echo : 5.55 — Im vergangenen November verlegte ich eine Nachricht, die mir per E‑Mail zugestellt worden war. Vermutlich hatte ich ihre Existenz bereits nach wenigen Stunden vergessen, sodass ihr Sender vergeblich auf eine Antwort wartete. Heute Nacht habe ich sie glücklicherweise wieder entdeckt. Es war damals etwas Bedeutendes geschehen. L. hatte ein Notebook geschenkt bekommen, das erste Notebook seines Lebens. Es war kein neues, es war ein gebrauchtes Gerät, aber noch in einem guten Zustand, kaum ein Kratzer am silbergrauen Gehäuse, seine Tasten funktionierten tadellos, und die Programme des Betriebssystems waren hervorragend sortiert. Ein ernstes Problem stellte allerdings eine Buchstabenmaschine dar, präzise die Korrekturroutine eines Textverarbeitungsprogramms, welches vom Vorbesitzer des Notebooks jahrelang intensiv verwendet worden sein musste. Das kleine Zusatzprogramm konnte nicht ausgeschalt werden, was angenehm gewesen wäre. Zahlreiche fehlerhafte Wörter waren in seine tiefen Speicher gewandert, und so webte das Programm, während L. mit seiner Hilfe notierte, Vorschläge in gerade eben entstehende Texte, beispielsweise anstatt des Wortes Kolibri das Wort Kollibry, was schließlich zu äußerst erstaunlichen Befunden führte. L. glaubte bald, sehr ernsthaft krank geworden zu sein. Er bat mich um Unterstützung, er wolle den Speicher der Wortmissbildungen unverzüglich ausradieren. – Es ist kurz vor drei Uhr. Vermutlich komme ich mit meinen Hinweisen viel zu spät, das ist denkbar, sogar wahrscheinlich, dass ich viel zu spät sein werde. Machen wir uns trotzdem sofort auf die Suche nach einer Lösung. Gewitterstimmung vor den Fenstern, Fliegen, Blitze, aber kein Donner, vielleicht eine Art Wetterleuchten, grandiose, aus dem Himmel stürzende Bäume von Licht. – stop
Aus der Wörtersammlung: notebook
quallenhautkoffer
ulysses : 3.25 — Ein blauer italienischer Himmel und Wärme, Hitze. Mitte Mai. Über den Sandboden schaukeln müde Eidechsen, zwei Enten sitzen auf einer Parkbank in unserer Nähe im Park. Als wir telefonierten, erinnert sie mich daran, dass sie in einer Grenzsituation lebe. Ich vergesse immer wieder ihr Alter. Sie sei bald vollständig belichtet, reise aber noch viel herum, Koffer werden ihr getragen, mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, Notizbüchern, einem Notebook. Das Notebook ruht in diesem Moment auf ihren Knien. Sie sucht in der digitalen Sphäre einen Text, an den ich mich erinnern kann. Sie liest mir vor, und ich notiere vom Quallenzimmer. Sie will das Zimmer von meiner Hand in ihrem Notizbuch haben. Ich schreibe langsam. Im Notizbuch finden sich zahlreiche weitere Handschriften, die nicht ihre Handschriften sind. Sie scheint Geschichten zu sammeln, oder Augenblicke des Schreibens. Ich höre meine eigene Geschichte, eine Entdeckung meiner Hände, die von einem freundlichen, hellen Raum erzählen, einem Zimmer von feinster Quallenhaut, einem Zimmer von Wasser, einem Zimmer von Salz, einem Zimmer von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Man sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt eine Tasse Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass man ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das man jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. — stop
ferdinands letztes ende
sierra : 5.52 — Vom Ferdinand habe ich lange Zeit nichts gehört. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war ich überzeugt gewesen, dass er gefährlich geworden war, verrückt, er brüllte herum, sobald er bemerkte, dass man ihm nicht länger zuhören wollte. Kurz darauf plötzlich Stille. Kein Anruf, niemand hatte ihn gesehen, niemand erwähnte seinen Namen, ich traf ihn niemals auf der Straße, nicht im Kino, nicht in den Cafés, nicht im Theater, als wär er eine Erfindung gewesen. Wenn ich an ihn dachte, sagte ich leise, gut so, vielleicht bist du tatsächlich nicht länger hier. Bei dem Gedanken aber, dass er überhaupt aufgehört haben könnte zu existieren, hatte ich ein eigenartiges Gefühl, als ob ich etwas versäumte, noch einmal ein Gespräch, ein oder zwei Fragen, ein Spaziergang ohne zu sprechen, eine Korrektur. Deshalb doch leise Freude, als er anrief, fragte, ob er mich treffen könne. Fünf Jahre, wie die Zeit vergeht, wie siehst du denn aus, kennen wir uns noch? Ich sagte, dass ich mich vermutlich kaum verändert haben würde, und sofort erwiderte er, dass auch er sich kaum verändert habe, dass er noch immer derselbe sei, ein paar neue Zellen, sonst aber derselbe. Also habe ich mich gefreut, dass Ferdinand noch lebte, obwohl wir uns nicht wiedersehen werden, weil er immer noch derselbe ist, weil er unverzüglich losbrüllte am Telefon, als ich von ihm wissen wollte, ob er noch immer gern betrunken sei. Er brüllte also, dann legte er auf. Das war so, als ob er in diesem Moment aufhörte zu atmen, Ruhe, Frieden, ein stillstehendes Herz. — Späte Nacht. Sitze auf einem Stuhl am Fenster und lese im neuen Salterroman. Habe das Buch in zweifacher Ausgabe, einerseits einen schweren Körper, in dem ich blättern kann, anderseits einen derart leichten elektrischen Körper, dass mein Notebook kein Gramm schwerer wurde, als der Roman durch die Leitung zu mir gesendet wurde. All night in darkness the water sped past. — stop
unter salzbäumen
tango : 2.02 — Im Traum sitze ich mit einem alten Mann an einem Tisch. Große Hitze auch im Schatten, den Salzbäume spenden. Wir trinken Kaffee und Wasser, das süß ist wie Honig. Der alte Mann trägt kakifarbene Shorts, seine Haut ist dunkel, gebrannt wie Kaffee, hellgrüne Augen. Eine Erscheinung, zahnlos, die nicht spricht, Haut und Knochen, aber ein Wesen von enormer Ausdauer. Ich höre, der alte Mann soll seit Jahren bereits vor diesem Tisch sitzen, ohne je aufgestanden zu sein. Papiere liegen auf dem Tisch und auf dem Boden. Sie sind beschriftet, kaum leserliche Zeichen. Vor dem Mann ruht ein kleines, schwer atmendes Notebook. Einmal blickt er auf den Bildschirm seiner Maschine, dann wieder auf ein Blatt Papier, das vor ihm liegt, und schreibt. Ameisen von Metall irren im Sand herum. Es gibt keinen Ton im Traum, wenn ich spreche, vernehme ich weder Gedanken noch Stimme. – stop
lunar caustic
sierra : 22.02 — Wie ich an diesem schönen warmen Sonntagabend aus dem Fenster sehe, entdeckte ich eine Eidechse, die sich bis zu mir hinauf unter das Dach vorgearbeitet hatte. Sie saß nur eine Armlänge entfernt, gelbe Augen, blaugrün schillernde Haut und beobachtete mich natürlich. Ich konnte nicht entscheiden, ob sie mich nun mit den Augen oder mit ihrer nervösen Zunge präziser zu erfassen vermochte. Ich schien ihr nicht verdächtig gewesen zu sein, das schlanke Tier flüchtete nicht. Im Gegenteil, die Eidechse kam noch näher heran, kauerte bald auf dem Fensterbrett, das warm von der Sonne war, und schaute wie ich gegen den Himmel. Es war ein schöner Himmel voll bauschiger Wolken, die sich kaum bewegten. Nach einer Viertelstunde zog ich mich vorsichtig vom Fenster zurück, hoffte, die Eidechse würde in mein Zimmer kommen, würde einige Wochen Lebenszeit bei mir verbringen, über die Wände meiner Wohnung huschen, Fliegen und Falter jagen, die meine Räume in großer Zahl bewohnen. Es ist jetzt 22 Uhr. Bislang ist am Fenster noch nichts geschehen. Ich wüsste gerne, ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll wäre, das kleine Tier mit etwas Fleisch oder Musik anzulocken, Strawinsky, zum Beispiel, oder Coltrane. Ja, dieser Abend ist ein sehr angenehmer Abend. Endlich ist es mir gelungen, für Mr. Oe Som eine Liste von Büchern zu erstellen, die unbedingt in die Sphäre wasserfester Lektüren transkribiert werden sollten. Ich habe folgende Auswahl übermittelt: Alice Munro Collected Stories . Louis Begley Novels . Max Frisch Montauk . Don DeLillo The Body Artist . James Salter Collected Srories . Jeffrey Eugenidis Middkesex . Bruce Chatwin The Songlines . Conrad Aiken Strange Moonlight . Samuel Beckett Krapps Last Tape . Italo Calvino Der Baron auf den Bäumen . Elias Canetti Die Stimmen von Marrakesch . Jürg Federspiel Die Ballade von der Typhoid Mary . Albert Sanchez Pinol Im Rausch der Stille . John Steinbeck Travels with Charley . José Saramago Kleine Erinnerungen . H.G.Wells The Island of Dr. Moreau . Paul Auster Red Notebook . Charles Simmons Salt Water . Jack Kerouac Book of Dreams . Malcolm Lowry Lunar Caustic . Patricia Highsmith Stories . Natalie Sarraute Kindheit . Herta Müller Herztier . Lutz Seiler Die Zeitwaage — stop
zerstreuung
marimaba : 6.36 — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. Früher einmal, sobald ich spazieren ging oder auf eine Reise, zur Arbeit, ins Theater oder sonst wohin, verließ ich niemals das Haus, ohne eines meiner zerschlissenen Unterwegsbücher mit mir zu nehmen. Wenn ich einmal doch kein Buch in der Hand oder Hosentasche bei mir hatte, sofort das Gefühl, unbekleidet oder von Leere umgeben zu sein. Als ob ich einen immerwährenden Ausweg in meiner Nähe wissen wollte, ein Zimmer von Wörtern, in das ich mich jederzeit, manchmal nur für Minuten, zurückziehen konnte, um fest zu werden. Da waren also Bücher von Malcolm Lowry, Kenzaburo Oe, Truman Capote, Friederike Mayröcker, Walter Benjamin, Janet Frame, Georg C. Lichtenberg, Heinrich von Kleist, Monika Maron, Alexander Kluge, Bohoumil Hrabal, Johann Peter Hebel, Patricia Highsmith, Elias Canetti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger. Irgendwann, weiß der Teufel warum, hörte ich auf damit. Und doch trage ich noch immer ein Buch in meiner Nähe. Ich trage meine Straßenbücher nicht länger in der Hand, ich trage meine Straßenbücher im Rucksack auf dem Rücken. — stop
south ferry : durchleuchtung
kilimandscharo : 0.15 — Leichter Schneefall, im Bus durch Brooklyn. Ich hatte die Fahrzeit genützt, um Beobachtungen, die ich auf der Staten Island Fähre handschriftlich notierte, in mein Notebook zu übertragen. Mehrfach schrieb ich das Wort Sprengstoff in eine Datei. Abends wartete ich auf das letzte Schiff, das ich an diesem Tag noch nehmen wollte. Ich saß gerade auf einer Bank, als sich einer der Sprengstoffspürhunde, die ich Stunden zuvor noch beobachtet hatte, näherte. Präzise formuliert, näherte sich der Hund nicht mir selbst, sondern meinem Rucksack, in dem meine Schreibmaschine ruhte. Er legte sich auf den Boden und schaute mich an, nicht unfreundlich, wie auch der Polizist, der dem Hund gefolgt war, mich wohlwollend musterte. Sir, sagte er, Sir! We hope for your cooperation! Seither stelle ich mir Fragen, die doch erstaunlich sind. – stop
manhattan : atome
tango : 1.56 — Ich hatte in einem Café nahe Times Square ein elektronisches Tonbandgerät aus der Manteltasche gezogen und richtete es auf ein Fenster, um den Tumult menschlicher Stimmen, Sirenen, Luftpumpen und weiterer unbestimmbarer Geräusche aufzunehmen. Ein junger Mann, der neben mir vor seinem Notebook saß, beobachtete mich eine Weile aufmerksam. Plötzlich lacht er: Das ist New York. Verrückt, nicht wahr? Ob ich in dieser Stadt öffentlich zugängliche Orte von Stille finden könnte, wollte ich wissen. Gibt es nicht, antwortete der Mann. Es würden jedoch Orte existieren, die beinahe still sind. Dort aber hörst Du Geister! — Sonntag. Minus 5° Celsius. Lässt sich vielleicht errechnen, aus wie vielen Atomen die Stadt New York sich fügt? Wie viele Atome werden die Stadt täglich verlassen, wie viele Atome einreisen in unsere Rechnung? Subway 28. Straße wartete ein Mann kurz nach Mitternacht mit Angelrute in hüfthohen Fischerstiefeln auf dem Bahnsteig. — stop
asmara tigri
lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschichte erzählen wird, scheint müde zu sein. Immer wieder fallen für Sekunden ihre Augen zu. Früher Morgen, Tigri hat die Nacht über gearbeitet. Wir sitzen in einem Schnellzug vom Flughafen in die Stadt. Gerade wollte sie noch wissen, warum ich auf dem Notebook einen Film betrachte, der von einstürzenden Türmen des World Trade Centers berichtet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stunden lang Briefe sortiert, das heißt, Luftpostbriefe für Inseln, die im Pazifischen Ozean liegen, weil sie eine Spezialistin für Inseln ist, auch für Inseln atlantischer Gebiete, aber vor allem kenne sie sich aus mit Inseln, die Kiribati heißen oder Tonga oder Palau oder Vanuatu. Sie sagt, dass sie diese Namen lieben würde, dass sie Anfang der 70er Jahre in einem Dorf nahe der eritreischen Hauptstadt Asmara geboren worden sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wieder aufgebaut werden musste, weil an einem Sonntagabend ein MIG-Flugzeug das Dorf zerstört habe und viele ihrer Freunde getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebte Tigri bereits in Westdeutschland. Wenn sie den Namen ihres Dorfes ausspricht, bin ich nicht imstande, das schöne Geräusch in meinem Kopf zu behalten, aber das Wort Asmara kann ich mir merken. Sobald ich das Wort Asmara formuliere, leuchten ihre Augen, also sage ich dreimal Asmara und freue mich über die Wirksamkeit dieses Wortes. Asmara soll eine Stadt hellen Lichtes sein, sage ich, es soll dort immerzu nach Kaffee duften, und Tigri lacht und ich denke, dass das jetzt entweder so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jedenfalls das Helle mag und auch den Kaffeeduft. Man spreche Tigrigna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemerke, dass ihr ganzer Name selbst in diesem Wort enthalten sei. Wieder lacht die junge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bruder, ein Gynäkologe, aus den Diensten eines Krankenhauses entlassen wurde, weil man ihn nicht als das behandeln wollte, was er zu sein wünschte. Mein Bruder, wissen Sie, möchte ein König sein. Nun ist er arbeitslos und König. Er ist natürlich schwarz wie ich, genauso schwarz, und schwarz steht den Königen nur in Afrika. Sie macht eine kurze Pause, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf dieser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im vergangenen Jahr sei ihr Vater gestorben in Eritrea, ein glücklicher Mensch, ein Busfahrer, ein sehr stolzer Herr. Im Oktober desselben Jahres sei schließlich die Mutter mit dem Flugzeug via Rom nach Frankfurt gekommen. Sie habe, ohne das zu wissen, einen Tumor im Kopf mitgebracht, im Februar war sie dann umgefallen und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fenster. Ein heißer, schwüler Morgen. Ob sie den Film ansehen dürfe, will sie wissen.
copernic
echo : 8.27 — Ich stelle mir vor, an diesem wunderschönen Morgen unterm Regenlicht, einmal die Spuren eines Menschen zu erfinden, von dem nichts geblieben ist, als der Schatten seiner Fragen an die Meta-Suchmaschine COPERNIC auf einem Notebook, das ihn von Geburt an begleitete. Können Krokodile hören? Eine Spur feinster Bohrungen der Luft. – Während ich diese Zeilen notierte, ist mir aufgefallen, dass bis vor Kurzem noch Menschen existierten, die in der Elektrosphäre nie eine Spur zeichneten. Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelduft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnen seidiges Haarnetz (Warum?), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, das Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, – Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. So alt ist sie jetzt geworden, die Wally, dass sie aufgehört hat zu leben.