delta : 2.15 — Vor wenigen Minuten erreicht mich eine E‑Mail. Ein Freund notiert, er habe von der kanadischen Firma Metromelt Inc. vor langer Zeit bereits einen Auftrag erhalten, der sehr anspruchsvoll sei. Es ginge darum, eine Vorrichtung zu konstruieren, die in der Lage sei, Information der Wetterdienste so zu bearbeiten, dass sie mittels eines speziellen Funkgerätes in die Gehirne schlafender Mitarbeiter gesendet werden könnten. Diese Mitarbeiter seien zuständig für die Alarmierung zahlreicher Schneeräumkolonnen in den Provinzen British Columbia sowie Manitoba. Insbesondere sei es notwendig, Messfühler, die der Konzern in den betroffenen Gebieten installiert habe, auszulesen und zu analysieren, um zu einem definierten Zeitpunkt, Träume von Schnee in den Schlafkammern der Angestellten des Unternehmens zu erzeugen, sodass sie, einem Reflex folgend, inmitten der Nacht unverzüglich erwachen und zu ihren Telefonen greifen würden. Mein Freund berichtete, er habe seinen Auftraggebern angeboten, ein System zu formulieren, das geeignet sei, im Falle von Schnee, Glockenwerke in Betrieb zu setzen, die jeden, der Schnee räumenden Angestellten unmittelbar und rechtzeitig wecken würden. Diesen seinen Vorschlag habe man abgelehnt. Nun wüsste er nicht weiter, er trage seit Wochen ein ungutes Gefühl mit sich herum. – Zwei Stunden nach Mitternacht. 3° Celsius Außentemperatur. Erste Gedanken. — stop
Aus der Wörtersammlung: punkt
prada
tango : 5.16 — Die Handtasche, der ich mich in der vergangenen Nacht eingehend widmete, ist rot und weiß und von feinstem Leder. Zwei Fächer sind in ihrem schmalen Bauch zu finden, die man mit Druckknöpfen verschließen kann. In diesem Moment steht die Tasche auf vier metallenen Füßchen vor mir auf dem Schreibtisch, Schulterriemen, Tragehenkel, Außenfächer, ein wirklich ansehnliches Exemplar, das glänzt und leicht ist. Die Tasche wiegt in nicht befülltem Zustand gerade einmal 400 Gramm, so leicht ist diese Tasche, ganz erstaunlich. Nun habe ich Folgendes unternommen, ich habe zunächst in sorgfältigster Weise einen prächtigen Hautballon gefaltet und in das linke Seitenfach der Leichthandtasche abgelegt. Es handelt sich um ein filigranes, flugfähiges Naturprodukt, welches aus der Schwimmblase eines Mondfisches gefertigt wurde. Ein feiner Schlauch, nicht sichtbar auf den ersten Blick, führt vom Hals des Ballons wiederum zu einem Siphon, in dem sich Helium befindet. Ich habe ihn, nach längerer Überlegung, auf der gegenüberliegenden Seite, im zweiten Außenfach der Tasche untergebracht. Er verfügt über ein Ventil, welches unkontrolliertes Ausströmen des Gases verhindert, über einen Verschluss also, der mit einer sanften Fingerbewegung jederzeit geöffnet werden könnte, sodass das Gas im Bruchteil einer Sekunde in den Ballon schießen, das Futteral des Ballons öffnen und die Handtasche mit Auftrieb ergreifen würde. Sollte ich zu diesem Zeitpunkt das Ventil der Tasche öffnen, endete ihr Flug an der Decke meines Zimmers. — Kurz vor fünf Uhr am Morgen. Schon zu spät, um inmitten der Stadt heimlich einen Freiluftversuch unternehmen zu können. Noch etwas schlafen darum, dann eine Spindel mit äußerst feinem, aber zugfestem Faden in der Länge von 100 Metern an der Tasche befestigen, dann wieder Nacht. — stop
hirnhummeltee
~ : malcolm
to : louis
subject : HIRNHUMMELTEE
date : oct 8 13 6.11 p.m.
Am achten September, es war ein Sonntag gewesen, ein warmer, freundlicher Tag, erreichte Frankie Battery Park. Er hielt sich nicht lange auf unter den Bäumen, die sich bereits herbstlich färbten, folgte der Küstenlinie, um zwei Stunden später das Schiffsterminal South Ferry zu erreichen. Bis dahin hatten wir vermutet, Frankie sei ein scheues, ein menschenscheues Tier, doch gegen den Abend zu in der Dämmerung, wagte sich das Eichhörnchen in den zentralen Saal des Gebäudes, in welchem hunderte Passagiere auf das nächste Schiff nach Staten Island warteten. Allison warnte als Erste mittels eines Funkspruches, Frankie könnte vielleicht eines der Fährschiffe entern. Und genauso war es gekommen, das kleine, muskulöse Tier hastete lautlos über den blitzblanken Boden des Terminals, duckte sich unter Sitzbänken, verbarg sich in den Schatten des Abends, um von den Hunden der Küstenwache unbemerkt, nur von einigen Kindern staunend betrachtet, über den Steg an Bord der John F. Kennedy zu huschen. Hier befinden wir uns zu diesem Zeitpunkt. Es ist wieder Abend geworden, der dreißigste Tag, an dem Frankie auf dem Fährschiff über die Upperbay pendelte, neigt sich dem Ende zu. Am Horizont, im Westen, leuchten die Hafenkräne New Jerseys, sie blinken, mächtige Eisenvögel. Auf der Promenade spazieren Menschen mit Fotoapparaten. Es ist ein schöner Spätsommerabend. Seit vielen Stunden rollt ein Ball von einer Seite des Schiffes zur anderen. Ich werde müde, indem ich ihm mit den Augen folge. Niemand scheint sich an seiner Bewegung zu stören, es ist so, als würde der Ball zum Schiff gehören, als würde er schon seit vielen Jahren über das Hurrikanedeck rollen. Frankie schläft. Er ruht in einer Rettungsweste, die unter einer Sitzbank baumelt. Die Weste schaukelt im leichten Seegang hin und her. — Ihr Malcolm / codewort : hirnhummeltee
empfangen am
8.10.2013
1871 zeichen
versuch über nachtsprache
romeo : 22.58 — Vor einem meiner Fenster in der Höhe ist heute Abend eine kleine Spinne aufgetaucht, ein Jäger auf dem Fensterbrett, schnell, geschmeidig, gestreifter Pelz, Augen so klein, dass ich sie nicht sehen kann. Mit diesen Augen, die ich nicht sehen kann, beobachtete mich die Spinne vermutlich, während ich in ihrer Nähe am Fenster stand und Sätze wiederholte, die derart verknotet waren, dass ich sie kaum aussprechen konnte. Die Spinne bewegte sich nicht, und ich dachte, vielleicht hörte sie mir zu, hört, was N., die seit zwölf Jahren als Sachbearbeiterin in der Nähe eines Flughafens arbeitet, erzählte, warum nämlich die Begrüßung in der Nacht unter Nachtarbeitern eine seltsame Angelegenheit sein kann. N’s Aussage zur Folge soll es jeweils nach Mitternacht zu Schwierigkeiten deshalb kommen, weil man bis zur Mitternachtsstunde noch einen guten Abend wünschen könne, indessen eine Person, der man im Aufzug begegne, in den ersten Minuten eines neuen Tages bereits mit einem fröhlichen guten Morgen zu begrüßen sei, obwohl doch der nächste Morgen mit Licht oder Aussicht auf Feierabend zu diesem Zeitpunkt noch viele Stunden weit entfernt sein müsste. Ein eigentümliches Gefühl, sagte N., das dieser vorauseilende Morgen inmitten der Nacht noch nach Jahren in ihr erzeuge. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass inmitten der Nacht die Nacht selbst in einer Begrüßungsformel nicht angesprochen werden kann, weil die Formulierung Gute Nacht im allgemeinen Abschied bedeutet unter Menschen, die zur üblichen Wachzeit existieren, obwohl man doch im Moment des Abschiedes vielleicht gerade Stirn an Stirn in einem Bett liegt, man macht die Augen zu und schläft, sofern man glücklich und zufrieden ist. Zwei Schlafende. Es ist so, als wären sie beide verreist, als wären sie beide nicht anwesend, nicht erreichbar, auch nicht für sich selbst, weil ein Schlafender niemals zuverlässig in der Lage sein wird, sich persönlich zu wecken, ohne vorbeugend externes Glockenwerk programmiert zu haben. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte. — stop
bumerang
echo : 2.25 — Wenige Minuten nach Mitternacht landete ein Marienkäfer auf meiner linken Wange. Ich kann nicht entscheiden, ob das ein Zufall gewesen war oder nicht. Indem ich das rechte Auge schloss, aber mit dem linken Auge so weit wie möglich nach unten sah, konnte ich die halbkugelförmige Wölbung seines Rückens erkennen. Und ich spürte eine leichte Bewegung, der Käfer schien mich zu betasten. Natürlich überlegte ich sofort, ob es sich bei diesem Käfer nicht um ein ferngesteuertes Wesen handeln könnte, das mich besuchte, um Proben von meiner Körperoberfläche aufzunehmen. Nach einigen Minuten veränderte der Käfer seine Position, er ging zu Fuß, kletterte an mir herab, saß für einige Minuten an meinem Hals, dort konnte ich ihn weder sehen noch spüren, um kurze Zeit später auf meinem Hemd zu erscheinen, wo er sich sehr wohlgefühlt haben mochte, weil er dort eine gute Stunde seiner Lebenszeit verbrachte. Vielleicht hatte der Käfer geschlafen, oder sich von Strapazen erholt, die mir unbekannt. In diesem Moment nun, da ich meinen Text notiere, sitzt der in Wörtern vermerkte Käfer am linken unteren Rand des Bildschirmes meiner Schreibmaschine. Er presst sich fest an das Gehäuse. Weitere Käfer sitzen an den Wänden, es sind ein gutes Dutzend, auch Käfer mit gelbem Gehäuse sind darunter. Gestern habe ich beobachtet, dass gelbe Käfer mit vierundzwanzig Punkten, wenn ich sie behutsam in eine meiner Hände setze und in die Dunkelheit werfe, sofort wieder zurückkommen. Man könnte sagen, dass es sich bei dieser Art um Bumerangkäfer handeln könnte. — stop
lunar caustic
sierra : 22.02 — Wie ich an diesem schönen warmen Sonntagabend aus dem Fenster sehe, entdeckte ich eine Eidechse, die sich bis zu mir hinauf unter das Dach vorgearbeitet hatte. Sie saß nur eine Armlänge entfernt, gelbe Augen, blaugrün schillernde Haut und beobachtete mich natürlich. Ich konnte nicht entscheiden, ob sie mich nun mit den Augen oder mit ihrer nervösen Zunge präziser zu erfassen vermochte. Ich schien ihr nicht verdächtig gewesen zu sein, das schlanke Tier flüchtete nicht. Im Gegenteil, die Eidechse kam noch näher heran, kauerte bald auf dem Fensterbrett, das warm von der Sonne war, und schaute wie ich gegen den Himmel. Es war ein schöner Himmel voll bauschiger Wolken, die sich kaum bewegten. Nach einer Viertelstunde zog ich mich vorsichtig vom Fenster zurück, hoffte, die Eidechse würde in mein Zimmer kommen, würde einige Wochen Lebenszeit bei mir verbringen, über die Wände meiner Wohnung huschen, Fliegen und Falter jagen, die meine Räume in großer Zahl bewohnen. Es ist jetzt 22 Uhr. Bislang ist am Fenster noch nichts geschehen. Ich wüsste gerne, ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll wäre, das kleine Tier mit etwas Fleisch oder Musik anzulocken, Strawinsky, zum Beispiel, oder Coltrane. Ja, dieser Abend ist ein sehr angenehmer Abend. Endlich ist es mir gelungen, für Mr. Oe Som eine Liste von Büchern zu erstellen, die unbedingt in die Sphäre wasserfester Lektüren transkribiert werden sollten. Ich habe folgende Auswahl übermittelt: Alice Munro Collected Stories . Louis Begley Novels . Max Frisch Montauk . Don DeLillo The Body Artist . James Salter Collected Srories . Jeffrey Eugenidis Middkesex . Bruce Chatwin The Songlines . Conrad Aiken Strange Moonlight . Samuel Beckett Krapps Last Tape . Italo Calvino Der Baron auf den Bäumen . Elias Canetti Die Stimmen von Marrakesch . Jürg Federspiel Die Ballade von der Typhoid Mary . Albert Sanchez Pinol Im Rausch der Stille . John Steinbeck Travels with Charley . José Saramago Kleine Erinnerungen . H.G.Wells The Island of Dr. Moreau . Paul Auster Red Notebook . Charles Simmons Salt Water . Jack Kerouac Book of Dreams . Malcolm Lowry Lunar Caustic . Patricia Highsmith Stories . Natalie Sarraute Kindheit . Herta Müller Herztier . Lutz Seiler Die Zeitwaage — stop
ai : USA
MENSCH IN GEFAHR : “Warren Hill soll am 15. Juli im US-Bundesstaat Georgia hingerichtet werden. Die sieben ExpertInnen, die ihn untersucht haben, sagen inzwischen alle, dass er “geistig behindert” ist. In diesem Fall würde eine Hinrichtung gegen die US-amerikanische Verfassung verstoßen. Seine Rechtsbeistände haben sich an den Obersten Gerichtshof der USA gewandt, damit er eingreift. / Im Jahr 2002 befand ein Richter des Bundesstaates Georgia, dass Warren Hill tatsächlich “deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Fähig¬keiten” aufweise, aber dass nicht zweifelsfrei “Defizite im adaptiven Verhalten” nachzuweisen seien. Warren Hill war 1991 wegen des 1990 begangenen Mordes an seinem Mithäftling Joseph Handspike zum Tode verurteilt worden. Im Jahr 1988 hat das Parlament des Bundesstaates Georgia ein Gesetz verabschiedet, das die Verhängung der Todesstrafe gegen jede Person untersagt, bei der “ohne berechtigten Zweifel” eine “geistigen Behinderung” festgestellt wurde. Das Gesetz definiert diese Behinderung als “deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten”, die zu “Defiziten im adaptiven Verhalten” führen, die sich “in der Entwicklungsphase manifestierten”. / Der Oberste Gerichtshof der USA (US Supreme Court) befand in der Grundsatzentscheidung “Atkins gegen Virginia”, dass die Hinrichtung von geistig behinderten Menschen gegen die US-Verfassung verstoße. Die Rechts¬beistände von Warren Hill baten auf Grundlage dieser Entscheidung um erneute Prüfung ihrer vorherigen Rechtsmit¬tel. Diesmal entschied das zuständige Gericht, dass “das Überwiegen der Beweise” ausreiche um festzustellen, dass Warren Hill an einer geistigen Behinderung leidet. Das strengere Kriterium “ohne berechtigte Zweifel” müsse nicht erfüllt sein. Auf der Grundlage dieser Beurteilung kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Beeinträchtigung von Warren Hill einer geistigen Behinderung gleichkäme. Die Behörden von Georgia legten dagegen jedoch Rechtsmittel beim Obersten Gericht des Bundesstaates ein, das 2003 mit vier zu drei Stimmen entschied, in diesem Kontext sei das Kriterium “ohne berechtigten Zweifel” anzulegen. Der Fall wurde dann an die Bundesgerichte verwiesen, und 2011 entschied ein Bundesberufungsgericht (Court of Appeals for the 11th Circuit) mit sieben zu vier Stimmen, dass selbst wenn der Bundesstaat in seiner Gesetzgebung nicht für einen angemessenen Ausgleich gesorgt hat, das US-Bundesgericht aufgrund von US-Recht nicht befugt sei einzu¬schreiten, auch wenn es die Entscheidung des bundesstaatlichen Gerichts “für nicht korrekt oder unüberlegt” erachte. / Im Februar 2013 stoppte das Bundesberufungsgericht des 11. Bezirks die Hinrichtung von Warren Hill. Zu diesem Zeitpunkt waren alle an dem Fall beteiligten ExpertInnen zu dem Schluss gekommen, dass Warren Hill an einer “geistigen Behinderung” leidet. Am 22. April jedoch wies das dreiköpfige Richtergremium das neue Rechtsmittel von Warren Hill mit der Begründung zurück, das Gericht sei den strengen Beschränkungen unterworfen, die das “Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und zur effektiven Durchsetzung der Todesstrafe” (Anti-Terrorism and Effective Death Penalty Act — AEDPA) aus dem Jahr 1996 bei aufeinanderfolgenden Rechtsmitteln anwende. Eine Richterin des Gremiums widersprach dieser Auffassung jedoch und erklärte, “ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz kann nicht angewendet werden, um das in der Verfassung festgeschriebene Recht von Warren Hill, nicht hingerichtet zu werden, außer Kraft zu setzen”. Die Richterin schrieb: “… der Bundesstaat Georgia wird einen geistig behinderten Mann hinrichten. Denn alle sieben ExpertInnen, die Warren Hill jemals untersucht haben, sowohl die vom Bundesstaat bestellten als auch die von Warren Hill beauftragen ExpertInnen, sind inzwischen zu der übereinstimmenden Auffassung gelangt, dass er geistig behindert ist.” / Die Rechtsbeistände von Warren Hill bitten den Obersten Gerichtshof der USA, die Hinrichtung zu stoppen. Der Gerichtshof hatte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes AEDPA 1996 bestätigt und erklärt, das Gesetz habe nicht die Befugnis des Gerichtshofs aufgehoben, sich direkt mit Originalanträgen (original habeas petitions) zu befassen, d.h. unter außergewöhnlichen Umständen kann sich der Gerichtshof mit einem ihm direkt vorgetragenen Fall befassen, ohne dass der Fall nach einem Berufungsverfahren vor einem anderen Gericht an den Gerichtshof weiterverwiesen wurde. Mehrere JuraprofesssorInnen in den USA haben sich in einem Schreiben an den Gerichtshof gewandt und sich dafür ausgesprochen, dass der Gerichtshof sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschließen sollte.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 15. Juli 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
sieben punkte
himalaya : 5.06 — Draußen, vor wenigen Stunden noch, rauschte Wasser vom Himmel. Aber jetzt ist es still. Es ist eine tatsächlich nahezu geräuschlose Nacht. Die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren, kein Wind, deshalb auch die Bäume still und die Vögel, alle Menschen im Haus unter mir scheinen zu schlafen. Für einen Moment dachte ich, dass ich vielleicht wieder einmal mein Gehör verloren haben könnte, ich sagte zur Sicherheit ein Wort, das ich gestern entdeckte: Kaprunbiber. Das Wort war gut zu hören gewesen, meine Stimme klang wie immer. Aber auf dem Fensterbrett hockt jetzt ein Marienkäfer, einer mit gelbem Panzer, sieben Punkte, ich habe nicht bemerkt, wie er ins Zimmer geflogen war. Es ist nicht der erste Käfer dieses Jahres, aber einer, den ich mit ganz anderen Augen betrachte. Ich hatte für eine Sekunde die Idee, dieser Käfer könnte vielleicht ein künstlicher Käfer sein, einer, der mich mit dem Vorsatz besuchte, Fotografien meiner Wohnung aufzunehmen, oder Gespräche, die ich mit mir selbst führe, während ich arbeite. Warum nicht auch ich, dachte ich, ein Ziel. Ich nahm den Käfer, der seine Gehwerkzeuge unverzüglich eng an seinen Körper legte, in meine Hände und transportierte ihn in die Küche, wo ich ihn in das grelle Licht einer Tischlampe legte. Wie ich ihn betrachtete, bemerkte ich zunächst, dass ich nicht erkennen konnte, ob der Käfer in der künstlichen Helligkeit seine Augen geschlossen hatte. Weder Herzschlag noch Atmung war zu erkennen, auch nicht unter einer Lupe, nicht die geringste Bewegung, aber ich fühlte mich von dem Käfer selbst beobachtet. Also drehte ich den Käfer auf den Rücken und suchte nach einem Zugang, nach einem Schräubchen da oder dort, einer Kerbe, in welche ich ein Messerwerkzeug einführen könnte, um den Panzer vom Käfer zu heben. Man stelle sich einmal vor, ein sehr kleiner Motor wäre dort zu finden, Mikrofone, Sender, Linsen, es wäre eine ungeheure Entdeckung. Gegenwärtig zögere ich noch, den ersten Schnitt zu setzten, es regnet wieder, jawohl, ich werde am besten zunächst noch ein wenig den Regen beobachten, es ist kurz nach drei. – stop
vor den mangroven
delta : 2.25 — Es darf nicht sein, dass Leute einem den Film kaputt machen. Manchen habe ich schon das Essen aus der Hand gerissen und weggeworfen. Man muss sie verprügeln oder bedrohen, sonst ist der Film verdorben, man hat das Recht sie umzubringen, damit sie aufhören. Aber Mord ist keine sehr gute Lösung, nachher wird man noch verhaftet, bevor der Film zu Ende ist. Als ich die „Lady von Shanghai“ das letzte Mal gesehen habe, wollte ich nicht einfach nur mit Rita Hayworth schlafen: Ich wollte Sex mit ihr in Schwarzweiß! Vielleicht könnte man das mit Kontaktlinsen oder einer Brille hinkriegen, die alles in Monochrom verwandelt. Das ist eine seltsame Sache, dass ihre Lippen nicht rot sind. Und das liegt nicht am Lippenstift. Ihr Mund hat diese besondere Farbe, weil er in diesem silbrigen Schwarzweiß gefilmt worden ist. Sie ist ein Fetischobjekt, nicht nur, weil sie so schön ist, sondern weil Welles’ Kamera sie fotografiert hat. Deshalb möchte man nicht nur einfach Sex mit Rita Hayworth, man möchte genau mit dieser Figur aus dem Film schlafen. Der Grund, warum ich sexuell total verkümmert bin, liegt in meinem Scheitern, den filmischen Vorbildern gerecht zu werden. Im echten Leben spielt sich Sex niemals in Schwarzweiß ab. — Diese kleine Geschichte, die eigentlich aus zwei Geschichten besteht, erzählte Jack Angstreich gerade noch in dem wundervollen Film Cinemania von Angela Christlieb und Stephen Kijak, einer Dokumentation, die von dem Leben leidenschaftlicher Kinogänger in New York berichtet. — 2:15 Uhr. Regen nach wie vor, kühler, hellgrauer Herbstregen. Es könnte sein, dass dieser Regen nie wieder aufhören wird. In einigen tausend Jahren bald bewegten sich amphibische Eichhörnchen vor meinem Fenster durchs Mangrovengebiet. Ebenso denkbar ist, dass ich zu diesem Zeitpunkt über zugespitzte Fingerbeeren verfügen werde, geeignet, jede der filigranen Tastaturen moderner Telefonapparate fehlerfrei und gelassen bespielen zu können. — stop
ai : KOLUMBIEN
MENSCH IN GEFAHR : „Das Haus des indigenen Menschenrechtsverteidigers Pedro Manuel Loperena im Nordosten Kolumbiens wurde am 11. Mai von einer Granate getroffen. / Am 11. Mai warfen zwei unbekannte Motorradfahrer eine Granate auf das Haus von Pedro Manuel Loperena im Bezirk Don Carmelo in Valledupar, der Hauptstadt des Departamento Cesar. / Pedro Manuel Loperena ist Koordinator der Menschenrechtskommission der Indigenenvereinigung Organización Wiwa Yugumaiun Bunkuanarrua Tayrona (OWYBT), die das indigene Volk der Wiwa vertritt, welches in der Bergkette der Sierra Nevada de Santa Marta lebt. Die Menschenrechtskommission setzt sich seit einiger Zeit in mehreren Fällen für Gerechtigkeit ein, bei denen es um die Verletzung der Menschenrechte geht, wie z. B. im Fall der außergerichtlichen Hinrichtung von elf Angehörigen der Gemeinschaft der Wiwa durch Sicherheitskräfte zwischen dem 15. Februar 2005 und dem 3. August 2006 sowie in anderen Fällen, in denen auf der einen Seite Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs, auf der anderen Seite Guerillaeinheiten Menschenrechtsverstöße begangen haben. Die Menschenrechtskommission kämpft zudem gegen zahlreiche Bergbau‑, Infrastruktur- und Tourismusprojekte im Gebiet der Sierra Nevada, da das Volk der Wiwa der Ansicht ist, diese Projekte würden ihre Nahrungsmittelversorgung einschränken, ihre traditionelle Lebensweise beeinträchtigen und somit ihr Überleben gefährden. Pedro Manuel Loperena hat sich zudem öffentlich gegen das anhaltende Operieren von illegalen bewaffneten Gruppen im Lebensraum der Wiwa ausgesprochen. / Zum Zeitpunkt des Granatenanschlags auf das Haus von Pedro Manuel Loperena befanden sich zudem seine Frau, die im Büro des Menschenrechtsbeauftragten (Defensoría del Pueblo) als Vertreterin der Gemeinschaft tätig ist, sowie seine vier Kinder (sieben, zehn, 18 und 19 Jahre alt) im Haus. Niemand von ihnen kam bei der Explosion zu Schaden. / Im Februar wählte die Gemeinschaft der Wiwa neue GemeindesprecherInnen. Das kolumbianische Innenministerium hat sich bislang geweigert, die neuen SprecherInnen anzuerkennen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 27. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action