echo : 6.48 — Es war das erste Mal, dass ich ein Hutgeschäft betreten habe. Es roch sehr gut, es roch nach feinen Stoffen und nach Leder, es roch eigentlich eher nach einem Schuhgeschäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hinter dem Tresen trug natürlich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näherte, war er gerade in ein Gespräch vertieft mit einem Herrn, der sich Hüte vorführen ließ. Er schien über sehr viel Geld zu verfügen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unverzüglich kaufte. Ein Turm von Hutschachteln, so hoch wie der Mann selbst, hatte sich neben ihm gebildet. Der Turm wurde von einem Angestellten des Ladens festgehalten, damit er nicht stürzte. Ein weiterer junger Mann kletterte auf einer Leiter hinter dem Tresen vor einem Regal herum, das aus einem früheren Jahrhundert zu kommen schien, das heißt, das Regal war übrig geblieben, während andere Gegenstände derselben Zeit längst verschwunden waren. Einige Minuten nahm keiner der Menschen, die sich in dem Laden befanden, Notiz von mir, und so konnte ich diese kleine Geschichte beobachten, auch den Ausführungen lauschen, mit welchen der Mann, der Hüte kaufte, sein Verhalten begründete. Obwohl auf seinem Kopf noch sehr viel Haar zu entdecken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedanken darüber zu machen, wie lang er über sein Haar noch verfügen würde. Er schien damit zu rechnen, dass er bald kein einziges oder nur räudiges Haar auf dem Kopf tragen würde, darunter bloße Haut, nichts also als seinen Kopf, was für ihn inakzeptabel sein konnte. Er wollte nun vorsorglich Hüte wie Frisuren besitzen, wollte nichts anderes, als mächtig sein über seine Zukunft, vorbereitet, sagen wir. Selbst noch nachts, stellte er sich vor, sollte ein Hut seinen Kopf bedecken, weswegen er nach Nachthüten fragte, aber so etwas gibt es nicht, oder bisher nicht, Mützen ja, aber nicht Hüte, nicht Nachthüte, was seltsam ist, nicht wahr, dass es alles Mögliche gibt auf dieser Welt, aber keine Hüte, die reine Nachthüte sind. Seit ich das Hutgeschäft vor Stunden verlassen habe, denke ich darüber nach, was einen Nachthut genau genommen ausmachen würde, was ihn von anderen Hüten unterscheiden würde. Es müsste vermutlich sehr weich sein, das könnte sein. Sehr viel weiter bin ich in meinen Überlegungen bislang nicht gekommen. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schneewolken nähern sich von Nordosten her. – stop
Aus der Wörtersammlung: hut
eine unerhörte geschichte
alpha : 6.20 — Eine unerhörte Geschichte soll am vergangenen Samstagabend auf der Staten Island Fähre MS John F. Kennedy ihren Ausgang genommen haben. Das Schiff war auf dem Weg zurück nach Manhattan gewesen, als drei junge Männer eine junge Möwe lockten, und zwar mit handwarmen Rosinen, die sie dem Tier, das auf einer Reling saß, vor die Füße warfen, so dass es sich auf den Boden begab, wo es gefangen werden konnte. Bei den jungen Männern handelte es sich um Timothy Waken, Bill L. Anderson, sowie Max Aurel Stevenson, alle drei leben in Brooklyn von Kindheit an. Sie waren wohl stolz auf ihr Handeln gewesen, weil sie sich filmten, während sie das erschrockene Tier mit seltsamen Bällen zwangsweise fütterten, Bällen, die prall mit Helium oder einem anderen leichten Gas gefüllt worden waren, weshalb das Tier, als man es wieder in die Freiheit entließ, wild zu schreien begann, vermutlich deshalb, weil es bald bemerkte, dass sich das Verhalten seines Körpers in der Luft stark verändert hatte. Die Möwe konnte nicht mehr landen, immer wieder fassten ihre Füße ins Leere, wenn sie nach der Reling der John F. Kennedy greifen wollte. Einen Versuch nach dem anderen unternahm die traurige Kreatur, bis sie im letzten Moment vor tödlicher Erschöpfung doch noch erfolgreich war. Nun aber musste sich die Möwe fest mit dem Schiff verbinden, um nicht sofort wieder aufzusteigen, ihr Bauch war rund, sie schien starke Schmerzen zu haben und sich zu fürchten vor den jungen Männern, die sie filmten, die ihr mit einem Scheinwerfer ins Antlitz leuchteten. Die Möwe hatte eine rosa Zunge, sie war zu diesem Zeitpunkt die einzige Möwe noch an Bord, alle anderen Tiere waren westwärts nach New Jersey geflüchtet. Gegen 10 Uhr und dreißig Minuten, kurz bevor das Fährschiff Manhattan erreichte, verließen die Möwe ihre Kräfte. Mit einem leisen, verzweifelten Ton löste sie sich vom Schiff. Sie war so schwach, dass sie die Flügel hängen ließ und langsam, wie ein Zeppelin den Battery Park in 25 Fuß Höhe durchquerte. Ein leichter Wind trieb das Tier die Sixth Avenue nordwärts, wo es mehrfach von Zeugen gesichtet wurde, entweder von den Fenstern der Wohnhäuser aus oder vom Boden her. Kurz vor Mitternacht wurde die Feuerwache nahe Washington Square Park alarmiert. Dort genau, in diesem Park, wurde die Möwe schließlich vom Himmel geholt. Behutsam wurde das Tier in den Arm genommen. Es hatte die Augen geschlossen und war vollständig stumm. — stop
josephine auf der mary murray
tango : 6.34 — Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, wie sich Josephine an einem warmen Samstagvormittag auf den Weg macht nach New Jersey, um das Wrack der MS Mary Murray zu besichtigen? Wie sie ein Taxi ordert. Wie der Fahrer erzählt, dass er noch nie eine so weite Fahrt unternommen habe im Auftrag. Eigentlich dürfe er mit seinem Wagen die Stadt nicht verlassen. Also steigen sie in Josephines Auto um, einen uralten Buick, der seit über einem Jahrzehnt nicht aus der Garage bewegt worden war. Sie nehmen die Verrazano-Narrows Bridge südwärts. Josephine raucht schon lange nicht mehr, aber heute macht sie eine Ausnahme, eine. Ihr dünnes weißes Haar, das im Wind flattert, fängt sie mit wendigen Fingern wieder ein. Sie trägt Turnschuhe und ein orangefarbenes, sommerliches Kleid. Die Haut ihrer Beine, Arme, Schultern sind hell wie ihr Haar. Eine Stunde rauschen sie wortlos auf dem New Jersey Turnpike dahin. Nahe Freeholf halten sie an. Gleich neben dem Highway bewegt sich ein Fluss, dunkles, müdes Wasser, langsam. Am Ufer wartet ein junger, bärtiger Mann in einem Paddelboot von leuchtend roter Farbe. Wie Josephine sich in diesem Augenblick wünscht, fotografiert zu werden, wie sie sich in das Boot setzt, wie sie ihren Strohhut mit beiden Händen zurechtrückt, dann fahren sie los, unter mächtigen Brücken hindurch in Richtung des Raritanflusses. Möwen stehen im brackigen Wasser. Es ist fast still, nur das Geräusch des Paddels, ein paar Fliegen brummen durch die Luft. Einmal nähert sich ein Hubschrauber der Küstenwache, dreht wieder ab. Und plötzlich ist sie zu sehen, eine Fata Morgana in der Landschaft, das ausrangierte gewaltige Fährschiff der Staten Island Flotte, die MS Mary Murray. Schlagseite steuerbords ruht sie in einem Bett von Schilf, Libellen schießen hin und her, blaue und grüne riesige Tiere. Wie sich Josephine und der junge Mann dem Schiffswrack vorsichtig nähern. Wie der junge Mann eine Leiter am Rumpf des Schiffes befestigt. Wir sehen der alten Dame zu, wie sie vorsichtig Sprosse um Sprosse erklimmt. Ihr behutsamer Gang über das Deck, das sich neigt. Jetzt, da die Farben vom Schiffskörper fallen, von Stürmen und Regen gepeitscht, von der Sonne gebrannt, kann man das hölzerne Herz der alten Flottendame erkennen, Käfer und Ameisen spazieren über die Sitzbänke der Promenade. Josephine muss nicht lange suchen, im Schatten einer Ulme, die sich über das Schiff zu beugen scheint, eine Sitzbank, hier genau, ja, hier genau muss die Schrift ihrer Schwester Geraldine zu entdecken sein, ein Satz nur, den das kleine Mädchen im Jahr 1952 an einem Sommernachmittag auf dem Weg von Manhattan nach Staten Island in das Holz der Bank geritzt hatte, während ihre Zwillingsschwester Charlotte sie vor Entdeckung schützte. Wie Josephines zitternde Finger in diesem Augenblick über die Vertiefung der Zeichen fahren. — stop
lamelleniris
foxtrott : 15.07 — Die Suchmaschine, von der ich gestern noch träumte am helllichten Tag, war so groß wie eine Streichholzschachtel. Sie hockte auf meinem Sofa und rührte sich nicht. Indem ich sie betrachtete, wirkte sie zunächst so, als wäre sie vollkommen unbeweglich, denn es waren an dem Suchmaschinenwesen keine Beine zu erkennen, dafür an jeder Seitenfläche ein kleines Auge, mit dem es sogar zwinkern konnte. Seine Haut ähnelte der Haut eines jungen Elefanten, es hatte jedoch keine Ohren und auch keine Arme oder Hände, tatsächlich wirkte das Wesen in diesem Moment als könnte es sich nicht von der Stelle bewegen. Welch ein Irrtum! Das Wesen konnte ganz anders, es konnte sich zum Beispiel von meinem Sofa erheben und durch die Luft fahren wie ein Ballon. Dazu holte es tief Luft, wurde größer und immer größer, bis es in etwa doppelt so groß geworden war wie zuvor. In dieser neuen Gestalt flog die kleine Suchmaschine in Richtung meines Bücherregals davon. Es war nun in diesem Flug kein Geräusch zu hören, vollkommen lautlos schwebte sie durch mein Zimmer, wurde von einem Luftzug kurz aus der Bahn geworfen, fing sich wieder und ich rief ihr noch zu: Lamelleniris! Es war erstaunlich, ein kleines Wunder. Das Wort schien sie zu beschleunigen, sie erreichte rasch mein Regal und flog von links nach rechts die Reihe der Buchrücken entlang, hielt vor jedem der Bücher einmal kurz an, und sie erweckte den Eindruck, als ob sie sich in jedem dieser Momente tatsächlich mit dem Buch selbst beschäftigte, in das Buch hineinsah oder von seinem Duft kostete, wie auch immer. Nach einigen Flügen auf und ab, hielt sie vor einem der Bücher an, es handelte es sich um eine kleine Geschichte der Fotografie, die von Peter Nadas aufgeschrieben worden war. Nun wird man nicht glauben, was dann zu sehen war. Die kleine Suchmaschine machte sich an dem Buch zu schaffen, sie schien über unsichtbare Werkzeuge zu verfügen, ein Buch in den Griff zu bekommen. Und das Buch parierte, es ließ sich aus dem Regalfach lösen und flog mit der kleinen Maschine, die sich unter das Buch begeben hatte, durch den Raum zu mir zurück, um in meiner Nähe sanft zu landen. Behutsam setzte sie sich neben das Buch, das sie für mich herbeigeholt hatte und bedeutete mir mit stillem Nachdruck: Schau her, hier ist das Buch, in dem das Wort Lamelleniris enthalten ist. Und so waren wir immerhin schon einen Schritt weiter als noch zuvor. — stop
jennifer 7
romeo : 6.25 — Gestern am späten Abend erreichte mich eine E‑Mail von einer Person namens Jennifer 7. Ich wunderte mich, dass dieses Schreiben nicht sofort in einem Spamordner verschwunden war, immerhin kenne ich niemanden, der diesen Namen trägt. Aber ich bin nun doch sehr froh, dass mich der kleine Brief aus der Ferne erreichte. Er war in englischer Sprache verfasst, und ich sitze noch immer vor ihm und überlege, was zu tun ist, was ich notieren soll, weil, das ist ganz sicher so, dass ich Jennifer 7 antworten sollte, morgen oder übermorgen. Vielleicht werde ich ihr eine Frage stellen, wo genau sie denn wohnt, in welcher Stadt, in welchem Haus, wie das Haus beschaffen ist, welcher Art Menschen in diesem Haus wohnen Tür an Tür. Jennifer 7 schrieb so: Lieber Mr. Louis, ich bin sehr müde, ich habe über eine ganze Woche lang kaum geschlafen, weil ich in einer Mietwohnung lebe im 22. Stock, was noch kein Grund ist nicht zu schlafen, aber ich arbeite nachts in einem Krankenhaus und trage sehr viel Verantwortung und muss schlafen am Tag. Neuerdings kann ich nicht schlafen, weil man mich nicht schlafen lässt. Wenn es den 23. Stock nicht geben würde, dann wäre dort nichts als ein Dach, auf dem ein paar Tauben sitzen würden und ich könnte schlafen, weil Vögel leise, behutsame, kultivierte Tiere sind. Nun aber ist das so, dass in den 23. Stock ein Mann und eine Frau eingezogen sind, Menschenpersonen, die sich nicht kümmern um den Lärm, den sie machen. Und so kann ich, das ist der Grund, nicht schlafen. Vorgestern war ich zum ersten Mal dort oben im 23. Stock, um mich vorzustellen. Ich habe mich gefürchtet. Der Mann war nicht zu sehen, dafür aber die Frau, sie stand auf Schuhen, mein Gott waren die wuchtig. Sie sagte, dass ich Pech haben würde, weil sie im Moment nicht arbeite, deshalb würde ich ihre Schritte hören und alles Weitere. Pech, sagte die Frau, Pech. Und so kann ich nicht schlafen. Ich höre ihre Schritte. Stündlich lassen sie irgendetwas fallen auf den schönen hölzernen Boden, oder sie schreien sich an, obwohl sie noch jung und frisch verheiratet sind. Das ist ein wirkliches Unglück, Mr. Louis, ich bin fast schon verzweifelt und so habe ich an Sie gedacht, weil Sie doch so schöne Käfer erfinden, die in Ohren wohnen, damit man nichts hören muss. Ob Sie mir wohl helfen, Mr. Louis! – stop
im reservat der trinkerlemure
himalaya : 6.46 — Ich hörte, irgendwo auf dieser Welt soll eine Stadt existieren, die über einen besonderen Park verfügt, eine Naturlandschaft, in welcher Trinkerlemure existieren, Abertausende beinahe unsichtbare Personen. Man kann sich das vielleicht nicht vorstellen, ohne längere Zeit darüber nachgedacht zu haben. Wälder und Wiesen, ein Fluss, da und dort ein Berg, nicht sehr hoch, Höhlen, Hütten, Schlafsacktrauben, die von mächtigen Bäumen baumeln. Man könnte sagen, dass es sich bei diesem Park vermutlich um ein Hotel oder ein Reservat handeln wird von enormen Ausmaßen, 15 Kilometer in der Breite, 20 Kilometer in der Länge. Das Areal ist umzäunt. Tore bieten Zugang im Westen, im Norden, im Osten, im Süden. Dort fahren Ambulanzen vor oder Krankenwagenbusse, um schreckliche Gestalten auszuladen, die in den großen Städten der Welt aufgesammelt wurden, zerlumpte, eitrige, zitternde Wesen, sie sprechen oder fluchen in Sprachen, die wir nur ahnen, wenn wir uns Mühe geben, ihnen zuzuhören, Englisch ist darunter, Russisch, Chinesisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und viele weitere Sprachen mehr. Sie haben meist eine weite Reise hinter sich, aber jetzt sind sie angekommen, Endstation Sehnsucht, Krankenschwestern helfen, den letzten Weg zurückzulegen durch eines der Tore. Dann sind sie frei. Wir erkennen am Horizont eine Straßenbahnhaltestelle. Sie liegt am Rande eines Waldes. Tatsächlich fahren dort ausrangierte Züge der Stadt Lissabon im Kreis herum, es geht um nichts anderes, als dass man in diesen Zügen sitzen und trinken darf so viel man will. Aus polierten Hähnen strömt Whiskey. An jedem zweiten Baum ist ein Fässchen mit Likören oder Gin oder Wodka zu entdecken. Es riecht sehr fest in dieser Landschaft, gerade dann, wenn es warm ist, Bienen und Fliegen und Libellen torkeln über wundervoll blühende Wiesen. Da und dort sitzen heitere Gruppen volltrunkener Männer und Frauen in der Idylle, sie erzählen von der Heimat oder von den Delirien, die man bereits überlebt haben will. Manch einer weiß nicht mehr genau, wie sein Name gewesen sein könnte. Andere lehnen an Bäumen, klapperige Tote, die ungut riechen, arme Hunde. Aber wer noch lebt, ist rasend vor Angst oder zufrieden, man kann sich überallhin zur Ruhe legen. In dem Flüsschen, das ich bereits erwähnte, lagert flaschenweise kühles Bier, es scheint sogar der Himmel nicht Wasser, sondern Wodka zu regnen, auch die Vögel alle sind betrunken. Aus einem Waldgebiet tritt eine zierliche Frau, sie taumelt. Die Frau trägt einen Hut und ein langes weißes Kleid, so schreitet sie durch das hohe Gras, bückt sich nach den Blüten, es ist in der Zeit der Kornblumen, dieses zauberhafte Blau. Manchmal fällt die Frau um, sie ist dann eine Weile nicht zu sehen, aber dann erscheint ihr Hut zunächst und kurz darauf sie selbst. Jetzt steht sie ganz still, schaukelt ein wenig hin und her, seit Stunden frage ich mich, um wen genau es sich handeln könnte. — stop
rom : umberto ecco
alpha : 22.57 — Der Mann hinter dem Tresen ist ein freundlicher Mann, unrasiert, akkurat gebügeltes weißes Hemd, ein hübsches, junges Gesicht, das an den Wänden auf zahlreichen Fotografien wiederzufinden ist, vermutlich deshalb, weil man sich mit ihm zeigen wollte, abgelichtet sein, sagen wir, berühmte Menschen und einfache Menschen, die ich nicht auseinanderhalten kann, weil ich die berühmten Menschen der Stadt Rom nicht kenne. Sie lächeln an der Seite des jungen Mannes stehend, manche scheinen vielleicht betrunken zu sein. Aber einen der fotografierten Männer habe ich schon einmal gesehen, es handelt sich bei diesem Herrn um Umberto Eco. Der Schriftsteller zeigt seine Zähne, er lacht in die Kamera. Umberto Eco scheint an diesem Abend, der einem Stempelaufdruck zufolge drei Jahre zurückliegt, hervorragend gelaunt gewesen zu sein. Vielleicht hatte er gerade einen dieser herrlichen Espressos getrunken, wie ich an diesem Morgen. Es war vermutlich Winter gewesen, Umberto Ecco trägt einen Hut und einen Mantel mit einem Pelzkragen. Oder es war Sommer und Umberto Ecco hatte sich in der Jahreszeit vertan. Wieder ist es sehr warm heute. Eine Ambulanz rast an der weit geöffneten Tür des Cafés vorbei, man kann das Geräusch der Sirenen der Not den ganzen Tag über vernehmen. Aber nachts ist es still in dieser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Menschen, die sie bewohnen. Es riecht nach warmem Schinken in diesem Moment. Auf dem Bildschirm meines Fotoapparates sind Säulen zu sehen und Durchleuchtungsmaschinen und Hunderte leere Plastikflaschen, Substanzen, die man nicht mit in die große, kalte Kirche am Petersplatz nehmen darf, sie könnten explodieren. Ich hebe den Fotoapparat leicht an und fotografiere Umberto Eco, sodass er jetzt zweifach im Pelzkragen existiert. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, das Pantheon zu besuchen, ich würde gern warten, Tage, Wochen, um nachzusehen, ob Umberto Eco zurückkommen wird. Ich habe bemerkt, dass meine Ohren knistern, wenn ich Kaffee trinke in Rom. — stop
gebete
delta : 6.46 — Das war so gewesen. Kurz nach dem Abendessen treffe ich im Zug auf einen Freund. Er kam gerade vom Gebet. Ich weiß nicht, wie er das macht, er betet an allen denkbar unmöglichen Orten, aber immer zur rechten Zeit. Wir müssen nicht mehr darüber sprechen, er ist Moslem, überzeugt, tiefgläubig, ich bin Christ, einer, der eher zweifelt, aber nicht NEIN sagen will, nicht, dass das alles Unfug ist mit den Jenseitsgeschichten. Mein Freund und ich lieben Jazz. Er ist ein Schlagzeuger von hoher Begabung, ich habe ein feines Gehör, das ist die andere Seite, mein bebendes Zwerchfell, wenn er spielt. Was das doch für ein Irrsinn wieder ist, dieser Film, diese Provokation, dass das nie aufhört, sagte er dann doch in meine Richtung. Und dass ihm das vor allem so unangenehm sei, weil wir doch wie Puppen sind, die man aufziehen kann, irgendwo eine böse satirische Zeichnung, und schon tanzen wir los. — Ja, das ist äußerst seltsam, diese Art der Kommunikation über große Entfernungen hinweg, die Menschenleben fordert. Überhaupt ist das merkwürdig, die Schöpfung, der Tod, das Erzählen von der Zeit danach, die Gesetze, die Bewertung nach Gut und Böse. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal mit meinem Vater vor einem Fernsehgerät saß. Das war an einem Ostersonntag kurz vor 12 Uhr mittags gewesen. Auf einem Balkon in Rom stand ein alter Mann, er trug einen merkwürdigen Hut auf dem Kopf und sprach in singender Weise Verse, von welchen ich ahnte, dass es sich nur um ein Gebet handeln könnte. Das Gebet war in meinen Ohren nicht verständlich gewesen, weil es in italienischer Sprache gesungen wurde, aber dann äußerte sich der geistliche Mann plötzlich in einer mir bekannten Sprache. Meine Mutter war indessen hinzugetreten. In genau dem Moment, da der alte Mann seinen Segen erteilte, kniete sie nieder und bekreuzigte sich. Ich erinnere, mich über ihre Geste gewundert zu haben, das Knien vor einem Fernsehgerät. Genaugenommen wundere ich mich bis heute, wie der Segen wandert. — stop
von den ohrenvögeln
marimba : 18.15 — Über Ohrenvögel notieren. Ich entdeckte sie gestern während eines Spaziergangs. Ohrenvögel kommen ohne Ausnahme paarweise vor. Haut von hellem Leder, Haut, die man als Beobachter oder als Besitzer eines Ohrenvogelpärchens weithin überblicken kann, weil sie vollkommen nackt sind, abgesehen von ihren Flügeln, dort existieren Federn, so feine Federn, dass man sie, wüsste man es nicht besser, für Pelz halten könnte, Federpelze in Gelb und Rot und Blau, kräftige Farben, die eigenartigste Muster bilden, so individuell wie die Fingerabdrücke an den Händen menschlicher Wesen. Ohrenvögel sind von eher kleiner Gestalt, sind etwa so groß wie ein Fingerhut, und verfügen über Schnabelattrappen, die den Schnäbeln der Kolibris ähnlich sind. Überhaupt wird man sich als Betrachter der Ohrenvögel oft an genau diese Gattung kleinster Luftwesen erinnert fühlen. Das sehr Besondere an ihrer Existenz ist jedoch, dass sie den Körpern jener Menschen, die sie bewohnen, eng verbunden sind. Genauer gesagt, würden sie ohne diese Verbindung überhaupt nicht existieren, eine blaue, zarte Nabelschnur, so fein wie ein Faden Zwirn schließt sie an die Ohren der Menschen an, je ein Vogel links und ein Vogel rechts des Halses. Blut fließt von da nach dort, weswegen Ohrenvögel weder trinken noch essen, also auch nicht jagen oder sammeln. Man könnte vielleicht sagen, dass sie nur zum Vergnügen leben, zur Zierde und Freude auch jener Menschen, die sie begleiten. Wenn sie nicht Stunde um Stunde unter den Ohren ihrer Besitzer schaukeln und schlafen, fliegen sie sehr gern in der näheren Umgebung herum. Weit kommen sie selbstverständlich nicht, aber weit genug immerhin, um einander begegnen zu können, der eine Vogel zu Besuch auf der Halsseite des anderen, man sitzt dann gemeinsam auf einer Schulter und schaut auf die große Welt hinaus. Oder man trifft sich heimlich hoch oben auf dem Kopf des bewohnten Menschen, eine vertraute Welt, zur gegenseitigen Pflege und zum Gespräch. Ihre Stimmen sind so hell, dass menschliche Ohren nicht in der Lage sind, sie zu vernehmen. Nichts weiter. – stop
kühle augen
nordpol : 6.32 — Gestern am späten Abend wohnte ich via Internet einer Hinrichtung bei. Fünf Männer wurden erschossen, und zwar in Aleppo auf offener Straße. Es waren Rebellen, die das Feuer auf Gefangene eröffneten. Sie riefen: Gott ist groß! Gott ist groß! Als die Personen, es sollen Angehörige einer berüchtigten, mordenden und folternden, regierungstreuen Miliz gewesen sein, längst tot gewesen waren, wurde noch immer auf sie geschossen, als wollte man die Körper vor der Hauswand zu Staub zerlegen, den der Wind mit sich forttragen könnte. Rechts neben dem gerade erwähnten Filmdokument von zwei Minuten Länge, war die Existenz weiterer Filme in Vorschau zu sehen, darunter der Bericht eines nordamerikanischen Fernsehsenders über die chirurgische Rekonstruktion eines schwer verletzten Gesichtes. Ein Kannibale hatte im Staate Louisiana Nase, Mund und Augen eines Mannes verspeist. Der arme Mann war kurz darauf noch am Leben gewesen und wurde nun von zwei Schwestern behutsam über den Flur eines Krankenhauses geführt. Auch diesen Film habe ich mit kühlen Augen betrachtet. Dann war Mitternacht vorüber und ich spazierte ein wenig durchs Viertel. Katzen waren unterwegs, die mit ihren Scheinwerfern nach mir leuchteten. Im Park um die Ecke wurden Feigen und Datteln gebraten. Ein süßer, milder Nebelduft hing in der Luft. Ich saß eine halbe Stunde auf einer Bank und beobachtete Bäume, ob sie vielleicht nachtwärts arbeiten, der ein oder andere. – stop