Aus der Wörtersammlung: glück

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aleppo

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hima­la­ya : 0.02 — Viel­leicht darf ich fol­gen­den Bericht in vol­ler Län­ge wie­der­ge­ben. Der jun­ge Jour­na­list Zou­hir al Shim­le berich­tet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Alep­po bela­gert ist, flie­gen Assads Trup­pen und sei­ne Ver­bün­de­ten jeden Tag Luft­schlä­ge auf die Vier­tel der Rebel­len, also auch dort, wo ich lebe. Unun­ter­bro­chen dröh­nen Kampf­jets über uns hin­weg, Heli­ko­pter krei­sen über den Häu­sern. Jeden Tag ster­ben hier fast fünf­zig Zivi­lis­ten. Wir leben in einem nie enden­den Getö­se von Schie­ße­rei­en, Explo­sio­nen, Geschrei. Die meis­ten von uns trau­en sich nicht mehr, nach drau­ßen zu gehen. Manch­mal het­zen ein paar Leu­te die Stra­ßen ent­lang, um Lebens­mit­tel zu besor­gen – und ren­nen sofort nach dem Ein­kauf zurück in ihre Woh­nun­gen. Dabei ist es zu Hau­se nicht siche­rer als auf der Stra­ße. Denn die Bom­ben tref­fen auch unse­re Häu­ser. Wäh­rend ich die­se Zei­len schrei­be, höre ich das Don­nern der Kampf­flug­zeu­ge, von irgend­wo her dringt Gefechts­lärm. Gott sei Dank habe ich bis­her alle Angrif­fe über­lebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Vier­tel Al-Mash­had unter­wegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gera­de im Laden in unse­rer Stra­ße, um mir etwas zu trin­ken zu kau­fen, als die ers­te Fass­bom­be ein­schlug, gera­de mal fünf Häu­ser von uns ent­fernt. Ich duck­te mich für eini­ge Sekun­den vor den umher­flie­gen­den Metall­tei­len. Dann rann­te ich raus auf die Stra­ße. Nur weni­ge Sekun­den spä­ter schlug in der Stra­ße die zwei­te Fass­bom­be ein. Ein Metall­split­ter bohr­te sich in mei­nen Rücken, ein ande­rer in mein Bein. Ich rann­te von der Stra­ße wie­der zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sie­ben Men­schen, die dort Schutz vor der zwei­ten Bom­be gesucht hat­ten, waren tot, zer­quetscht vom Schutt der ein­ge­stürz­ten Decke. Sie star­ben nur, weil sie sich in den Sekun­den der Explo­si­on anders ent­schie­den hat­ten: Sie hiel­ten sich zwi­schen den Rega­len ver­steckt, wäh­rend ich auf die Stra­ße lief. Nur des­we­gen habe ich als Ein­zi­ger von uns über­lebt. Die Hel­fer hat­ten gro­ße Mühe, die ver­dreh­ten und durch­trenn­ten Kör­per aus dem Geröll zu zie­hen. Ange­hö­ri­ge der Toten lagen am Boden und schrien, Kin­der wein­ten. Aus eini­gen Kör­pern quol­len Inne­rei­en, über­all lagen abge­trenn­te Hän­de und Bei­ne. Ins­ge­samt star­ben durch die­se Angrif­fe 15 Men­schen, 25 – mit mir – wur­den ver­letzt. Ich kann die­se Bil­der nicht ver­ges­sen. Ich hät­te einer die­ser Kör­per sein kön­nen. Ich wur­de schnell in ein Kran­ken­haus gebracht, doch hel­fen konn­te mir dort nie­mand. Zu vie­le Men­schen benö­tig­ten Hil­fe, unauf­hör­lich brach­ten Män­ner neue Tra­gen mit Schwer­ver­letz­ten hin­ein. Wäh­rend ich auf den Arzt war­te­te, sah ich so viel Blut, dass ich zu hal­lu­zi­nie­ren begann. Ein Freund brach­te mich des­halb in ein ande­res Kran­ken­haus, wo sich Schwes­tern um mich küm­mer­ten. Sie ent­fern­ten einen Metall­split­ter, der ande­re steckt noch in mei­nem Bein. Sie sagen, er kön­ne erst in eini­ger Zeit ent­fernt wer­den. Doch es sind nicht nur die Bom­ben und Gefech­te, die unser Über­le­ben immer schwe­rer machen. Das Regime hat nun auch die Cas­tel­lo-Stra­ße ein­ge­nom­men. Sie ist eine Todes­zo­ne gewor­den: Stän­dig wird geschos­sen, bren­nen­de Autos lie­gen am Stra­ßen­rand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schnei­det uns damit von der Außen­welt ab. Die Cas­tel­lo-Stra­ße war bis­lang die ein­zi­ge Ver­bin­dung von Alep­po nach drau­ßen, in die Vor­or­te und in die Tür­kei. Es war die Lebens­ader der Stadt, von dort haben wir Lebens­mit­tel, Gas, Brenn­stoff, Trink­was­ser und Medi­zin bekom­men.  Die Bela­ge­rung ist für uns dra­ma­tisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemü­se zu kau­fen, über­haupt sind die Märk­te fast leer. Auch haben wir immer weni­ger Brenn­stoff, wir ver­brau­chen gera­de die letz­ten Reser­ven der Stadt. Bald schon wer­den wir in kom­plet­ter Dun­kel­heit leben. Das ist es, was das Regime und sei­ne Mili­zen wol­len: dass Alep­po lang­sam stirbt. Sie set­zen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Ver­blie­be­nen, wer­den nicht mehr lan­ge ver­sorgt wer­den kön­nen. Ich fürch­te, dass unser Unter­gang schließ­lich dadurch kommt, dass wir alle um Was­ser und Brot kämp­fen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, dar­um zu kämp­fen, ein­fach ver­hun­gern wer­den. Fakt ist: Wir sit­zen fest. Wir haben kei­ne Chan­ce mehr, aus Ost-Alep­po her­aus­zu­kom­men. Ich habe immer mit drei Freun­den in einer WG zusam­men gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat gehei­ra­tet und lebt nun mit sei­ner Frau zusam­men, sie erwar­ten ein Baby. Der ande­re, Jawad, konn­te in die Tür­kei ent­kom­men. Sein Vater wur­de bei einem Angriff schwer ver­letzt und Jawad konn­te mit ihm vor ein paar Wochen in die Tür­kei fah­ren, damit er dort medi­zi­ni­sche Hil­fe bekommt. Jawad ver­sucht, wie­der zu stu­die­ren. Er wird nicht mehr nach Alep­po zurück­kom­men. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kran­ke Men­schen dür­fen mit einer Beglei­tung den Grenz­über­gang Bab al-Sal­a­meh in die Tür­kei pas­sie­ren. Die Tür­kei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst, wenn ich Alep­po ver­las­sen woll­te: Ich kann es nicht. Die Bom­bar­die­run­gen in der Stadt sind zu stark, ich wür­de nicht mehr weit kom­men. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr weg­kom­men wer­de. Die Bom­ben fal­len wei­ter, jeden Tag, jede Stun­de. Sie tref­fen alles, was sich bewegt. Ich sit­ze in Alep­po fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
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im zug

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nord­pol : 0.02 — Oder aber ich hebe mei­nen Blick vom Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Ich beob­ach­te wie­der­um in einem Nacht­zug rei­send einen Film, der vom Über­le­ben in der Stadt Alep­po erzählt. Plötz­lich glau­be ich zu erken­nen, wie ein Mann im Zug mit einer Pis­to­le um sich schießt. Men­schen flüch­ten und fal­len um. Ich wer­de in die Schul­ter getrof­fen, und ich den­ke noch, ich soll­te wütend wer­den, es wäre gut, wenn man ein Löwe zu wer­den wünscht, wütend zu sein. Ein­mal ste­he ich auf, im Zug herrscht noch Frie­den. Ein älte­rer Mann wirft in die­sem Moment mit Wucht einen Blick auf mich: Bist Du gefähr­lich? Es ist kein ange­neh­mer Blick, es ist ein kal­ter Blick, den man nicht befra­gen kann, weil man weiß, dass man kei­ne kor­rek­te Ant­wort erhal­ten wür­de. Auch so her­um ist das also mög­lich. Selt­sa­me Gedan­ken. — stop
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lydia

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echo : 0.01 — In der Stra­ßen­bahn tref­fe ich eine jun­ge Dame. Ich erken­ne sie zunächst nicht, aber als sie mich grüßt, erin­ne­re ich eine Begeg­nung vor vie­len Jah­ren an der­sel­ben Stel­le, in einer Stra­ßen­bahn. Aus dem klei­nen Mäd­chen, das mich mit einer Bemer­kung für den Rest mei­nes Lebens rühr­te, ist tat­säch­lich eine jun­ge Frau gewor­den. Sie sagt, sie habe unser Gespräch, das wir führ­ten, nie ver­ges­sen, es han­del­te von ihren Ohren, von einem Gedan­ken, der mir zu erklä­ren such­te, wes­we­gen ihre Ohren etwas grö­ßer sei­en als die Ohren ihrer bes­ten Freun­din. Das wäre näm­lich so, dass ihre Ohren des­halb grö­ßer sei­en, weil sie viel weni­ger spre­chen wür­de als ihre Freun­din übli­cher­weise. Sie könn­te, sag­te sie damals, mit ihren Ohren sogar ihre eige­ne Stim­me hören, obwohl sie gar nichts sage. Zum Glück haben mei­ne Ohren inzwi­schen auf­ge­hört zu wach­sen, ich könn­te sonst mit ihnen her­um­flie­gen, dann hät­ten Sie mich ver­mut­lich nie wie­der­ge­se­hen. Sie lacht jetzt sehr fröh­lich. Drau­ßen fällt gera­de viel Was­ser vom Him­mel. — stop

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brighton beach ave

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nord­pol

~ : louis
to : mrs. valen­ti­na zeiler
brook­lyn trans­la­ti­on services
23 brigh­ton beach ave,
Brooklyn
sub­ject : BRYANT PARK

Sehr geehr­te Frau Zei­ler, ich dan­ke Ihnen herz­lich für Ihre rasche Ant­wort. Ich will nun abschlie­ßend den Auf­trag ertei­len, mein unten fol­gen­des Schrei­ben in die eng­li­sche Spra­che zu über­set­zen. Ich bit­te um sorg­fäl­tigs­te Arbeit, Sie wer­den erken­nen, in die­sem Text ist von einem Rei­se­tun­nel nach Ame­ri­ka die Rede, der in mei­ner Vor­stel­lung von äußers­ter Bedeu­tung ist, ein poe­ti­scher Ent­wurf, jedes Wort scheint mir für sei­ne Ver­wirk­li­chung von hoher Bedeu­tung zu sein. Mit ver­ein­bar­ter Ver­gü­tung bin ich ein­ver­stan­den, der Betrag von 82 Dol­lar wur­de bereits ange­wie­sen. Wei­te­re Auf­trä­ge wer­de ich mit Ihnen in Kür­ze bei einem Besuch in ihrem Büro per­sön­lich bespre­chen. Darf ich an die­ser Stel­le mei­ner Ver­wun­de­rung dar­über Aus­druck geben, dass die Über­set­zung des­sel­ben Tex­tes in die chi­ne­si­sche Spra­che 122 Dol­lar kos­ten wür­de? Ich fra­ge mich, wor­in die erheb­li­che Dif­fe­renz von 40 Dol­lar begrün­det sein könn­te. Mit aller­bes­ten Grü­ßen – Ihr Louis

BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hat­te Stun­den lang gereg­net, jetzt dampf­te der Boden im süd­wärts vor­rü­cken­den Nord­licht, und das Laub, das alles bedeck­te, die stei­ner­nen Bän­ke, Brun­nen und Skulp­tu­ren, die Büsche und Som­mer­stüh­le der Cafés, beweg­te sich trock­nend wie eine abge­wor­fe­ne Haut, die nicht zur Ruhe kom­men konn­te. Boule­spie­ler waren vom Him­mel gefal­len, feg­ten ihr Spiel­feld, schon war das Kli­cken der Kugeln zu hören, Schrit­te, Rufe. Wie ich so zu den Spie­lern schlen­der­te, kreuz­te eine jun­ge Frau mei­nen Weg. Sie tas­te­te sich lang­sam vor­wärts an einem wei­ßen, sehr lan­gen Stock, den ich ein­ge­hend beob­ach­te­te, rasche, den Boden abklop­fen­de Bewe­gun­gen. Als sie in mei­ne Nähe gekom­men war, viel­leicht hat­te sie das Geräusch mei­ner Schrit­te gehört, sprach sie mich an, frag­te, ob es bald wie­der reg­nen wür­de. Ich erin­ne­re mich noch gut, zunächst sehr unsi­cher gewe­sen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Sei­te und berich­te­te vom Okto­ber­licht, das ich so lieb­te, von den Far­ben der Blät­ter, die unter unse­ren Füßen raschel­ten. Bald saßen wir auf einer nas­sen Bank, und die jun­ge Frau erzähl­te, dass sie ein klei­nes Pro­blem haben wür­de, dass sie einen Brief erhal­ten habe, einen lang erwar­te­ten, einen ersehn­ten Brief, und dass sie die­sen Brief nicht lesen kön­ne, ein Mann mit Augen­licht hät­te ihn geschrie­ben, ob ich ihr den Brief bit­te vor­le­sen wür­de, sie sei so sehr glück­lich, die­sen Brief end­lich in Hän­den zu hal­ten. Ich öff­ne­te also den Brief, einen Luft­post­brief, aber da stan­den nur weni­ge, sehr har­te Wor­te, ein Ende in sechs Zei­len, Druck­buch­sta­ben, eine schlam­pi­ge Arbeit, rasch hin­ge­wor­fen, und obwohl ich wuss­te, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durf­te, erzähl­te mei­ne Stim­me, die vor­gab zu lesen, eine ganz ande­re Geschich­te. Liebs­te Mar­len, hör­te ich mich sagen, liebs­te Mar­len, wie sehr ich Dich doch ver­mis­se. Konn­te so lan­ge Zeit nicht schrei­ben, weil ich Dei­ne Adres­se ver­lo­ren hat­te, aber nun schrei­be ich Dir, schrei­be Dir aus unse­rem Café am Bryant Park. Es ist gera­de Abend gewor­den in New York und sicher wirst Du schon schla­fen. Erin­nerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unse­rem Café Dei­nen Geburts­tag fei­er­ten? Ich erzähl­te Dir von einer klei­nen, dunk­len Stel­le hin­ter der Tape­te, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklä­ren konn­te, was das bedeu­tet, die­ses Rot für sehen­de Men­schen? Erin­nerst Du Dich, wie Du mit Dei­nen Hän­den nach jener Stel­le such­test, wie ich Dei­ne Fin­ger führ­te, wie ich Dir erzähl­te, dass dort hin­ter der Tape­te, ein Tun­nel endet, der Euro­pa mit Ame­ri­ka ver­bin­det? Und wie Du ein Ohr an die Wand leg­test, wie Du lausch­test, erin­nerst Du Dich? Lan­ge Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sag­test Du, und woll­test wis­sen, wie lan­ge Zeit die Stim­men wohl unter dem atlan­ti­schen Boden reis­ten, bis sie Dich errei­chen konn­ten. – An die­ser Stel­le mei­ner klei­nen Erzäh­lung unter­brach mich die jun­ge Frau. Sie hat­te ihren Kopf zur Sei­te geneigt, lächel­te mich an und flüs­ter­te, dass das eine schö­ne Geschich­te gewe­sen sei, eine tröst­li­che Geschich­te, ich soll­te den Brief ruhig behal­ten und mit ihm machen, was immer ich woll­te. Und da war nun das aus dem Boden kom­men­de Nord­licht, das Knis­tern der Blät­ter, die Stim­men der spie­len­den Men­schen. Wir gin­gen noch eine klei­ne Stre­cke neben­ein­an­der her, ohne zu spre­chen. Ich sehe gera­de ihren über das Laub tas­ten­den Stock und ein Eich­hörn­chen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baum­stamm kau­er­te. Bei­na­he kommt es mir in die­ser Sekun­de so vor, als hät­te ich die­ses Eich­hörn­chen und sei­ne Nuss nur erfun­den. /// END

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grand central station. regen

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marim­ba : 0.12 — Grand Cen­tral Sta­ti­on an einem reg­ne­ri­schen Tag, vie­le der rei­sen­den Men­schen sind nass gewor­den. Auch ein paar Tau­ben haben sich in den Bahn­hof geflüch­tet, sie gehen zu Fuß, wes­halb sie von Kin­dern gejagt wer­den, deren Müt­ter lan­ge Röcke tra­gen und Schlei­fen im Haar. Die­se Per­so­nen wir­ken so, als wären sie gera­de erst aus den Regen­wol­ken frü­he­rer Jahr­hun­der­te gefal­len.  Wie ich mit einer Roll­trep­pe abwärts fah­re, durch die Tun­nels unter dem Bahn­hof spa­zie­re, tref­fe ich auf eine Modell­ei­sen­bahn, die mit Blau­licht durch einen Post­kar­ten­la­den fun­kelt. Ein Feu­er ist aus­ge­bro­chen, eine Tank­stel­le brennt, die jeder­zeit explo­die­ren könn­te, und eine Schu­le. Gele­gent­lich schep­pert ein Zug vor­bei, des­sen Loko­mo­ti­ve dampft, indes­sen das Modell­ei­sen­bahn­feu­er mit­tels fei­ner Papie­re und künst­li­chem Wind zur Auf­füh­rung kommt. Eine dra­ma­ti­sche Sze­ne. In die­sem Moment der Beob­ach­tung eines Unglücks, erin­ner­te ich mich an einen Hei­zer, der in einem Mün­che­ner Bahn­hof das Fahr­werk einer rie­si­gen Loko­mo­ti­ve ölte. Es war eine Zeit, da die fah­ren­den Koh­len­brenn­wer­ke star­ben. Ich könn­te damals zum ers­ten Mal bemerkt haben, dass auch Modell­lo­ko­mo­ti­ven regel­mä­ßig mit Maschi­nen­öl, wel­ches aus hand­li­chen Behäl­tern trop­fen­wei­se ver­teilt wur­de, ver­sorgt wer­den wol­len. Der Dampf, der unter der Fahrt kurz dar­auf aus zier­li­chen Schlo­ten pfiff, war echt, wie der Dampf der gro­ßen Loko­mo­ti­ven­brü­der. Die ers­te Eisen­bahn mei­nes Lebens habe ich von einem Lauf­stall aus als Gefan­ge­ner beob­ach­tet. Noch konn­te ich, wenn ich mich nicht täu­sche, nur sit­zen oder lie­gen, aber das war nicht schlimm gewe­sen, weil der Zug, der mei­nen Lauf­stall umkreis­te, vom Boden her gut zu sehen war. Ich erin­ne­re mich an Schie­nen von Metall, die ich spä­ter ein­mal ver­bie­gen wer­de, an leuch­ten­de Signal­an­la­gen, an dun­kel­grü­ne Kro­ko­di­le, die je über drei Schhein­wer­fer­köp­fe ver­füg­ten. Spä­te­re, sehr viel klei­ne­re Dampf­lo­ko­mo­ti­ven­mo­del­le, waren schwer. Wenn ich sie in mei­nen klei­nen Hän­den hielt, hat­te ich das Gefühl etwas Bedeu­ten­des zu hal­ten. Ihre Far­ben waren Schwarz und Rot, und sie rochen schön nach Eisen. Seit jener Zeit spü­re ich eine kind­li­che Form der Erre­gung, sobald ich in einem Modell­ka­ta­log blät­te­re. Die ers­te Spiel­zeug­ei­sen­bahn, die mir selbst gehör­te, war von Holz gewe­sen, höl­zer­ne Schie­nen, höl­zer­ne Wag­gons, höl­zer­ne Loko­mo­ti­ven, auch die Pas­sa­gie­re waren von Holz. Heut­zu­ta­ge wer­den Loko­mo­ti­ven her­ge­stellt, die so klein sind, dass man sie ver­schlu­cken kann. – Vor weni­gen Tagen wur­de Rado­van Kara­džić zu 40 Jah­ren Haft ver­ur­teilt. — stop
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zerzaust

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vic­tor : 0.55 — L. erzählt, sie habe ein­mal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zei­tun­gen. Trotz­dem sei die­se Frau, deren Namen sie nicht in Erin­ne­rung habe, Wör­tern sehr eng ver­bun­den gewe­sen, da sie pau­sen­los Wör­ter notier­te. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bän­ken sit­zend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie ver­las­sen haben soll. Sie schrieb an einem ein­zi­gen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer wei­te­ren Vari­an­te mit sich führ­te, im Grun­de an einem Buch einer­seits, das sie bereits auf­ge­schrie­ben hat­te, und einem Buch ande­rer­seits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrie­ben wor­den war, wie­der­hol­te, aber natür­lich nicht, ohne das Buch im Pro­zess des Abschrei­bens zu ergän­zen. Jede Ergän­zung wur­de sorg­fäl­tig über­legt, manch­mal wur­den Wör­ter ersetzt, gan­ze Sät­ze oder ein Gedan­ke hin­zu­ge­fügt, sel­ten eine Pas­sa­ge gestri­chen. In die­ser Wei­se ver­än­der­te sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wur­de lang­sam schwe­rer. Immer dann, wenn ein Buch abge­schrie­ben wor­den war, ver­schwand das abge­schrie­be­ne Buch. Und wie­der­um begann die Frau eine wei­te­re Kopie anzu­fer­ti­gen, die sich im Pro­zess der Ver­dopp­lung schein­bar nur unwe­sent­lich von ihrem Ori­gi­nal unter­schei­den wür­de. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spa­zie­ren und war stets sorg­fäl­tig geklei­det. Sie soll schon ein wenig wild aus­ge­se­hen haben, zer­saust, aber glück­lich, sagen wir, zer­zaust und immer beschäf­tigt und irgend­wie fröh­lich. Sie notier­te zier­li­che, äußerst exak­te Zei­chen. — stop
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transfer

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echo : 3.05 – Vor fünf oder sechs Jah­ren schrieb ich einen Brief an einen ver­schol­le­nen Freund. Ich erzähl­te ihm von der Welt der Fähr­schif­fe, wie ich sie erkun­det hat­te auf der Upper New York Bay. Ich bat ihn, er möge sich um Him­mels­wil­len mel­den. Ver­mut­lich war ich nicht wirk­lich über­zeugt gewe­sen, dass mei­ne E‑Mail den ver­schwun­de­nen Freund errei­chen wür­de, er war zuletzt doch schon sehr ver­rückt gewe­sen, er hielt sich für einen ande­ren, und war seit bereits zwei Jahr­zehn­ten ver­misst. Ich notier­te also eine Bot­schaft für einen auch von mir selbst ver­ehr­ten Schrift­stel­ler, die ihn unmög­lich oder sehr wahr­schein­lich nicht errei­chen wür­de. Ich sen­de­te mein Schrei­ben an einen E‑Mail-Dienst im fin­ni­schen Tur­ku, der ver­sprach, Schrift­sät­ze an Men­schen wei­ter­zu­lei­ten, die ver­schwun­den waren, viel­leicht gegen ihren Wil­len wie vom Erd­bo­den ver­schluckt oder weil sie sich ver­steck­ten. Eini­ge Stun­den spä­ter wur­de der Ein­gang mei­ner E‑Mail bestä­tigt mit dem Ver­spre­chen einer Nach­richt, sobald die E‑Mail wei­ter­ge­ge­ben wer­den konn­te. In die­sem glück­li­chen Fal­le soll­te ich 85 Dol­lar über­wei­sen an ein Post­amt eben der Stadt Tur­ku, ein ganz ange­mes­se­ner Betrag, wie ich fin­de. Vor weni­gen Minu­ten nun erhielt ich mei­ne E‑Mail mit dem Ver­merk zurück: Wir bedau­ern, Ihnen mit­tei­len zu müs­sen, dass wir Ihre E‑Mail an Mr. John Dos Pas­sos nicht zustel­len konn­ten. Mit freund­li­chen Grü­ßen — stop

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oqaatsut

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hima­la­ya : 2.03 — Ges­tern erreich­te mich eine Nach­richt Opal­kas. Er mel­de­te sich aus einem grön­län­di­schen Städt­chen, wel­ches an der West­küs­te der Insel liegt. Er notier­te: Lie­ber Lou­is, bei dich­tem Schnee­trei­ben mit Pro­pel­ler­flug­zeug in Oqaats­ut ein­ge­trof­fen. Fischer Roon, der mich vom Flug­platz abhol­te, erzähl­te, es sei glück­li­cher­wei­se nicht wirk­lich Win­ter gewor­den, — 7 °C, hef­ti­ge Win­de vom Meer, viel Schnee, haus­ho­he Wehen, fast dun­kel. Gegen Abend zu, im Schein der Lam­pen einer Schnee­rau­pe, besuch­ten wir einen Strand. Unter der dich­ten Haut von fei­nem Schnee waren noch Spu­ren eines gestran­de­ten Wals zu erken­nen, Rudi­men­te sei­nes Schä­del­kno­chens, Tei­le der Wir­bel­säu­le. Das Eis weit drau­ßen, das sich hef­tig beweg­te, don­ner­te zu uns her­über, es ist wun­der­bar, der Boden zit­ter­te und mein Atem pul­sier­te unter dem Ein­druck zar­ter Luft­druck­wel­len. Ich wer­de Dir in den kom­men­den Tagen eine Ton­auf­nah­me der Eis­meer­ge­räu­sche anfer­ti­gen, auch Du wirst ver­mut­lich begeis­tert sein. Lid­vi­en, die im Magen des Wals jenen Rech­ner ent­deck­te, den ich für Dich unter­su­chen wer­de, wird bald ein­tref­fen. Sie soll das Gerät bereits geöff­net und eine Indi­zie­rung der Datei­en vor­be­rei­tet haben. Bald Nacht, lie­ber Lou­is, wünsch Dir eine gute Zeit, freu mich, dass J. bald wie­der auf­wa­chen wird. Dein Opal­ka. — stop
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sommerhut

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tan­go : 6.55 — Men­schen exis­tie­ren, die Flüch­ti­ge sind, unschar­fe Wesen, oszil­lie­ren­de, beben­de Per­so­nen, obwohl sie doch in nächs­ter Nähe ste­hen, man könn­te sie berüh­ren, ihnen die Hand rei­chen, wird man ihrer nie­mals sicher sein. Oder Schla­fen­de. Eine Frau mor­gens im Zug, der ich seit Jah­ren in der 6‑Uhr-15-Bahn vom Flug­ha­fen ins Stadt­zen­trum fah­rend regel­mä­ßig begeg­ne. Sie ist immer schon anwe­send, wenn ich den Zug betre­te. Sie ist ver­mut­lich die ein­zi­ge Frau, deren Gesichts­zü­ge mir ver­traut sind, ohne je ihre Augen gese­hen zu haben. Ich ken­ne sie aus­schließ­lich als schla­fen­de Per­son. Ver­mut­lich wird sie stets lan­ge vor mei­ner Zeit in den Zug gestie­gen sein, viel­leicht in Bad Kreuz­nach oder Idar-Ober­stein, da war halb noch Nacht. Ich neh­me an, ihr Schlaf ist tief, denn sie sitzt sehr sta­bil von einer Hand­ta­sche beschwert und rührt sich auch dann nicht, wenn jemand neben ihr Platz nimmt. Ihr rund­li­ches Gesicht ist nie­mals geschminkt, ein fried­li­ches, ich wür­de sagen, ein glück­li­ches Gesicht. Ein­mal, in den Tagen gro­ßer Hit­ze, trug sie einen Som­mer­hut, ein ande­res Mal im Win­ter eine Woll­müt­ze. — stop

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who is fred wesley?

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tan­go : 2.30 — Hei­te­rer Stim­mung war ich ges­tern Abend der Geschwin­dig­keit, mit wel­cher Waren, die ich kauf­te, an der Kas­se eines Super­mark­tes behan­delt wur­den, nicht gewach­sen, viel­leicht des­halb, weil ich über­haupt lang­sa­mer gewor­den bin, oder weil ich in dem Augen­blick, da mei­ne Ware über einen Scan­ner bewegt wur­de, dar­über nach­dach­te, ob es sich bei E‑Mails, die ich manch­mal schrei­be, noch um Wesen han­delt, die man als Schrift­stü­cke bezeich­nen könn­te. Ohne­hin droh­te ein Fias­ko, da sich die Waren, die gera­de in mei­nen Besitz über­ge­gan­gen waren, hin­ter dem Fließ­band inein­an­der scho­ben wie Pack­eis­schol­len auf dem Atlan­tik vor Grön­land. Eine jun­ge kolum­bia­ni­sche Assis­ten­tin kam glück­li­cher­wei­se bald zu Hil­fe, ich führ­te meh­re­re gefal­te­te Papier­tü­ten mit mir, die sehr sorg­fäl­tig bepackt wer­den muss­ten. Sie sprach nur weni­ge Wör­ter mei­ner Spra­che, und sie schwitz­te indes­sen und ver­such­te mir zu erklä­ren, dass es in ihrem Land noch viel wär­mer sei als bei uns in Euro­pa, aber dass sie dort, auch im Regen­wald nicht, nie­mals so hef­tig schwit­zen wür­de wie hier, die Kli­ma­an­la­ge sei aus­ge­fal­len, dass ich etwas lang­sa­mer sei als üblich, wäre gera­de­zu ver­nünf­tig. Ja, ver­mut­lich bin ich lang­sa­mer gewor­den, und ich dach­te, man könn­te ein­mal Schnell­kas­sen in dem Sin­ne beden­ken, dass dort rasen­de Men­schen mit rasen­den Hän­den rasen­de Geld­bör­sen bedie­nen, alles gin­ge dort so schnell, dass man als ein lang­sa­mer Mensch, auf der ande­ren Sei­te der Zeit befind­lich, nur noch Unschär­fen in der Luft wahr­neh­men wür­de, nicht aber ein­kau­fen­de Per­so­nen, wäh­rend einer wie ich als eine Foto­gra­fie erschei­nen wür­de, als Etwas, das sich nie­mals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wun­der­bar küh­le Luft. Who is Fred Wes­ley? — stop
guggenheim



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