sierra : 5.28 — Eine Ameise hatte trotz der großen Höhe, in der sich meine Wohnung befindet, zu mir gefunden. Sie kletterte vorsichtig gegen den Boden zu, tastete sich über warmes Holz, erreichte ein Tischbein, um kurz darauf direkt vor meinen Augen zu erscheinen. Vielleicht wird sie meinen Atem wahrgenommen haben, einen Wind, denn sie duckte sich kurz, ich hatte den Eindruck, dass sie mich betrachtete. Aber dann lief sie weiter, umrundete meine Schreibmaschine, kreuzte über den Tisch, um auf der anderen Seite wieder abzusteigen und in der Dunkelheit des Fensters zu verschwinden. Nur wenige Minuten später, ich hatte das Zimmer kurz verlassen, bewegte sich eine dunkel schimmernde Ameisenherde exakt auf dem Pfad, den zuvor das einsame Tier genommen hatte, durch den Raum. Ein doch äußerst bemerkenswerter Vorgang. Möglicherweise hatte es sich zunächst um eine Kundschafterameise gehandelt, die mich besuchte. Ihre Brüder, ihre Schwestern waren nun sehr zielstrebig in meinem Zimmer unterwegs. Ich meinte, das Geräusch hunderter Beine vernehmen zu können. Sie trugen Papiere in ihren Zangen wie Fahnen. Tatsächlich waren Zeichen oder Teile von Zeichen auf der Ameisenbeute zu erkennen, die sie gleich hinter meiner Schreibmaschine zu einem Berg schichteten, um sofort wieder zum Boden hin abzusteigen. Nach einer halben Stunde, alle Ameisen waren verschwunden, schloss ich das Fenster. Ich hätte schwören können, mir den Besuch der Ameisen nur eingebildet zu haben, wenn nicht auf dem Tisch das Papierwerk der Wanderer als Beweis zurückgeblieben wäre. Natürlich machte ich mich sofort an die Arbeit. Eine Stunde verging, dann war ich mir sicher gewesen, dass es sich bei dem Artefakt auf meinem Tisch um eine einzelne, zerteilte Buchseite handeln musste. Vier weitere Stunden später hatte ich die Seite und ihre Zeichen rekonstruiert. Folgender Text wurde sichergestellt: ZUVIEL / Die Welt ist „unzählbar“, gefüllt mit Dingen, Büchern, Büchern, die über Dinge sprechen, / die Welt trägt zusammen und die Bücher tragen zusammen, was die Welt zusammenträgt, / und auf seinem Tisch Bücher und nochmals Bücher zu sehen / und Fotobücher, Kunstbücher und Bücher, die von anderen Büchern reden, und sich nun selbst ebenfalls anschicken, die Welt auf einem Blatt Papier zu erfassen, diese verfluchte Summe von Auslassungen zu erfassen, um dem Stapel noch ein eigenes Echo hinzuzufügen … Es ist fünf Uhr geworden. Ich bin zufrieden. Ich habe den Ursprung des Textes erinnert. Er wurde von Yasmina Reza in ihrer Sonate Hammerklavier veröffentlicht und von Eugen Helmlé aus der französischen in die deutsche Sprache übertragen. Draußen wird es langsam hell, Regen fällt. — stop
Aus der Wörtersammlung: arbeit
ein gewehr für kinder
delta : 6.16 — Irgendwann einmal muss ich davon gehört haben, dass es in Amerika möglich ist, Gewehre für Kinder zu kaufen. Diese Gewehre sind ihrer Gestalt nach den Gewehren der Erwachsenen äußerst ähnlich, aber sie sind kleiner und bonbonfarben und vermutlich auch leichter. Das Seltsame ist, dass diese Kindergewehre ebenso wirkungsvoll sind, wie die Gewehre der Erwachsenen. Wenn ein Kind mit einem Kindergewehr einen Schuss auf ein anderes Kind abfeuern will, zum Beispiel auf dessen Kopf, oder versehentlich ein Schuss sich lösen sollte, wird das schießende Kind bemerken, dass das beschossene Kind zu Boden fällt und heftig blutet, vermutlich aus einem Loch, das sehr plötzlich in seiner Schädeldecke entstanden ist. Es liegt dann bebend einfach so da auf dem Teppich eines Zimmers oder im Garten unter einer blühenden Magnolie oder auf einer Straße, die von weinroten Blättern bedeckt ist, weil der tödliche Schuss zur Herbstzeit abgefeuert wurde. Verwundert, vielleicht schon weinend, wird das Kind, das die Folgen des Schusses betrachtete, in die Küche oder ins Schlafzimmer stürmen, wo die Mutter einerseits schläft oder andererseits gerade das Mittagessen zubereitet. Vielleicht hat die Mutter den Schuss selbst gehört und kommt ihrem bitteren Kind entgegen, beide haben ihre Augen weit geöffnet. Das Kind, das an den Bauch der Mutter stürmt, will vermutlich getröstet werden, es ist ja noch nicht einmal zehn Jahre alt, es braucht diesen Trost sehr sicher, weil das andere Kind nicht wieder aufstehen will, weil das gefallene Kind in einer Weise blutet, die nicht üblich ist. Wie dann die Mutter ihrem weinenden Kind folgen wird, wie beide den Ort des Geschehens erreichen, wie die Mutter zu Boden sinkt, wie sie weint und klagt, wie sie mit zitternden Händen den schwer versehrten Leichenkörper betastet, wie sie den Himmel anruft, wie sie selbst kaum noch atmet, hinter ihr stehend das überlebende Kind, das die geliebte Mutter beobachtet. Wie es jetzt zögernd näher kommt, ganz leise, weil es um Himmelswillen die Reparaturarbeiten der Mutter nicht stören will. – stop
ai : MEXIKO
MENSCHEN IN GEFAHR : “Die Menschenrechtsorganisation Artículo 19 hat einen anonymen Drohbrief erhalten. Die Organisation setzt sich für das Recht der freien Meinungsäußerung ein und hat ihr Büro in der Hauptstadt Mexiko-Stadt. / Am 19. April war ein Brief an der Haustür des Büros von Artículo 19 gefunden worden. Der Brief war an den Leiter der Organisation, Darío Ramírez, sowie die restlichen Mitarbeiter von Artículo 19 gerichtet: “Kleiner verdammter Chef… Du Stricher hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast… Wollen wir mal sehen, ob dein Herz nicht auf einmal aufhört zu schlagen. Zu viel beschissene Freiheit. Mal sehen, wie Macho du bist, wenn wir dich und deine kleinen Scheißer wirklich kaltgemacht haben… Wir beobachten euch ganz genau… Ihr wisst, wer wir sind und dass wir das durchzuziehen können” (Pinche jefesito pendejo…eres un puto que no sabes con quien te estas metiendo…A ver si con una madrisa no se te para el corazon. Mucha puta libertad verdad. A ver que ten verga eres cuando termines tu y tus putitos bien puteados…Estamos viendote y bien cerca…Sabes quienes somos y que si lo podemos ahcer [sic]). / Artículo 19 hat wegen der Drohung Anzeige bei den städtischen Behörden erstattet. Die Organisation fordert, dass die Schutzmaßnahmen, die für Journalisten und Menschenrechtsverteidiger eingerichtet wurden, auch für Darío Ramírez und die Mitglieder von Artículo 19 Anwendung finden. Die städtischen Behörden haben auf der Grundlage einer Schutzanordnung der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt (Comisión de Derechos Humanos del Distrito Federal) Polizeistreifen eingesetzt. / Artículo 19, der Leiter und die Mitglieder der Organisation haben entschieden, ihre Arbeit, die Freiheit der Meinungsäußerung in Mexiko zu dokumentieren, zu verteidigen und zu fördern, fortzusetzen. Artículo 19 hat viele Fälle dokumentiert, in denen JournalistInnen im ganzen Land angegriffen und/oder bedroht werden und in denen die Behörden keine effektiven Untersuchungen durchgeführt und somit die Sicherheit von JournalistInnen nicht sichergestellt haben.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 5. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
miranda
india : 5.45 — Bei leichtem Regen gestern im Park einen älteren Herrn beobachtet. Er arbeitete an einem Buch, das ich zunächst nicht bemerkte, weil der Herr auf einer Bank saß im Schatten eines Regenschirmes. Als ich neben ihm Platz genommen hatte, konnte ich erkennen, wie der Mann tatsächlich Zeichen in einem Buch notierte, das nicht größer gewesen war als eine Streichholzschachtel. Neben ihm lag ein weiteres Buch, Philip Roths Roman Everyman. Der Mann schien das eine Buch handschriftlich in das andere Buch zu übertragen. Er notierte mit einem Bleistift, den er nach jedem geschriebenen Zeichen spitzte. Rotkehlchen hüpften zu seinen Füßen herum, pickten das leichte, hauchdünne Holz, das aus der Spitzmaschine fiel, vom Boden und trugen es fort ins nahe Unterholz. Ein Vergrößerungsglas, eine Lupe, klemmte im linken Auge des Herrn, deshalb vermutlich machte er den Eindruck, Schmerzen zu haben. Manchmal biss er sich auf die Zunge. Wenn ich mich nicht irre, dann hatte der Mann bereits etwa 100 Seiten des Romanes transferiert. Ich sah ihm bald eine Stunde zu, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln. Friedlichste Stimmung. Auf dem See draußen hüpften Karpfen aus dem Wasser, schwere Körper. Ein paar Ameisen trieben auf einem Blatt an uns vorbei. Ich hätte mich gerne unterhalten, weil mir in den vergangenen Tagen unheimlich zumute gewesen ist, während ich Fernsehbilder aus der Stadt Boston beobachtete. Der alte, schreibende Mann aber war so vertieft in seine Arbeit, dass er meine Gegenwart schnell vergessen zu haben schien. Ich stellte mir vor, dass er in dieser Arbeit gefangen oder geborgen, vielleicht überhaupt nicht wahrgenommen hatte, was in Boston geschehen war. Vielleicht wusste er nicht einmal vom Krieg in Syrien oder von der Entdeckung des Higgs-Teilchens. Als es dunkel wurde, setzte sich der alte Mann eine Stirnlampe auf den Kopf. Für einen Moment leuchtete er mir ins Gesicht, um sofort in seiner Arbeit fortzufahren. — stop
von der freiheit der maria
victor : 6.28 — Jeden Samstag kam Maria ins Café Gazette. Wenn Mittwoch war, konnte man sie im Hemingways besuchen, einem heruntergekommenen Laden in der Nähe des Hauptbahnhofes. Montags saß sie in der Bar-Celona. An Dienstagen und Freitagen war sie mal da und mal dort, und am Donnerstag ging sie ins Kino. Es war immer dasselbe, die kleine Frau, deren Alter niemand zu bestimmen wusste, kam herein, setzte sich an einen freien Tisch, oder wartete so lange im Stehen, bis ein Tisch freigeworden war, um sofort mit ihrer Arbeit zu beginnen. Sie bedeckte den Tisch, an dem sie Platz genommen hatte, mit weißen Papieren in unterschiedlichen Größen, holte aus einem Kofferwagen, der ihr ständiger Begleiter war, kräftige Filzstifte und begann zu malen. Wer sie einmal genau beobachtet hatte, wird vielleicht bemerkt haben, dass sie bei Eintritt in das Café oder die Bar, mit einem scheuen Blick alle anwesenden Menschen wahrgenommen oder in sich aufgenommen hatte, um sie nun zu porträtieren, einen Menschen nach dem anderen Menschen, auch dann, wenn sie den Ort längst verlassen hatten. Maria malte langsam, sie malte wie ein Kind, manchmal biss sie sich auf die Zunge. Sie war eine sehr stille, eine stumme Frau, und ihr Gesicht vom Leben ohne Obdach gezeichnet. Sie hatte einen Buckel, der mit den Jahren zu wachsen schien und sie immer weiter gegen den Boden drängte. Viele Menschen kannten sie. Vielleicht kann man sagen, dass es sich bei Maria um eine Ikone der Stadt handelte, sie lachte niemals, aber alle Menschen auf ihren Bildern lachten. Alle sahen sie aus wie Maria, ihre Gesichter genau genommen, Augen, Nase, Mund, aber die Haare waren andere Haare, auch die Farben der Hemden, Pullover, Krawatten, Blusen, waren genau jener Sekundenwirklichkeit entnommen, da Maria von der Straße hereingekommen war. Ja, sie malte langsam, und wenn es einmal sehr still war, konnte man die Geräusche ihrer Werkzeuge deutlich hören. Sobald Maria alle Menschen porträtiert hatte, erhob sie sich und ging von Tisch zu Tisch, um ihre kleinen, wertvollen Malereien zu verkaufen. Sie verlangte nie mehr als 1 Deutsche Mark. Im Laufe der Jahre kaufte ich immer wieder einmal eines ihrer Bilder, also Maria und mich, mal mit kurzen, mal mit längeren Haaren. Da war der Sommer der weißen Hemden und dort der Sommer der blauen Hemden. Einmal, es war Winter gewesen, trugen wir einen Hut. – stop
amsterdam
sierra : 7.05 — Immer wieder wundere ich mich darüber, wie ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Eindruck haben würde, Arbeit verrichtet zu haben, weitere Bilder erzeugt, Geschichten, Filme, Zeiträume von Abwesenheit. Ich erinnere mich, in einem dieser Räume kürzlich in Amsterdam gewesen zu sein, während ich zur selben Zeit im Zug durch südliche Landschaft reiste. Ich hatte das Bild eines Lädchens vor Augen, in welchem in einer Pfanne menschliche Ohren geröstet wurden. Es roch gut nach gebratenem Fleisch und natürlich frage ich mich, woher ich diese Vorstellung genommen habe. Menschen standen bis auf die Straße hinaus, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, eine Portion der gerösteten Ohren in einer Papiertüte entgegenzunehmen. 100 Gramm kosteten 72 englische Pfund, vielleicht war es deshalb, in Anbetracht des Preises, so still im Laden, man hörte nur ein Zischen, sobald aus einem Schäufelchen eine weitere Portion Ohren in die Pfanne fiel. Aber draußen auf der Straße war Tumult entstanden. Während die einen sich über den enormen Preis der Ohren beschwerten, waren andere sehr deutlich gegen den Verkauf menschlicher Ohren überhaupt eingestellt. Das sind gezüchtete Organe, sagten sie, sie waren nie an einem menschlichen Kopf befestigt. Andere hingegen empörten sich darüber, dass es doch verrückt sei, für etwas, das niemals echt gewesen war, eine derart exzellente Summe Geldes pro Gramm bezahlen zu müssen. Die einen wie die anderen schienen mir recht zu haben. Fenster gingen zu Bruch, berittene Polizei fegte über eine Brücke. Und wie ich in dieser Weise in einem Zug sitzend einen Film erlebte aus dem Nichts, beobachtete mich ein Freund. Ich bemerkte ihn nicht. Als ich ihm später erzählte, was ich erlebt hatte, sagte er, er habe indessen, in der Beobachtung meiner Person, nicht den geringsten Laut gehört. — stop
kairo
india : 7.00 — Weder darf ich ihren Namen verraten, noch in welcher Stadt sie wohnt oder für wen sie arbeitet. Alles andere darf ich erwähnen, dass sie wirkt, als sei sie einem Fellini-Film entkommen, zum Beispiel. Sie trägt blaue Turnschuhe, helle Seidenstrümpfe und einen grauen, kurzen Mantel mit einem Pelzkragen, der nicht echt ist oder doch, ich kann es nicht sagen. Wenn sie auf ihren langen, äußerst dünnen Beinen vor mir steht, überragt sie mich um einen halben Kopf, kann somit meinen Scheitel betrachten, was nie geschieht, weil sie mir stets auf oder in die Augen schaut, wenn wir miteinander sprechen. Auch dann nämlich schaut sie mir in die Augen, wenn ich ihren Blick nicht erwidere, weil ich gerade irgendeinen anderen Ort ihrer Erscheinung besichtige. An ihrem Hals sitzt ein grüngelber Schmetterling, der zu einem Tattoo gehört, das längst ihren halben Körper bedecken soll. Ich habe einmal einen flüchtigen Eindruck des Hautgemäldes erhalten, als sie mir ihren Bauch zeigte. Ich war begeistert, aber auch ein wenig erschrocken gewesen, ich konnte ihre Rippen sehen, so dünn ist sie, so zerbrechlich, dass man sie als eine Hungerkünstlerin bezeichnen könnte, eine, die gerade so wenig isst, dass sie daran nicht stirbt. Überhaupt, ja, überhaupt das Leben, es ist nicht leicht, das sagt sie mit einer tiefen Stimme. Ihr Mund ist ein kleiner Mund, ihre Augen sind grau, ihr Haar reicht bis fast zu den Kniekehlen herab. Jeder Mann, aber auch alle Frauen drehen sich nach ihr um, wenn sie erscheint und wieder verschwindet. Unlängst hatte sie einen kleinen Koffer gepackt und war mit ihm nach Kairo geflogen. Ich fragte, ob sie sich nicht gefürchtet habe. Nein, antwortete sie, es sei ihr nicht so wichtig am Leben zu bleiben, weil sie eigentlich nicht sehr gerne lebe, das sei schon immer so gewesen, weswegen sie nur ungern trinken und essen würde. Um ein Schälchen Haferflocken zu sich nehmen zu können, muss ein halber Tag vergehen. Das ist für ein Schälchen Haferflocken eine lange Zeit. Sie lacht jetzt. Wenn doch die Männer nicht immer dasselbe wollten, na, Du weißt! Der Künstler, der ihr das Hautgemälde fertigte, habe ihr gesagt, dass er sich fürchtet über ihren blanken Rippen mit der Nadel zu arbeiten. Wieder lacht sie, ein wärmendes Geräusch. — stop
lissabon
sierra : 6.52 — Eines der letzten bewegten Bilder, die ich von meinem Vater in Erinnerung habe, zeigt ihn, wie er in seinem Arbeitszimmer am Computer arbeitet. Auf dem Bildschirm sind dutzende Programmfenster geöffnet. Der alte Mann sitzt fast bewegungslos in seinem Sessel. Manchmal tastet eine Hand durch die Luft, greift unsicher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wieder auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zeiger über den Bildschirm fahren. Ein weiteres Programmfenster öffnet sich. Ein kleines Mädchen fährt in diesem Fenster auf einem Fahrrad über einen sandigen Weg. Sie bewegt sich in Schlangenlinien dahin, lacht hoch zur Kamera, die rückwärts durch die Luft zu fliegen scheint. Es ist ein heiterer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öffnet sich wie von Geisterhand noch ein Fenster, das den heiteren Film verdeckt. Eine Fotografie, Mutter nahe Lissabon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Computer sitzt, im Sand. Er trägt Turnschuhe. Auch meine Mutter trägt Turnschuhe. Ich fragte mich, wer diese Aufnahme machte, und komme nicht darauf. Ein Schatten ist zu erkennen, der Schatten eines Fotografen vielleicht. In diesem Moment ruft die Frau, die auf der Fotografie zu sehen ist, von unten, vom Wohnzimmer her, dass das Mittagessen bald fertig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fenster, die er im Laufe des Vormittages geöffnet hatte, wieder zu schließen. Nein, alles muss aufgeräumt werden. Mein Vater steht nicht einfach auf, um sich sofort unsicheren Schrittes auf die Treppe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zeiger auf dem Bildschirm den Rahmen der Programmfenster nähert. Er scheint das Symbol für das Schließen der Fenster zu suchen, aber das Symbol ist nicht zu entdecken, nicht zu erkennen. Der Zeiger irrt auf dem Bildschirm herum, Fenster drängen sich in den Vordergrund und verschwinden wieder. Dann kommt Mutter herbei, sie ruft zärtlich: Komm, komm, das Essen ist fertig. Schritte auf der Treppe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwitschern der Vögel vom Garten her. Im Zimmer auf dem Schreibtisch ist der Computer längst eingeschlafen. — stop
flamingo
alpha : 2.25 — Seit einigen Wochen der Verdacht, dass sich Wörter meiner Particles-Sphäre genau so verhalten, als wären sie ungebändigte Lebewesen, sie tun nämlich in heimlicher Weise was sie wollen, fügen sich zum Beispiel selbst Buchstaben hinzu oder lassen Buchstaben, die für ihre spezielle Existenz unverzichtbar sind, verschwinden. Andere Wörter lassen Buchstaben kreisen, einen Buchstaben um einen anderen Buchstaben. Kaum habe ich nach langer Arbeit in der Nacht die Augen zugemacht, geht das alles los. Und wenn ich dann wach geworden bin und betrachte, was ich nachts notierte, mein Gott, denke ich, aus Wetter ist Watte geworden, aus Miete Mut, aus Regenschirmen Schirme von Schnee. Gerade eben habe ich das Wort Möwe in einem Text beobachtet, den ich vor Monaten notierte. Ich hatte dieses Wort schon lange im Auge. Eine Stunde betrachtete ich das Wort, ohne dass es sich veränderte. Kaum aber war ich für eine Minute aus dem Raum getreten, um in die Küche zu gehen, wurde aus der Möwe eine Mive, das kann ich so genau sagen, weil ich, als ich an den Schreibtisch zurückkehrte, gerade noch sehen konnte, wie aus dem Wort Mive wieder das Wort Möwe wurde. Eine seltsame Sache. Auch ganze Wörter scheinen durch den Textraum wie durch Zeit zu reisen. Im Juli 2008 fabrizierte ich eine kleine Geschichte, die davon erzählt, warum ich nachts manchmal im Dunklen sitze. Genau diesen Text scheint das Wort Flamingo besonders angenehm zu finden, weswegen es immer wieder erscheinen will im Text anstelle der Fliegen, die Teefliegen sind. Schauen Sie selbst, Sie müssen nur lange genug Beobachter oder Beobachterin sein, dann werden Sie schon sehen: Heut Nacht sitze ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop – Zwei Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wahrscheinlich ist auch heute, während ich schlief, wieder alles in Bewegung gewesen. — stop
daniel pearl
nordpol : 6.22 — In wenigen Tagen werde ich die Wohnung, in der ich lange Zeit lebte, verlassen, um in eine andere, größere Wohnung zu ziehen. Es wird eine Wohnung unter dem Dach sein, vermutlich werde ich Tauben hören, wie sie über mir plaudernd spazieren. Ich habe erfahren, dass Taubenpaare auch nachts miteinander sprechen, während andere Vögel still oder stumm zu sein scheinen. Aber vielleicht zwitschern diese Vögel, die nicht Tauben sind, doch, wenn sie träumen. Es ist seltsam, wie ein Fremder fühle ich mich nach und nach, wenn ich mich in meiner eigenen Wohnung bewege. Ich überlegte, wer in wenigen Wochen hier von einem Zimmer in ein anderes Zimmer laufen wird. Dieser Mensch oder diese Menschen werden zunächst keine Ahnung haben, keine Vorstellung, sagen wir, wer vor ihnen in diesen Räumen wohnte. Es ist denkbar, dass sie vielleicht meine Nachbarn fragen werden. Ich könnte eine Fotografie mit meinem Namen und einer Botschaft hinterlassen: Hallo, hier wohnte Louis, hier an dieser Stelle stand mein Schreibtisch, hier habe ich Texte notiert. In einem Winter vor langer Zeit, ich ahnte nicht, dass ich diese meine Wohnung einmal aufgeben würde, hatte ich die Zeit vergessen. Ich schrieb Folgendes: Was haben wir heute eigentlich für einen Tag, Sonntag vielleicht, oder Montag? Abend jedenfalls, einen schwierigen Abend. Würde ich aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, während er Tee zubereitet, er sagt: Heute machen wir das, heute ist es richtig. Ein Bündel von Melisse zieht durchs heiße, samtig flimmernde Wasser. Jetzt trägt er seine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer, schaltet den Bildschirm an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor dem Schreibtisch und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe. Dann steht der Mann, er steht zwei Meter vom Bildschirm entfernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Da ist eine Stimme. Eine schrille Stimme spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Töne, sodass der Mann vor dem Schreibtisch einen Schritt zurücktritt. Er scheint sich zur Betrachtung zu zwingen. Zwei Finger der rechten Hand bilden einen Ring. Er hält ihn vor sein linkes Auge, das andere Auge geschlossen, und sieht hindurch. So verharrt er, leicht vorgebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atmen heftig zu hören. Kurz darauf steht er wieder in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. – Was machen wir jetzt? - stop