MENSCH IN GEFAHR : “Der bahrainische Menschenrechtsverteidiger Nabeel Rajab ist am 13. Juni festgenommen worden. Er ist wegen “Verbreitung von falschen Informationen und Gerüchten mit dem Ziel, den Staat in Verruf zu bringen” angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hat eine siebentägige Haftanordnung gegen ihn erlassen. Er ist ein gewaltloser politischer Gefangener. Am 13. Juni gegen 5 Uhr morgens umstellten Bereitschaftspolizist_innen das Viertel des Dorfes Bani Jamra westlich der Hauptstadt Manama, in dem Nabeel Rajab wohnt, und nahmen den Menschenrechtsverteidiger fest. Sie legten einen Durchsuchungsbeschluss für sein Haus sowie einen Haftbefehl gegen ihn und einen Beschluss für seine Übergabe an die Kriminalpolizei vor. Eine Begründung für diese Maßnahmen war daraus jedoch nicht ersichtlich. Sein Handy und sein Computer wurden beschlagnahmt und er ist auf die Polizeistation in Ost-Riffa südlich von Manama gebracht worden, wo er sich noch immer befindet. Man hat ihm erlaubt, seine Familie anzurufen. Am 14. Juni hat man Nabeel Rajab zur Staatsanwaltschaft gebracht, wo er wegen “Verbreitung von falschen Informationen und Gerüchten mit dem Ziel, den Staat in Verruf zu bringen” angeklagt wurde. Die Staatsanwaltschaft erließ zudem wegen der laufenden Ermittlungen eine siebentägige Haftanordnung gegen ihn. Die Rechtsbeistände von Nabeel Rajab waren bei dem Termin am 14. Juni anwesend. Als seine Angehörigen ihn gegen 21 Uhr desselben Tages besuchten, sagte er ihnen, dass man ihn anders als andere Gefangene in Einzelhaft festhalte. Gegen Nabeel Rajab wird zusätzlich wegen separater Vorwürfe bezüglich einiger Twitter-Kommentare und geteilter Twitter-Nachrichten ermittelt. Themen der Kommentare sollen der Krieg im Jemen und Foltervorwürfe im Zusammengang mit einem Häftlingsstreik am 10. März 2015 im Jaw-Gefängnis gewesen sein. Sollte auch dieser Fall vor Gericht gebracht und Nabeel Rajab verurteilt werden, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Im November 2014 wurde ein Reiseverbot gegen ihn verhängt.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 28. Juli 2016 hinaus, unter > ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: genom
von marienkäfern und wodka
tango : 2.00 — Vor drei Wochen entdeckte ich in einem Münchener Antiquariat ein schweres Notizbuch DIN A3, in welches ein Mann, der für einige Monate in einem Bergwald lebte, mit winzigen Schriftzeichen Beobachtungen, Erlebnisse, Gedanken verzeichnete. Es muss zur Sommerzeit gewesen sein, das Jahr der Aufzeichnungen wurde nicht vermerkt, auch nicht der volle Name des Mannes, nur sein Vorname, der war Ludwig. Das Dokument umfasst beinahe siebenhundert Seiten, es scheint mehrfach feucht geworden zu sein, da und dort sind zwischen den Blättern getrocknete Wiesenblumen zu finden, die mittels des Buchgewichtes präpariert worden waren, auch habe ich mehrere Ameisen vollkommen leblos aufgefunden, sowie Marienkäfer, die den Anschein erweckten, als würden sie gerade noch versucht haben, auf und davonzufliegen, als sie von einer Buchseite, die umgeblättert wurde, gefangen genommen wurden. Was war es gewesen, das den Mann in den Wald lockte? Vielleicht die Stille und das wunderbare Licht der Höhe? An einem Julitag, es war der 5., folgender Eintrag: Höhe 1258 m. Kein Wind, keine Wolke am Himmel. Ich sitze und beobachte Schafe, wie sie unter mir über eine Wiese spazieren. Wunderbare Geräusche der kleinen Halsglocken. Zum Wodka ist mir heute Morgen eingefallen, dass Menschen existieren, die Wodka bevorzugt in Mineralwasserflaschen füllen. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Verkleidung oder des Verheimlichens. Der Wodka ist versteckt, obwohl er sichtbar ist. Das eigentliche Versteck ist die Methode der Behauptung, etwas anderes zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Mixturen, die üblicherweise an Arbeitsplätzen zur Anwendung kommen. Eine Thermoskanne ist Aufenthaltsort einer guten Begründung, diese Begründung besteht aus der Flüssigkeit des Kaffees. In diese Begründung ist das Eigentliche, der Cognac, eingewickelt. — stop
ai : TSCHAD
MENSCHEN IN GEFAHR: „Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji werden vor Gericht gestellt, weil sie friedliche Demonstrationen gegen eine erneute Kandidatur von Präsident Idriss Déby geplant hatten. Die drei Männer und eine Frau befinden sich gegenwärtig im Amsinene-Gefängnis in N’Djamena. Ihnen drohen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Mahamat Nour Ibedou und Younous Mahadjir, zwei Sprecher von Ça suffit (Es reicht), einer Plattform für zivilgesellschaftliche Organisationen, wurden am 21. bzw. 22. März festgenommen. Nadjo Kaina Palmer, Koordinator der Jugendbewegung Iynia (Wir sind’s leid), ist ebenfalls am 22. März festgenommen worden. Celine Narmadji, die Sprecherin der zivilgesellschaftlichen Organisation Trop c’est trop (Genug ist genug), befindet sich seit dem 23. März in Haft. Alle vier Festnahmen erfolgten, nachdem die Aktivist_innen auf Anordnung des Staatsanwalts Alghassim Khamis zum Verhör in der Zentrale der Polizei erschienen waren. Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji wurden zunächst in der Polizeizentrale von N’Djamena festgehalten und am 24. März gegen 13 Uhr ins Gefängnis Amsinene verlegt. Die vier Aktivist_innen hatten im Rahmen ihrer Tätigkeit für ihre Organisationen friedliche Demonstrationen für den 22. und 29. März geplant. Dabei sollte gegen den Plan des jetzigen Präsidenten Idriss Déby, für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren, protestiert werden. Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji stehen wegen “Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung”, “Störung der öffentlichen Ordnung” und “Missachtung einer gesetzlichen Anordnung” unter Anklage. Das Gerichtsverfahren ist für den 31. März angesetzt. Sollten die Aktivist_innen für schuldig befunden werden, drohen ihnen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 11. Mai 2016 hinaus, unter > ai : urgent action
ein junge und seine lehrerin
sierra : 5.14 — In dem Dokumentarfilm Selbstporträt Syrien von Ossama Mohammed und Wiam Simav Bedirxan spaziert die kurdische Künstlerin Wiam Simav Bedirxan mit einem Jungen, den sie filmt, durch die belagerte Stadt Homs. Der Junge hüpft herum, wie es Kinder tun, entdeckt Blätter, die seine Mutter vielleicht kochen könnte, und vor einer Häuserwand eine rote Blume, die der Junge pflückt. Im Hintergrund sind Detonationen zu hören, auch Vogelstimmen. Als der Junge einen Platz erreicht, an welchen sich eine breitere Straße anschließt, fragt er die Lehrerin, wie sie weitergehen werden. Die Lehrerin sagt: Wie Du willst. Und der Junge hüpft voran, er nimmt eine Treppe, er sagt: Da vorn ist ein Heckenschütze. Also will er dort nicht gehen, weil er weiß, was ein Heckenschütze ist. Wenige Minuten später erreichen die Lehrerin und der Junge eine weitere Straße, die sie überqueren wollen. Es ist vielleicht ein Ort, an dem schon viele Menschen zuvor erschossen wurden. Die Lehrerin ruft: Lauf! Ich sehe, wie der Junge schnell über die Straße springt, bis er den Schutz eines gegenüberliegenden Hauses erreicht, kurz darauf beschleunigt auch die Lehrerin ihre Schritte, das Bild hüpft auf und ab. Ich schloss in diesem Moment die Augen, als ich sie wieder öffnete, war eine Fotografie zweier Mädchen zu sehen, die in einen Fotoapparat lachten, auf einer weiteren Fotografie, die wenige Tage später aufgenommen wurde, liegen sie in smaragdgrünen Kleidchen nebeneinander auf dem Boden und sind tot. Ich bin müde, ich muss bald prüfen, ob ich erinnert habe, wie es war. — stop
yolande
marimba : 5.06 — Schwierig sei, sagte Yolande, dass sie eine Großmutter habe, die in Armenien geboren wurde, und einen Großvater, der in Usbekistan lebte, und dass ihre Mutter ihre Kindheit in der Türkei verbrachte, dass sie ihren Mann in Griechenland kennenlernte, dass sie zwei Töchter gebar in Deutschland im Jahr 1995, dass die Sprache ihrer Mutter nicht Deutsch gewesen sei, dass sie selbst zunächst aber die deutsche Sprache lernte, dass sie in dieser Sprache träume, das sage man doch so, und dass sie über einen deutschen Pass verfüge, dass sie aber zugleich dieses dunkle Haar trage und ihre Augen von der Natur schwarz und mandelförmig gestaltet worden seien, weswegen sie sich stets anhören müsse, wie gut sie integriert sei in Deutschland, und wie gut sie doch die deutsche Sprache sprechen würde, so gut, dass man fast meinen würde, dass sie eine Deutsche sei, wo das aber doch nicht möglich ist, weil sie doch diese ihre Augen trage, und ihre Haut etwas dunkler sei auch im Winter, und dieses Haar, denkt man, sagte Yolande am 16. März des Jahres 2016 um kurz nach zehn Uhr abends, als sie soeben in einem Zug Platz genommen hatte. — stop
vom gecko
marimba : 0.55 — Gestern, während ich noch schlief, hörte ich ein Geräusch, welches die Ankunft einer E‑Mail meldete, die gerade in diesem Augenblick, da ich noch nicht wach geworden war, an meine Schreibmaschine ausgeliefert wurde. Ich hatte vielleicht vergessen, sie auszuschalten, oder aber es existieren E‑Mailvarianten, die in der Lage sind, schlafende Computer zu wecken, sowie Menschen, die in ihrer Nähe schlummern. Javier hatte wichtige Nachrichten für mich. Ich antwortete ihm rasch: Lieber Javier, ich freu mich sehr, dass Sie sich die Mühe machten, mir zu schreiben. Obwohl wir uns nicht persönlich kennen, wollen Sie mich großzügig auf einen Fehler aufmerksam machen, der mir vor wenigen Tagen unterlaufen ist. Ich danke Ihnen herzlich. Sie haben in dem Film eines russischen Kamerateams, von dem ich erzählte, entgegen meiner eigenen Beobachtung doch einige offensichtlich lebende Menschen entdeckt, fürwahr, ich habe sie nun gleichfalls wahrgenommen, fünf Personen, vermutlich Männer, die in der oberen Hälfte des Bildausschnitts von der 18. bis zur 24. Filmsekunde zu erkennen sind. Ich frage mich, wie konnte ich sie übersehen? Und ich frage mich weiterhin, ob jene Männer in dem Moment, da der Drohnenvogel über ihnen flog, zum Himmel schauten, ob sie die fliegende Bildmaschine wahrnehmen konnten, und wenn ja, weshalb sie nicht flüchteten. Mit jedem Tag entstehen weitere Fragen, die ich vielleicht niemals beantworten kann. Gestern hörte ich, dass die Ohren der Geckos mittels eines Tunnels miteinander verbunden sein sollen. Wenn man nun einem Gecko mittels einer Taschenlampe in sein linkes Ohr leuchtete, würde das Taschenlampenlicht aus seinem rechten Ohr wieder herauskommen. Wie ich mich über diese Nachricht freute. Herzliche Grüße sendet Ihnen Ihr Louis — stop
homs
delta : 0.25 — Noch nicht lang her, da entdeckte ich einen Film, der seltsamerweise einige Tage später auf der Position, da ich ihn im Internet bemerkt hatte, nicht mehr anzutreffen war. Der Film, so wird erzählt, war von einer Drohne aus aufgenommen worden, einem künstlichen Vogel, der über und durch die Straßen der Stadt Homs gesteuert worden war. Beinahe hätte ich notiert, die Drohne, sie muss ein recht großes Gerät gewesen sein, sei durch die Straßen der Stadt geirrt, aber für dieses Wort irren flog die Drohne viel zu souverän herum und über Häuser hinweg, sie bewegte sich wie eine professionelle Filmdrohne einer Hollywoodproduktion, oder aber so, als wäre sie an einem gefederten Schwenkkran befestigt, sie bewegte sich erschütterungsfrei durch die Luft, keinerlei Druckwelle, kein Wind weit und breit. Was wir sehen, wenn wir diesen Film betrachten, ist eine fürchterlich zerstörte Stadt. Ich habe diese Art Verwüstung auf Fotografien gesehen, Fotografien der Stadt München oder der Stadt Berlin oder Frankfurts, die im Jahr 1945 aufgenommen worden waren. Ich erinnere mich, man sah dort Menschen, die mit Eimern in langen Reihen hintereinander standen, um Steine in einer Kette zu transportieren, oder Menschen mit Kinderwagen, in welchen Kartoffelsäcke lagen, Menschen mit Rucksäcken und Menschen mit Koffern, die sie über Schuttberge wuchteten. Im mehrere Minuten andauernden Flug über und durch die Stadt Homs war jedoch kein Mensch zu erkennen. Mehrfach habe ich den Film vor und zurückgespielt, nein, kein Mensch war zu sehen, nicht ein einziger Mensch, sosehr ich meine Augen bemühte, nicht einmal Geister. — stop
mexico
nordpol : 1.15 — Gestern Abend ist etwas Lustiges passiert. Schnecke Esmeralda entdeckte eine Möglichkeit, mein Fernsehgerät zu besteigen. Sie saß wohl schon eine Weile dort obenauf, als ich sie, kurz nachdem ich das Fernsehgerät eingeschaltet hatte, bemerkte. Vom aufblendenden Licht unter ihrem Haftfuß überrascht, begann sie, kreuz und quer über den Bildschirm zu flüchten, ihre Augen indessen streckte sie so weit wie möglich von sich, schließlich ließ sie sich einfach fallen, wand sich auf dem Boden als wäre sie verrückt geworden, lag dann eine Weile still, sodass ich mich vorsichtig näherte, weil ich fürchtete, sie könnte ernsthaft Schaden genommen haben. Ich fuhr, um ihre Lebensgeister zu locken, mit einem feinen Pinsel über ihre feuchte, ledrige Haut, und bemerkte bald, wie ein Schimmern über ihren Körper wanderte. Kurz darauf streckte sich ihr Körper unter ihrem schweren Gehäuse in der Art der Schecken, wenn sie sich erheben, und wanderte über den Boden fort in die Diele und von dort aus in die Küche hoch auf den Tisch, wo sie nun seit Stunden auf einer Banane sitzt. Ich glaube, sie schläft, ihre Turmaugen haben sich in den Körper zurückgezogen, aber sie erwacht unverzüglich, wenn ich und solange ich telefoniere, zum Beispiel mit M., die von ihrem Freund erzählt, der bald nach Mexiko reisen wird. Sie wohnt seit Jahren mit ihm in einer Wohnung, ohne ein Wort mit ihm zu sprechen. Sie sagt, jede seiner Reisen seien für sie mit dem Wunsch verbunden, er möge bald zurückkehren, sie sei fröhlich, sobald er wieder in die Wohnung trete, sprechen werde sie jedoch nie wieder mit ihm an diesem Ort, und das sei gut so, weil sie sich in dieser Weise zu Hause nie streiten, sie lebten sehr harmonisch, er mache immer Frühstück für sie, er lege Fotografien, zum Beispiel von Mexiko, auf ihren gemeinsamen Tisch, sie suche dann die Guten heraus, Bilder, die gelungen sind, es gebe nie Diskussionen deswegen, weil sie eben nicht mehr miteinander sprechen, höchstens mit den Augen und mit den Händen oder mittels Gegenständen, die irgendwo liegen oder nicht liegen. — stop
brief an dornier
echo : 2.02 — Sehr geehrte Damen und Herren von der Stiftung Dornier für Luft- und Raumfahrt! Ich wende mich hiermit höflichst mit der Bitte um Unterstützung an Sie, obgleich ich nicht sicher sein kann, mit meinem Anliegen Ihr Gehör finden zu können, da mein Vorhaben weder Aufgaben bemannter Luftfahrt, noch Aufgaben bemannter Raumfahrt berühren wird. Ich hoffe dennoch für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, es geht nämlich darum, einen kugelförmigen Körper zu entwickeln, nicht schwerer als 1,5 Gramm, der in der Art und Weise der Pflanzenflugsamen mit dem Wind durch die Welt reisen könnte. Im Objekt enthalten sein sollten je eine Kamera mit einem 360°-Objektiv, eine höchst leistungsfähige Batterie sowie ein Sender, der in Minutenfrequenz aufgenommene Bilder des Zufalls an einen Empfänger veräußern würde, an eine menschliche Person oder einen Computer, die sich um die Dokumentation der übermittelten Aufnahmen bemühen, sie katalogisieren, bewerten und gegebenenfalls veröffentlichen würde. Eine außergewöhnliche Eigenschaft dieses mikroskopisch kleinen Wesens sollte sein, dass es in seiner Form sehr flexibel sein wird, einer Flüssigkeit ähnlich. In dieser Weise existierend würde es beinahe jedes Hindernis überwinden, sich kaum irgendwo dauerhaft verfangen, deshalb für sehr lange Zeit auf Reisen sein, auch mit Meeresströmungen wandern, mit Dünen der Wüsten, durch Stadtlandschaften vagabundieren, durch Waldgebiete und Steppen, indessen immerzu fotografierend, eine zufällige, von keiner menschlichen Person vorbestimmte Spur gefangenen Lichts verzeichnend. Melden Sie sich bitte, sofern ich Ihnen aus dem Inneren meiner Vorstellung im Detail berichten darf. Ihr Louis – stop
in üsküdar
whiskey : 0.55 — Y. erzählte vor einigen Tagen eine Geschichte, die sie als Mädchen im Alter von sieben oder acht Jahren in Istanbul erlebte, genauer in einem Hinterhof des Stadtteils Üsküdar. Sie sollte damals eine Tüte Pistazien und noch einige andere Dinge von einem Kioskladen holen, es war Sommer, und sie hüpfte raus auf die Straße und um die Ecke und rein in den kleinen Laden, und las einem Mann eine Liste der bestellten Dinge vor. Der Mann sah ihre Liste durch, lächelte ihr zu und stellte ein oder zwei Fragen, so in etwa: Wie viele Pistazien sollen es denn sein? Y. überlegte sorgfältig, aber letztlich konnte sie sich nicht erinnern, wie viele Gramm Pistazien ihr die Mutter zum Kauf aufgetragen hatte. Deshalb hüpfte sie auf die Straße zurück, aber anstatt zur Eingangstür ihres Wohnhauses zurückzukehren, trat sie in einem Hinterhof vor einen Balkon im 2. Stock. Die Tür zum Wohnzimmer der Familie, hinter der sie ihre Mutter wusste, war geöffnet. Sie rief so laut sie konnte: Mama! Dann wartete sie eine kurze Zeit. Als die Mutter nicht auf dem Balkon erschien, rief sie noch einmal: Mama, Mama, ich habe eine Frage, ich bin’s! Wiederum rief sie vergeblich, sie wartete und rief und wartete. Gerade als sie umkehren wollte, um den weiteren Weg, den sie gekommen war, zur Mutter in die Wohnung zurückzunehmen, bemerkte sie ein fremdes Mädchen neben sich, das vielleicht zwei Jahre jünger war als sie selbst. Das Mädchen hatte eine ihrer Hände genommen, sah sie bedeutungsvoll an, hob dann den Kopf zum Balkon empor und rief mit leiser, sanfter Stimme: Mama! Mama! Y. erinnerte sich noch nach vielen Jahren an die feine Stimme des Mädchens, die beinahe nicht zu hören gewesen war. Kaum eine viertel Minute verging, da erschien ihre Mutter auf dem Balkon und schaute zu den beiden Mädchen herab. Das war ein Moment ihres Lebens gewesen, den Y., die inzwischen selbst zwei Söhne gebar, nie vergessen konnte, ein Geheimnis: Warum hatte die Mutter auf die leise Stimme eines fremden Mädchens reagiert, aber die Stimme der eigenen Tochter nicht gehört? — stop