so fort. Gestern nun habe ich einen Brief gelesen, in dem von der Gattung der Babuschkapuppen die Rede war. Ich hatte den Brief noch nicht zu Ende studiert, da stand ich auf und ging zum Regal, nahm meine Puppe seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder in die Hand und öffnete sie. Tatsächlich habe ich sofort ein intensives Gefühl wahrgenommen, eine Empfindung meiner Kindheit, zugleich in der Zeit weit entfernt und nah und vertraut. Hier der Brief, der mir meine Puppe von Holz in Erinnerung gerufen hatte. Miriam erzählt von Erfahrungen des Präpariersaales: Zuerst also haben wir die Haut entfernt und dann das Fett. Das war wie ein zweiter Mantel gewesen, und dann kamen die Muskeln dran, und plötzlich war der Bauch offen. Bis dahin habe ich immer an diese Babuschkapuppen gedacht. Die werden ja auch immer kleiner, wenn man eine geöffnet hat und danach die nächste. Aber dann waren auf dem Tisch plötzlich nur noch Arme und Beine und ein Kopf, der aus zwei Teilen bestand. Ich weiß noch, wie ich am Ende des Tages alles so hingelegt habe, als wäre der Rumpf noch da, solch eine Ordnung habe ich versucht. Das sah also aus wie ein Strichmännchen. Aber eben ohne Bauch. Ich erinnere mich in diesem Moment sehr gut an eine merkwürdige Geschichte aus der Anfangszeit des Kurses. Ich war schon sehr früh am Morgen im Präpariersaal des Institutes. Ich hatte schlecht geschlafen wegen einer leichten Grippe, und so war ich eine der ersten Studentinnen gewesen, die an diesem Tag die Arbeit an ihrem Leichnam aufgenommen haben. Ich präparierte an einem der Arme, eine recht komplizierte Angelegenheit war das gewesen, und ich dachte immer wieder, dass meine Hand nicht ruhig genug wäre, um eine so feine Aufgabe auszuführen. Ich fluchte also ein wenig vor mich hin und dann entschuldigte ich mich plötzlich. Ganz im Ernst. Ich entschuldigte mich bei dem Leichnam für meine unfreundlichen Worte. Ich höre das jetzt noch. Ich höre mich sagen: Sorry! Und ich sage Dir, ich habe mich gut gefühlt. Ich habe, nachdem mir bewusst geworden war, dass ich zur Leiche gesprochen hatte, noch ein wenig so weitergemacht. Eine Unterhaltung war das natürlich nicht. Ein Monolog. One way! Aber gut. — stop
lufträume
bamako : 6.30 — Der Stuhl meines Vaters im Zimmer vor den Bäumen. Sobald ich mich setze, spüre ich seine Gegenwart, als wäre er gerade erst aufgestanden, um kurz in ein anderes Zimmer zu gehen. Genau dieser Ort, ja, dieser Raum, so viele Jahre, so viele Stunden lang hatte mein Vater an dieser Stelle verbracht, dass er nur sehr langsam weichen kann in der Wahrnehmung seines Sohnes. Da ist seine Schublade, sein Lichtmessgerät, sein Brieföffner, sein Radiergummi, sein Bleistift, seine Lupe, sein Fotoapparat. Und das hier ist seine Aussicht auf den winterlichen Garten, auf den Computerbildschirm, auf die Tastatur seiner Schreibmaschine, auf seine Lampe, die noch immer warmes Licht ins Zimmer sendet, Licht, das mein Vater sich wünschte. Es ist eine seltsame Erfahrung, dass sich mit den Spuren eines Menschen spürbare Gegenwart verbindet. Das Geräusch einer Zeitung, die raschelt. Eine Tür, die sich öffnet. Vor wenigen Tagen noch hörte ich meine Mutter davon erzählen, wie sehr ihr mein Vater fehle. Und weil die Worte nicht ausreichten, dieses Fehlen zu beschreiben, machte sie eine sehnende Geste, als würde sie einen unsichtbaren Mann umarmen, einen Raum, der nur noch Erinnerung ist, einen Raum, der weder mit Händen noch Lippen berührt werden kann. — stop
PRÄPARIERSAAL : feuerherz
nordpol : 7.07 — In der vergangenen Nacht habe ich in meinen Verzeichnissen nach einem E‑Mailbrief gesucht, den mir eine junge Frau, Lidwien, vor einigen Jahren notiert hatte. Ich konnte den Brief nicht finden, keine meiner Suchmaschinen, weil ich den Brief versehentlich ohne Namen abgelegt hatte. Ich erinnere mich noch gut an Lidwien. Sie war eine zierliche, freundliche und zielbewusste Person, die mit einem leicht französischen Akzent formulierte. Ich hatte sie einmal beobachtet, wie sie im Präpariersaal mit ihren Händen in einem Säckchen wühlte, um kurz darauf innezuhalten und die Augen zu schließen. In dem Säckchen, das von schwarzem, lichtundurchlässigem Stoff gewesen war, befanden sich Knochen einer Hand. Es war die Aufgabe Lidwiens gewesen, unter den Knochen einen bestimmten Knochen zu finden und durch reines Tasten eindeutig zu identifizieren. Ich beobachtete die junge Frau, wie sie während ihrer Suche in dem strahlend hellen Licht des Saales stehend die Augen schloss, als ob sie in dieser Weise mit ihren Fingerspitzen in der Dunkelheit des Säckchens besser sehen könnte. Ein Gespräch folgte über Bilder, die der Saal in Lidwiens Geist erzeugte. Kurz darauf erhielt ich einen Brief, in dem sie ihre Gedanken präzisierte. Genau diesen Brief suchte ich vergeblich, dann erinnerte ich mich an den Titel eines Films, von dem die junge Frau berichtet hatte, und schon war der Brief in meinen Archiven aufzuspüren gewesen. Lidwien notierte unter anderem Folgendes: Wissen Sie, auf die Frage, ob die Bilder aus dem Saal in meinen Alltag hinübergleiten, kann ich mit einem total aufrichtigen NEIN antworten. Ich habe überlegt, wie das überhaupt sein kann, da muss ein Filter sein und ich finde diesen Filter in meinem Gehirn wirklich faszinierend. Neulich habe ich ein Interview mit einer ehemaligen Kindersoldatin aus dem Sudan gesehen, die eine Biografie mit dem Titel FEUERHERZ geschrieben hatte. Dramatische Dinge muss sie erlebt und für uns nahezu unvorstellbare Bilder gesehen haben. Auf die Frage, wie sie mit diesen grausamen Bildern umging, antwortete sie: Ich habe diese Bilder nicht besonders verarbeitet, denn ES WAR UNSER ALLTAG UND WIR WAREN ES NICHT ANDERS GEWOHNT. Ich habe diese Aussage mit meinen Erfahrungen in Beziehung gesetzt. Von dem Moment an, da ich die Präparierhallen regelmäßig betrete und viele Stunden des Tages darin verbringe, werden all die toten Körper, all die Präparate, die man auf ungewohnte und seltsame Weise mit den eigenen Händen bewirkt, ja gerade zu erschafft, und der beißende Geruch des Formalins, zu meinem Alltag. In diesem Alltäglichen, in der Routine, verlieren menschliche Emotionen und die dazugehörigen Bilder an Gewicht und Polarität: Aus leidenschaftlicher Liebe wird Freundschaft und Zusammenhalt, und aus Angst und Furcht wird Fatalismus und Gelassenheit. – Und deshalb bleiben meine Bilder im Saal und ich lasse sie dort, wenn ich nach Hause zu meiner Familie gehe. — stop
eine sprechende maschine
remington : 6.52 — Vor wenigen Tagen hatte ich von der Entdeckung eines Museums der Nachthäuser erzählt, das sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Es ist noch immer ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, der Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Heute liegt der Garten tief verschneit. Ich stehe unter einem der Apfelbäume, die ohne Blätter sind. Dieser Baum trägt seine Sommerfrüchte so, als ob er sie festhalten würde, sie sind etwas kleiner geworden, voller Falten, aber sie leuchten Rot und sie duften. Der junge Mann, der mich bereits einmal durch das Museum geführt hatte, kommt in diesem Moment auf mich zu. Er freut sich, dass ich wiedergekommen bin. Eine Weile stehen wir uns gegenüber, es ist zum Erbarmen kalt, wir treten von einem Bein aufs andere, während der junge Mann eine Zigarette raucht, dann ist es fast dunkel und wir treten wieder in das Museum ein. Er möchte mir eine kleine Maschine zeigen, die im ersten Stock seit vielen Jahren in einer weiteren Vitrine sitzt. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine ähnliche Apparatur zu handeln, wie jene von der ich berichtete. Ein Gecko von Metall, der in der Lage ist, sich zum Zwecke protestierender Kommunikation Wände hinauf an die Decke eines Zimmers zu begeben, um sich dort festzusaugen. Aber anstatt eines oder mehrerer Schlaginstrumente, mit welchen gegen die Decke getrommelt werden könnte, verfügt dieses kleine Wesen über einen Lautsprecher, der wie ein Mund gestaltet ist, und deshalb hervorragend geeignet zu sein scheint, heftige Geräusche des Sprechens zu erzeugen. Bei dieser Apparatur, sagt der junge Angestellte, handelt es sich um den ersten Deckensprecher der Geschichte, ein äußerst sinnvolles Gerät. Er fordert mich auf, näherzutreten. Sehen Sie genau hin, sehen Sie, er ist verbeult! Tatsächlich war der kleine eiserne Gecko von zahlreichen Schlägen so verletzt, dass er vielleicht kaum noch in der Lage gewesen war, seiner Aufgabe nachzukommen. Denkbar ist, dass er in einer Nacht der Tagmenschen derart wirkungsvoll gearbeitet haben könnte, dass man ihn fangen wollte, weshalb man in die Wohnung des Nachtmenschen eingebrochen war, um ihn zum Schweigen zu bringen. Als man das ramponierte Gerät viele Jahre später öffnete, entdeckte man eine Tonbandspule, auf welcher Literatur von Bedeutung festgehalten war. Ein Bruchstück der historischen Aufnahme war noch vorhanden gewesen, und jetzt, in dieser Nacht, spielt mir der junge Mann vor, was der Apparat gesprochen hatte. Eine äußerst laute, scheppernde Stimme ist zu vernehmen: Zuerst wollte er mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett hinauskommen, aber dieser untere Teil, den er übrigens noch nicht gesehen hatte und von dem er sich keine rechte Vorstellung machen konnte, erwies sich als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als er schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich vorwärts stieß, hatte er die Richtung falsch gewählt, schlug an dem unteren Bettpfosten heftig an, und der brennende Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass gerade der untere Teil augenblicklich vielleicht der empfindlichste war. — Hier endet die Spule, ums sofort wieder von vorn zu beginnen. — stop
schildkröte
nordpol : 6.55 — Ich hörte eine Geschichte, die von einer Frau und einem Haus erzählt, das sich in einer alten nordgriechischen Stadt befindet. Es ist ein stattliches, steinernes Haus, die Böden des Hauses sind von Holz wie die Treppen und Türen. Ein hochbetagter Olivenbaum steht unweit des Hauses. Manchmal sitzen dort Sperlinge und pfeifen. Im Winter kann man Wölfe hören, wenn man die Fenster des Hauses öffnet. Gelegentlich kommen Schlangen zu Besuch und Eidechsen und Ameisen und Schildkröten, ja, es gibt sehr viele Schildkröten im Garten des Hauses, aber nicht im Winter, in keinem Winter, soweit Menschen zurückdenken können, hat irgendjemand Schildkröten in der Nähe des Hauses, im Garten oder in der Stadt gesehen. In dem steinernen Haus also wohnt eine Frau. Sie wohnt seit wenigen Wochen allein, weil ihre Mutter gestorben ist. Über zehn Jahre lag die uralte Mutter in ihrem Bett und wurde von ihrer Tochter, die gleichwohl eine ältere Frau ist, gepflegt. Das ist so üblich in Griechenland, dass sich die jüngeren um die älteren Menschen kümmern, auch wenn sie selbst schon alte Menschen geworden sind. Als nun die Mutter der alten Frau starb, war es plötzlich sehr still im Haus. Es war so still, dass die Frau glaubte, ihre Mutter noch zu hören. Nachts vernahm sie den Wind, aber der Wind war draußen gewesen hinter den Fenstern, und sie hörte das Dach, wie es flüsterte. Manchmal schloss die alte Frau ihre Augen in der Dunkelheit und schlief ein. Es war immer dasselbe, sie hörte im Schlaf die Stimme ihrer Mutter, wie sie nach ihr rief, und ihr Atmen und wie ein Glas zu Boden stürzte und wie die Bettdecke gewendet wurde. Davon wurde sie immerzu wach, und sie hörte scharrende Geräusche von der Treppe her, und wieder den Wind. Das ging Wochen so, kaum eine Nacht konnte die alte Frau schlafen, weil sie meinte, ihre Mutter zu hören. Einmal vor wenigen Tagen, nachdem sie wieder einmal wach geworden war, verließ die alte Frau nachts ihr Bett. Sie stieg die Treppe hinab in die Küche. Wie sie das Licht anschaltete, sah sie inmitten der Küche eine kleine, junge Schildkröte sitzen. Gestern erst soll Schnee gefallen sein. — stop
advent
delta : 20.08 – Sonntag. stop. 1. Advent. stop. Ich könnte das Wort Schnee schreiben. stop. Wie viel Zeit vergeht, ehe ich das Wort Schnee zu Ende geschrieben haben werde? stop. Einhundert Schneezeiten. stop. Wie viele Schneezeiten machen einen Tag? — stop
georges perec
tango : 22.01 — Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehen ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er-Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, bis es Abend oder noch später geworden ist. So kann man gut sitzen, zufrieden, durchgeschüttelt, Seite an Seite für viele Stunden, und Menschen betrachten, wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, machen wir das so: in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Café, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, – „Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentinisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, – dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzten Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, sodass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren Hin und Her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüber kommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell, weil wir in einer anderen Zeit sind. — stop / koffertext
depesche aus neuseeland
ulysses: 6.58 — Vielleicht liegt die Fotografie, die Rahel vor zwei Tagen im Zug kurz vor dem Flughafen mit ihrem Handy von mir machte, soeben in Neuseeland auf einem Holztisch in der Küche ihres Hauses, dunkelgrüne Weiden, Schafe vor den Fenstern. Ja, vielleicht, das ist denkbar. Sicher ist, dass diese Aufnahme tatsächlich gemacht wurde, und dass ich auf ihr vermutlich etwas unruhig wirken könnte, weil ich Rahel so viele Jahre nicht gesehen hatte, wie sie plötzlich vor mir sitzt, ein Geist sozusagen, ich glaubte, sie sei längst gestorben. Man hatte mir erzählt, ein Freund, sie sei tot, das war plausibel, so wie Rahel lebte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde war sie in dem Moment der Nachricht ihres Ablebens nach Jahren vollkommener Abwesenheit, wieder zu einer Anwesenden geworden, eine Tote nun mit einem Status. Jahre war sie ein Nichts gewesen, weder da noch dort, eine Leere. Und plötzlich saß sie in meiner Gegenwart im Zug und nannte mich beim Namen. Sie wunderte sich, sie fragte: Warum siehst Du mich so seltsam an? Ich antwortete, dass ich überrascht sei. Liebe Rahel, sagte ich, ich kann noch nicht glauben, Dich hier zu sehen. Ja, so sprach ich zu ihr hin, ohne mich eigentlich hören zu können. Leider war kaum Zeit für ein Gespräch gewesen, ehe Rahel aus dem Zug stürmen würde, um das Nachtflugzeug nach Singapur noch zu erreichen. In dieser Zeit, die nur Minuten dauerte, erzählte sie, dass sie damals, vor vielen Jahren, nach Neuseeland gereist und dort geblieben sei. Sie habe Europa beinahe vergessen, sie sei nur deshalb zurückgekommen, weil ihre Mutter gestorben war. Stolz erwähnte sie, dass sie zwei Töchter habe, und ich stelle mir nun vor, wie sie vielleicht in diesem Moment, da ich meinen Text notiere, jene Fotografie gemeinsam betrachten, die auf dem hölzernen Tisch der Küche in Neuseeland liegt, ausgedruckt in schwarzer und weißer Farbe, das Gesicht eines Mannes, der staunt, der im Grunde glaubt, zu träumen. Gestern war dieses Bild zu mir gekommen, durch Luft, sagen wir, Signale. Ich hörte, wie mein Telefon ein Geräusch machte, als die Fotografie vollständig eingetroffen war. Unter dem Bild war eine kleine Notiz zu finden. Rahel schrieb: Lieber Louis, ich freu mich sehr, Dich gesehen zu haben. Ich glaubte, Du wärest nicht mehr unter uns. Melde mich wieder. r. – stop
im reservat der trinkerlemure
himalaya : 6.46 — Ich hörte, irgendwo auf dieser Welt soll eine Stadt existieren, die über einen besonderen Park verfügt, eine Naturlandschaft, in welcher Trinkerlemure existieren, Abertausende beinahe unsichtbare Personen. Man kann sich das vielleicht nicht vorstellen, ohne längere Zeit darüber nachgedacht zu haben. Wälder und Wiesen, ein Fluss, da und dort ein Berg, nicht sehr hoch, Höhlen, Hütten, Schlafsacktrauben, die von mächtigen Bäumen baumeln. Man könnte sagen, dass es sich bei diesem Park vermutlich um ein Hotel oder ein Reservat handeln wird von enormen Ausmaßen, 15 Kilometer in der Breite, 20 Kilometer in der Länge. Das Areal ist umzäunt. Tore bieten Zugang im Westen, im Norden, im Osten, im Süden. Dort fahren Ambulanzen vor oder Krankenwagenbusse, um schreckliche Gestalten auszuladen, die in den großen Städten der Welt aufgesammelt wurden, zerlumpte, eitrige, zitternde Wesen, sie sprechen oder fluchen in Sprachen, die wir nur ahnen, wenn wir uns Mühe geben, ihnen zuzuhören, Englisch ist darunter, Russisch, Chinesisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und viele weitere Sprachen mehr. Sie haben meist eine weite Reise hinter sich, aber jetzt sind sie angekommen, Endstation Sehnsucht, Krankenschwestern helfen, den letzten Weg zurückzulegen durch eines der Tore. Dann sind sie frei. Wir erkennen am Horizont eine Straßenbahnhaltestelle. Sie liegt am Rande eines Waldes. Tatsächlich fahren dort ausrangierte Züge der Stadt Lissabon im Kreis herum, es geht um nichts anderes, als dass man in diesen Zügen sitzen und trinken darf so viel man will. Aus polierten Hähnen strömt Whiskey. An jedem zweiten Baum ist ein Fässchen mit Likören oder Gin oder Wodka zu entdecken. Es riecht sehr fest in dieser Landschaft, gerade dann, wenn es warm ist, Bienen und Fliegen und Libellen torkeln über wundervoll blühende Wiesen. Da und dort sitzen heitere Gruppen volltrunkener Männer und Frauen in der Idylle, sie erzählen von der Heimat oder von den Delirien, die man bereits überlebt haben will. Manch einer weiß nicht mehr genau, wie sein Name gewesen sein könnte. Andere lehnen an Bäumen, klapperige Tote, die ungut riechen, arme Hunde. Aber wer noch lebt, ist rasend vor Angst oder zufrieden, man kann sich überallhin zur Ruhe legen. In dem Flüsschen, das ich bereits erwähnte, lagert flaschenweise kühles Bier, es scheint sogar der Himmel nicht Wasser, sondern Wodka zu regnen, auch die Vögel alle sind betrunken. Aus einem Waldgebiet tritt eine zierliche Frau, sie taumelt. Die Frau trägt einen Hut und ein langes weißes Kleid, so schreitet sie durch das hohe Gras, bückt sich nach den Blüten, es ist in der Zeit der Kornblumen, dieses zauberhafte Blau. Manchmal fällt die Frau um, sie ist dann eine Weile nicht zu sehen, aber dann erscheint ihr Hut zunächst und kurz darauf sie selbst. Jetzt steht sie ganz still, schaukelt ein wenig hin und her, seit Stunden frage ich mich, um wen genau es sich handeln könnte. — stop