Aus der Wörtersammlung: rasen

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australien

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oli­mam­bo : 3.26 — Im ana­to­mi­schen Insti­tut, unter dem Prä­pa­rier­saal, befin­den sich Arbeits­räu­me für Prä­pa­ra­to­ren, das sind klei­ne­re Zim­mer, in wel­chen metal­le­ne Tische ste­hen, hel­les Licht, sehr hel­les Licht, Lupen­leuch­ten, Pin­zet­ten, Skal­pel­le, Gefä­ße aller Art. Ich besuch­te dort meh­re­re Male einen älte­ren Herrn, durf­te ihm gegen­über Platz neh­men, beob­ach­te­te ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruh­te. Ich erin­ne­re mich noch gut an sei­ne hel­len, fein­glied­ri­gen Hän­de, wie sie rasend schnell Gewe­be vom Herz­kör­per zupf­ten. Der alte Mann war sehr erfah­ren in der Prä­pa­ra­ti­on, und er war schweig­sam, also spra­chen wir wenig. Ges­tern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Tele­fon­ge­spräch eine Fra­ge ent­deck­te, die ich nun ger­ne sofort an ihn rich­ten wür­de, wenn ich nur wüss­te, ob er noch exis­tiert. Ich wür­de näm­lich ger­ne erfah­ren, wie es mög­lich sein kann, das Ske­lett eines Men­schen, der gera­de erst gestor­ben ist, sei­nem Kör­per zu ent­neh­men und auf dem Luft­post­weg von Aus­tra­li­en nach Euro­pa zu sen­den. Genau das ist näm­lich vor nicht ein­mal einem hal­ben Jahr­hun­dert gesche­hen. Eine Freun­din, die in Grie­chen­land auf­ge­wach­sen war, eine Grie­chin also, erzähl­te mir ges­tern, sie habe in ihrer Schul­zeit ein mensch­li­ches Ske­lett vor Augen gehabt, von dem sie wuss­te, dass es echt gewe­sen war, dass es zu einem Bür­ger der Stadt, in der sie leb­te, gehör­te. Die­ser Mann war nach Aus­tra­li­en aus­ge­wan­dert, um vor der Armut und Hoff­nungs­lo­sig­keit, in der er leb­te, zu flüch­ten. Kaum in Aus­tra­li­en ange­kom­men, starb der Mann. Und weil er nichts wei­ter zu ver­schen­ken hat­te, ver­mach­te er sein Ske­lett der Schu­le sei­ner Stadt. Der Mann hieß mit Vor­na­men Teofa­nis, wes­halb auch das Ske­lett die­sen Namen trug. Teofa­nis kehr­te also an den Ort zurück, an dem er gebo­ren wor­den war, genau­er sogar in das Klas­sen­zim­mer, in dem er sei­ne Matu­ra abge­legt hat­te, um dort dau­er­haft zu ver­wei­len in einer fei­nen Geschich­te, deren eigent­li­ches Ende in der Zeit bis­her nicht abzu­se­hen ist. — stop

polaroidtraumbild

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schneeechsen

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ulys­ses : 6.55 — Im Traum spa­zie­re ich die win­ter­li­che Küs­te der Sta­ten Island Insel ent­lang. San­di­ger Boden, Strand, der unter mei­nen Füßen knis­tert. Es ist sehr kalt, der Schnee in der Nähe des Was­sers geschmol­zen, land­ein­wärts aber türmt er sich, Wehen, die Kie­fer­bäu­me, die gan­ze Häu­ser ver­schlu­cken. An mei­ner Sei­te wan­dert eine alte, hoch­ge­wach­se­ne Frau. Sie erzählt in rasen­der Geschwin­dig­keit eine Geschich­te, die ich nicht wirk­lich wahr­neh­men kann, weil ich ihre Spra­che nicht ver­ste­he. Aber das scheint die alte Frau nicht wei­ter zu küm­mern, viel­leicht erzählt sie nur des­halb unent­wegt vor sich her, damit ich ihre Stim­me hören kann und sie in der Dun­kel­heit nicht ver­lie­re. Tat­säch­lich ist fast licht­lo­se Nacht, nur ein hal­ber Mond und ein paar grö­ße­re Schif­fe weit drau­ßen, die in Rich­tung des offe­nen Atlan­tiks fah­ren. Ich erin­ne­re mich, dass die alte Frau eine Pelz­müt­ze und einen Pelz­man­tel trägt, som­mer­li­che Schu­he, Sport­schu­he und kei­ner­lei Strümp­fe. Um sie her­um flit­zen Eidech­sen, sie schei­nen ihr zu fol­gen, weiß sind sie wie der Schnee, aus dem sie gekom­men sind. Wenn ich mich bücke, kom­men sie neu­gie­rig näher, ich kann sie auf­he­ben, ich kann sie zer­bre­chen, sie tra­gen schnee­wei­ße Zun­gen in ihren klei­nen Mün­dern und sie fau­chen und tau­en, sobald ich sie in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cke. In die­sem Moment mei­ne ich, die alte Frau mit einem Namen ange­spro­chen zu haben, an den ich mich nicht erin­nern kann. Ein­mal bleibt sie ste­hen, kau­ert sich auf den Boden, singt lei­se eine Melo­die vor sich hin, der Faden ihrer Stim­me wird sicht­bar in der fros­ti­gen Luft. Jetzt hebt sie Stei­ne aus dem Sand, schich­tet sie über­ein­an­der, sodass sie Tür­me bil­den, die sich in der Dun­kel­heit wie Wäch­ter­we­sen, wie Mah­nen­de beneh­men. Ein hell beleuch­te­tes Fähr­schiff fährt dicht am Ufer ent­lang. Ich sehe Men­schen, die tan­zen. Das Schiff wird von wei­te­ren Men­schen gezo­gen, die im eis­kal­ten Was­ser schwim­men. — stop

ping

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georges perec

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tan­go : 22.01 — Fol­gen­des. Immer gegen 8 Uhr in der Früh bre­chen wir auf, Geor­ges und ich. Wir gehen ein paar Schrit­te über die Rue de Javel, neh­men die 6er-Metro durch den Süden, stei­gen dann um in Rich­tung Por­te Dau­phin, fah­ren mal unter, mal über der Erde im Kreis her­um, bis es Abend oder noch spä­ter gewor­den ist. So kann man gut sit­zen, zufrie­den, durch­ge­schüt­telt, Sei­te an Sei­te für vie­le Stun­den, und Men­schen betrach­ten, wie sie her­ein­kom­men, Fahr­gäs­te, wie sie im Wag­gon Platz neh­men, wie sie beschaf­fen sind, davon legen wir Ver­zeich­nis­se an, Geor­ges ein Ver­zeich­nis, und ich ein Ver­zeich­nis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Ver­zeich­nis aller Erschei­nun­gen eines Rau­mes anzu­le­gen, der nicht gera­de erfun­den wird, eines Rau­mes, der sich fort­be­wegt, der betre­ten und ver­las­sen wird von Men­schen im Minu­ten­takt, das Ver­zeich­nis eines Rau­mes, des­sen Fens­ter sich von Sekun­de zu Sekun­de neu bespie­len, weil es also unmög­lich ist, das Ver­zeich­nis eines wirk­li­chen Rau­mes anzu­le­gen, machen wir das so: in der ers­ten Stun­de des Rei­se­ta­ges notie­ren wir ein Ver­zeich­nis der zuge­stie­ge­nen Kra­wat­ten, in der zwei­ten ein Ver­zeich­nis der Schu­he und der Strümp­fe, ein Ver­zeich­nis, sagen wir, der Geh­werk­zeu­ge und ihrer Beklei­dung, dann ein Ver­zeich­nis der Haar­trach­ten, der Taschen, der Metho­den sich im fah­ren­den Zug einen siche­ren Stand zu ver­schaf­fen, der Gesprächs­ge­gen­stän­de, der Art und Wei­se sich zu küs­sen, zu strei­ten, oder aber ein Ver­zeich­nis absei­ti­ger Gestal­ten, ein Ver­zeich­nis der Die­be, der Bett­ler, der Posau­nis­ten, der Ver­wirr­ten ohne Ziel, je ein Ver­zeich­nis der Spra­chen und klei­ner Geschich­ten, die wir aus der all­ge­mei­nen Bewe­gung zu iso­lie­ren ver­mö­gen. Von Zeit zu Zeit, wäh­rend wir so fah­ren und notie­ren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Geor­ges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel ver­schluckt, als lache er nur des­halb, weil er Made­moi­sel­le Moreau wie­der frei­las­sen wol­le. Dann weiß ich, Geor­ges hat etwas gefun­den, das er mir abends in irgend­ei­nem Café, wenn wir fer­tig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser bei­der Köp­fe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen auf­be­wah­ren lässt, vor­tra­gen wird, – „Auf Kra­wat­te gelb, zehn­zwei, leben­de Amei­se, argen­ti­nisch, kreuz und quer. Der Code­na­me Ser­vals war Lou­viers“, sagt Geor­ges und hebt sein Glas. Fünf Glä­ser Pas­tis, fünf Glä­ser Was­ser, – dann sind wir wie­der leicht gewor­den, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, neh­men wir den letz­ten Über­land­zug nach Nor­den oder den 11er nach Süden, dort­hin, wo die Feu­er­nel­ken blühn, und wenn es end­lich Mor­gen gewor­den ist, stei­gen wir um, öff­nen die Fens­ter und fah­ren nach Wes­ten in unse­rer Wind­ma­schi­ne spa­zie­ren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewit­ter auf­stei­gen und Schwe­fel vom Him­mel kom­men und wei­ßes Licht, das die Land­schaft ent­zün­det. So haben wir schon sehr schö­ne Gedan­ken über das Feu­er gefan­gen und über das Schlag­zeug in die­sem gewal­ti­gen Raum, der über uns hängt, einem Raum, des­sen zen­tra­les Ver­zeich­nis von nicht mensch­li­chen Maßen ist, sodass wir bald nur schwei­gen und auf ent­fern­te Men­schen schau­en, auf Sze­nen im rasen­den Vor­über­kom­men, auf Fil­me, die in unse­ren Hin und Her has­ten­den Augen der­art kur­ze Fil­me sind, dass sie einer Foto­gra­fie sehr nahe kom­men, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbe­wegt. Es ist ganz so, als wür­den wir an einer gewal­ti­gen Auf­nah­me der Zeit vor­über kom­men, an einer Foto­gra­fie, deren Gegen­wart wir nicht berüh­ren, weil wir nicht aus­stei­gen kön­nen, ohne das Leben zu ver­lie­ren, weil wir zu schnell, weil wir in einer ande­ren Zeit sind. — stop / kof­fer­text

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schneefliegen

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nord­pol : 1.15 — Eine bis­lang unbe­kann­te Flie­gen­gat­tung soll unlängst in den Ber­gen Tibets ent­deckt wor­den sein. Es han­delt sich um Schnee­flie­gen, die über einen außer­or­dent­lich fei­nen Pelz ver­fü­gen. Die­ser Pelz nun, man wür­de in ihm zunächst ein evo­lu­tio­nä­res Han­di­cap unter Flug­tie­ren ver­mu­ten, ist trotz sei­ner Dich­te von außer­or­dent­li­cher Leich­tig­keit. Es wird berich­tet, dass eini­ge der Schnee­flie­gen auf gehei­men Wegen nach Euro­pa trans­por­tiert wor­den sind, wo man sie ein­ge­hend unter­such­te. Sie ver­meh­ren sich selbst in gewöhn­li­chen Kühl­schrän­ken bei Licht mit rasen­der Geschwin­dig­keit. Wovon sie sich ernäh­ren, ist bis­her nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib rei­ßen kann mit äußerst fei­nen Werk­zeu­gen ist sicher. Über die Fabri­ka­ti­on von Flie­gen­pe­lz­män­teln wird ernst­haft nach­ge­dacht, über Flie­gen­pe­lz­müt­zen, Flie­gen­pe­lz­hand­schu­he und wei­te­re Gegen­stän­de zur Erwär­mung mensch­li­cher Exis­tenz. — stop

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im reservat der trinkerlemure

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hima­la­ya : 6.46 — Ich hör­te, irgend­wo auf die­ser Welt soll eine Stadt exis­tie­ren, die über einen beson­de­ren Park ver­fügt, eine Natur­land­schaft, in wel­cher Trin­ker­le­mu­re exis­tie­ren, Aber­tau­sen­de bei­na­he unsicht­ba­re Per­so­nen. Man kann sich das viel­leicht nicht vor­stel­len, ohne län­ge­re Zeit dar­über nach­ge­dacht zu haben. Wäl­der und Wie­sen, ein Fluss, da und dort ein Berg, nicht sehr hoch, Höh­len, Hüt­ten, Schlaf­sackt­rau­ben, die von mäch­ti­gen Bäu­men bau­meln. Man könn­te sagen, dass es sich bei die­sem Park ver­mut­lich um ein Hotel oder ein Reser­vat han­deln wird von enor­men Aus­ma­ßen, 15 Kilo­me­ter in der Brei­te, 20 Kilo­me­ter in der Län­ge. Das Are­al ist umzäunt. Tore bie­ten Zugang im Wes­ten, im Nor­den, im Osten, im Süden. Dort fah­ren Ambu­lan­zen vor oder Kran­ken­wa­gen­bus­se, um schreck­li­che Gestal­ten aus­zu­la­den, die in den gro­ßen Städ­ten der Welt auf­ge­sam­melt wur­den, zer­lump­te, eit­ri­ge, zit­tern­de Wesen, sie spre­chen oder flu­chen in Spra­chen, die wir nur ahnen, wenn wir uns Mühe geben, ihnen zuzu­hö­ren, Eng­lisch ist dar­un­ter, Rus­sisch, Chi­ne­sisch, Deutsch, Fran­zö­sisch, Spa­nisch und vie­le wei­te­re Spra­chen mehr. Sie haben meist eine wei­te Rei­se hin­ter sich, aber jetzt sind sie ange­kom­men, End­sta­ti­on Sehn­sucht, Kran­ken­schwes­tern hel­fen, den letz­ten Weg zurück­zu­le­gen durch eines der Tore. Dann sind sie frei. Wir erken­nen am Hori­zont eine Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le. Sie liegt am Ran­de eines Wal­des. Tat­säch­lich fah­ren dort aus­ran­gier­te Züge der Stadt Lis­sa­bon im Kreis her­um, es geht um nichts ande­res, als dass man in die­sen Zügen sit­zen und trin­ken darf so viel man will. Aus polier­ten Häh­nen strömt Whis­key. An jedem zwei­ten Baum ist ein Fäss­chen mit Likö­ren oder Gin oder Wod­ka zu ent­de­cken. Es riecht sehr fest in die­ser Land­schaft, gera­de dann, wenn es warm ist, Bie­nen und Flie­gen und Libel­len tor­keln über wun­der­voll blü­hen­de Wie­sen. Da und dort sit­zen hei­te­re Grup­pen voll­trun­ke­ner Män­ner und Frau­en in der Idyl­le, sie erzäh­len von der Hei­mat oder von den Deli­ri­en, die man bereits über­lebt haben will. Manch einer weiß nicht mehr genau, wie sein Name gewe­sen sein könn­te. Ande­re leh­nen an Bäu­men, klap­pe­ri­ge Tote, die ungut rie­chen, arme Hun­de. Aber wer noch lebt, ist rasend vor Angst oder zufrie­den, man kann sich über­all­hin zur Ruhe legen. In dem Flüss­chen, das ich bereits erwähn­te, lagert fla­schen­wei­se küh­les Bier, es scheint sogar der Him­mel nicht Was­ser, son­dern Wod­ka zu reg­nen, auch die Vögel alle sind betrun­ken. Aus einem Wald­ge­biet tritt eine zier­li­che Frau, sie tau­melt. Die Frau trägt einen Hut und ein lan­ges wei­ßes Kleid, so schrei­tet sie durch das hohe Gras, bückt sich nach den Blü­ten, es ist in der Zeit der Korn­blu­men, die­ses zau­ber­haf­te Blau. Manch­mal fällt die Frau um, sie ist dann eine Wei­le nicht zu sehen, aber dann erscheint ihr Hut zunächst und kurz dar­auf sie selbst. Jetzt steht sie ganz still, schau­kelt ein wenig hin und her, seit Stun­den fra­ge ich mich, um wen genau es sich han­deln könn­te. — stop

 

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rom : taschen

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marim­ba : 22.05 — Man wird viel­leicht nicht sofort bemer­ken, dass man sich in einem Jagd­ge­sche­hen befin­det. Nein, von Jägern ist auf der Piaz­za Navo­na zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zau­ber­haf­ter Platz, läng­lich in der Form, drei Brun­nen, eine Kir­che, und Cafés, eines nach dem ande­ren, klei­ne­re Läden, in wel­chen wir Pas­ta in allen mög­li­chen For­men und Far­ben ent­de­cken, Wei­ne, Schin­ken, Käse. Am Abend flie­gen beleuch­te­te Pro­pel­ler durch die Luft. Maler, wel­che ent­setz­li­che Bil­der pro­du­zie­ren, erwar­ten ame­ri­ka­ni­sche Kun­den, sie sit­zen auf Klapp­stüh­len im Licht ihrer Glüh­lam­pen, die sie mit­tels Bat­te­rien mit Strom ver­sor­gen. Stra­ßen­mu­si­kan­ten sind da noch, mit ihren Ban­do­ne­ons, Gei­gen, Kon­tra­bäs­sen, und Ange­stell­te der Müll­ent­sor­gung, Frau­en, jün­ge­re Frau­en in wein­ro­ten Over­alls, ihre Hän­de sind gepflegt, ihre Fin­ger­nä­gel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Rich­tung jener schwarz­häu­ti­gen jun­gen Män­ner blickt, die vor einem der Brun­nen den Ver­such unter­neh­men, ihre Arbeit zu ver­rich­ten, wird es ernst. Sie haben Hand­ta­schen in allen mög­li­chen For­men auf den Boden vor sich abge­stellt, je zwei Rei­hen, Behäl­ter von Pra­da, Picard, Cha­nel, Grif­fe der­art aus­ge­rich­tet, dass man sie mit je einer Hand­be­we­gung alle­samt sofort ergrei­fen und flüch­ten kann. Eine typi­sche Ges­te, sind doch jene arm­se­lig wir­ken­den Händ­ler der Luxus­ta­schen mehr oder weni­ger flüch­ten­de Wesen. Kaum haben sie ihre Anord­nung im Fla­nier­be­zirk mög­li­cher Kun­den sorg­fäl­tigst auf­ge­baut, raf­fen sie ihre Ware wie­der zusam­men und rasen in eine der Sei­ten­stra­ßen davon, um nach weni­gen Minu­ten wie­der her­vor­zu­kom­men, wie in einem Spiel, wie auf­ge­zo­gen. Am ers­ten Abend mei­ner Beob­ach­tun­gen auf der Piaz­za Navo­na, waren nur Flüch­ten­de zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigen­ar­ti­ge Situa­ti­on, aber schon am zwei­ten Abend war eine jagen­de Gestalt vor mei­nen Augen in Erschei­nung getre­ten. Es han­del­te sich um einen Haupt­mann der Cara­bi­nie­ri, um einen Herrn prä­zi­se mit äußerst auf­rech­tem Gang. Er trug wei­ße Strei­fen an sei­nen Hosen, und eine Uni­form­ja­cke, tadel­los, und eine Müt­ze, sehr amt­lich, er war eine wirk­li­che Zier­de, ein Staats­mann, wie er so über den Platz schritt, hin­ter den flüch­ten­den afri­ka­ni­schen Män­ner her, aus­dau­ernd, lau­ernd, ein Ansitz­jä­ger, möch­te ich sagen, einer, der an Stra­ßen­ecken war­tet, um die Wie­der­kehr der schwar­zen Händ­ler zu unter­bin­den oder um einen von ihnen ein­zu­fan­gen und an Ort und Stel­le unver­züg­lich zu ver­spei­sen. Stop. Frei­tag­abend. stop. Eine Bie­ne über­quert zur Unzeit den Platz in süd­li­che Rich­tung, als wär sie ein Zug­vo­gel. — stop
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quallenuhr

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ulys­ses

~ : oe som
to : louis
sub­ject : QUALLENUHR
date : sept 12 12 10.22 a.m.

Ganz plötz­lich, lie­ber Lou­is, habe ich Lust bekom­men, Dir zu schrei­ben. Eigent­lich woll­te ich mich erst am kom­men­den Sams­tag mel­den, aber ein Sturm bewegt sich auf uns zu und es ist nichts zu tun, als zu war­ten, ob er uns mit vol­ler Wucht tref­fen wird. Ver­mut­lich ist es die­se War­te­rei, die an unse­ren Ner­ven zerrt. Auch, dass die Tage wie­der kür­zer wer­den. Ges­tern haben wir einen Schwarm Tin­ten­fi­sche beob­ach­tet, der unser Schiff umkreis­te. Ein unge­wöhn­li­cher Anblick, die Tie­re waren schnee­weiß. Wir haben eini­ge gefan­gen, sie schme­cken süß, wenn man sie brät, nach Brot, nach Gebäck, nach Man­deln. Beun­ru­hi­gend ist, dass sie weder über Her­zen noch Augen ver­fü­gen. Eine hal­be Nacht haben wir einen Fisch nach dem ande­ren durch­sucht. Als wir kein Exem­plar mehr hat­ten, um unse­re Suche fort­set­zen zu kön­nen, ist Mil­ler mit dem Bei­boot los­ge­fah­ren. Fast wind­still ist es hier unten auf Höhe des Mee­res, weit oben jedoch rasen­de Wol­ken von West nach Ost. Ja, lie­ber Lou­is, wir durch­le­ben schwie­ri­ge Tage. Und Noe, unser Noe in der Tie­fe, ist von Fie­ber befal­len. Wir haben ihn gut 150 Fuß ange­ho­ben, damit er Licht sehen kann. Seit meh­re­ren Stun­den wie­der­holt er eine klei­ne Geschich­te, von der wir nicht wis­sen, woher sie kommt. Noe sagt, Noe stel­le sich ein Zim­mer vor, ein freund­li­ches, hel­les Zim­mer von aller­feins­ter Qual­len­haut, ein Zim­mer von Was­ser, ein Zim­mer von Salz, ein Zim­mer von Licht. Man könn­te die­ses Zim­mer, und alles, was sich im Zim­mer befin­det, das Qual­len­bett, die Qual­len­uhr, und all die Qual­len­bü­cher und auch die Schreib­ma­schi­nen von Qual­len­haut, trock­nen und fal­ten und sich 10 Gramm schwer in die Hosen­ta­sche ste­cken. Und dann geht man mit dem Zim­mer durch die Stadt spa­zie­ren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaf­fee­haus und war­tet. Noe sitzt also ganz still und zufrie­den unter einer Ven­ti­la­tor­ma­schi­ne an einem Tisch, trinkt eine Tas­se Kakao und lächelt und ist gedul­dig und sehr zufrie­den, weil nie­mand weiß, dass er ein Zim­mer in der Hosen­ta­sche mit sich führt, ein Zim­mer, das er jeder­zeit aus­pa­cken und mit etwas Was­ser, Salz und Licht, zur schöns­ten Ent­fal­tung brin­gen könn­te. Hier spricht Noe. Noe stellt sich ein Zim­mer vor, ein freund­li­ches, hel­les Zim­mer von feins­ter Qual­len­haut. — Bes­te Grü­ße. Ahoi. Dein OE SOM

gesen­det am
12.09.2012
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oe som to louis »

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bienengeschichte

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hima­la­ya : 5.52 — Die fol­gen­de Geschich­te ist natür­lich eine erfun­de­ne Geschich­te. Aber ich tue so als wäre sie nicht erfun­den. Am bes­ten begin­ne ich in die­ser Wei­se: Seit zwei Wochen hal­te ich mich stun­den­lang unter frei­em Him­mel auf. Das ist des­halb so gekom­men, weil ich eine Auf­ga­be über­nom­men habe, die mir nach wie vor sehr inter­es­sant zu sein scheint. Ich beob­ach­te Bie­nen, wie sie sich über eine Wie­se fort­be­we­gen. Des­halb lie­ge oder knie ich oder lau­fe gebückt dahin, den Kopf dicht über dem Boden, was nicht immer leicht ist, weil Bie­nen doch schnel­le Flie­ger sind. Jene Bie­nen­tie­re, die ich beob­ach­te, woh­nen in nächs­ter Nähe am Saum eines Wal­des, des­sen prä­zi­se Posi­ti­on ich nicht ver­ra­ten darf. Sie tra­gen Num­mern von 1 bis 100 auf ihren Rücken, was für mei­ne Arbeit sehr bedeu­tend ist, da ich Bie­nen, die ohne eine Num­mer sind, nie­mals beach­te. So lau­tet mei­ne Instruk­ti­on, Bie­nen ohne Num­mer ist nicht zu fol­gen, viel­mehr ist so lan­ge Zeit am Ran­de der Wie­se zu war­ten, bis eine Bie­ne mit Kenn­zeich­nung auf der Wie­se erscheint. Ich tra­ge eine Schirm­müt­ze gegen die Blend­wir­kung der Son­ne und eine Mon­okel­lu­pe, die vor mei­nem rech­ten Auge sitzt und mir einen prä­zi­sen Blick in die klei­ne Welt der Bie­nen in der Nähe des Bodens ermög­licht. Genau­ge­nom­men ist es mei­ne vor­neh­me Auf­ga­be, eine Bie­ne, die ich ein­mal in den Blick genom­men habe, solan­ge wie mög­lich zu beglei­ten auf ihrem Flug von Blü­te zu Blü­te. Ich bin indes­sen nicht ein­mal stumm. Ich sage zum Bei­spiel: Hier spricht Lou­is. Es ist 15 Uhr und 12 Minu­ten. Ich fol­ge Bie­ne No. 58. Wir nähern uns einer But­ter­blu­men­blü­te. Ja, das genau sage ich laut und deut­lich. Ich spre­che in ein Funk­ge­rät, von dem ich weiß, dass mir in der Fer­ne im See­bad Brigh­ton an der eng­li­schen Küs­te irgend­je­mand an einem ande­ren Funk­ge­rät zuhört. Ich sage: Hier spricht Lou­is. Bie­ne No 58: Lan­dung But­ter­blu­me. OVER! Dann betrach­te ich die Bie­ne, wie sie in der Blü­te arbei­tet und war­te. Bald fliegt die Bie­ne wei­ter und ich sage kurz dar­auf: Bie­ne No 58: Lan­dung Feu­er­nel­ke. OVER! Ja, so mache ich das. Ich wer­de immer bes­ser dar­in. Ich glau­be, die Bie­nen mögen mich. Ich bin ihnen ver­traut gewor­den. In eini­gen Tagen wer­de ich viel­leicht etwas genau­er erzäh­len, war­um ich Bie­nen beob­ach­te. Jetzt bin ich müde. Es ist Sams­tag. Nacht­wol­ken rasen über den Him­mel. Was Fran­kie wohl gera­de macht? — stop
ping

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apfelohren

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del­ta : 6.35 — Ges­tern hab ich eine lus­ti­ge E‑Mail bekom­men. Sie war irgend­wann, wäh­rend ich schlief, auf mei­nem Com­pu­ter laut­los ein­ge­trof­fen. Die Per­son, die mir geschrie­ben hat­te, woll­te wis­sen, wie ich vor­ge­he, wenn ich nachts einen Apfel oder eine Apri­ko­se oder Bana­nen belau­sche. Ich hat­te zunächst eini­ge trif­ti­ge Grün­de auf die­se Fra­ge nicht ein­zu­ge­hen, gera­de auch des­halb, weil der Absen­der der E‑Mail, einen selt­sa­men Namen ange­ge­ben hat­te, des­sen Exis­tenz ich über die Goog­le – Such­ma­schi­ne ver­geb­lich zu prü­fen such­te. Aber dann schien mir doch reiz­voll zu sein, dem Absen­der der E‑Mail zu ant­wor­ten. Ich notier­te kurz und bün­dig, dass ich, wenn ich einen Apfel belau­sche, den Apfel in eine mei­ner Hän­de neh­me, um ihn tat­säch­lich an eines mei­ner Ohren zu füh­ren. Was man, wenn man in die­ser Wei­se vor­geht, hören kann, ist natür­lich zunächst das Rau­schen des Blu­tes in den eige­nen Ohr­ge­fä­ßen, sonst aber nichts, abge­se­hen von Geräu­schen viel­leicht, die man sich gründ­lich vor­zu­stel­len ver­mag, Geräu­schen orga­ni­schen Zer­falls zum Bei­spiel, einem Pfei­fen, einem Sau­sen oder den Beiß­ge­räu­schen eines Wurm­kie­fers in grö­ße­rer Apfel­tie­fe. Ich attes­tier­te in einem Ant­wort­schrei­ben sehr ernst­haft, dass ein Apfel ein stil­les Wesen sei, immer­hin habe ich nicht nur einen, ich habe min­des­tens fünf Äpfel belauscht, Bir­nen, Trau­ben, Bana­nen, Pfir­si­che, alle sind sie ohne tat­säch­li­che Geräu­sche in den Fre­quen­zen mensch­li­chen Hör­ver­mö­gens. Dafür leg ich eine Hand ins Feu­er, jawohl, es ist Mon­tag: Rasen­de Wol­ken. — stop

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brummkreisel DOYU 66Y

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bamako : 18.55 — Ich habe über das Pro­blem leben­der Brumm­krei­sel nach­ge­dacht. Das ist näm­lich so, dass ein Lebe­we­sen, das einem Brumm­krei­sel ähn­lich sein wür­de, über zwei Abtei­lun­gen ver­fü­gen soll­te, über eine der Erde ver­bun­de­ne Fuß– oder Basis­ab­tei­lung einer­seits, sowie über eine sich dre­hen­de, krei­sen­de Ein­heit ande­rer­seits, die sich in den Momen­ten der Karus­sell­fahrt in Frei­heit, also unab­hän­gig von dem geer­de­ten Teil des Brumm­krei­sel­we­sens bewe­gen müss­te und doch ein­deu­tig ihm gehö­ren wür­de. Dem­zu­fol­ge wür­de die krei­sen­de Abtei­lung die­ses Wunsch­we­sens nach Ende ihrer rasen­den Fahrt zu sich selbst zurück­keh­ren, das heißt, sich mit der war­ten­den Fuß­ab­tei­lung in orga­ni­schem Sin­ne wie­der ver­ei­nen. Eigent­lich ist das ins­ge­samt nicht schwer zu den­ken. Ein Gefäß, anstatt eines Kop­fes, könn­te auf den Schul­tern der Basis­ab­tei­lung exis­tie­ren, eine Fas­sung, in wel­cher sich die unte­re Spit­ze des wir­beln­den Kör­per­tei­les frei dre­hend bewe­gen wür­de. In die­sem Gefäß soll­ten sich Öle befin­den, die dem mensch­li­chen Liqu­or ähn­lich sind. Nach einer Pha­se der Rota­ti­on wür­den sich in die­ser Flüs­sig­keit Blut­ge­fä­ße und Ner­ven­bah­nen, die zuvor gelöst wor­den waren, von unten nach oben erneut mit­ein­an­der in Ver­bin­dung brin­gen, sodass das Wesen bald wie­der zu einer voll­stän­di­gen Per­son gewor­den sein wird. Augen und Ohren, so stel­le ich mir vor, soll­ten sich in der unte­ren Abtei­lung befin­den, auch Füße zum Ste­hen und Wan­dern und alle Orga­ne, die für einen gesun­den Stoff­wech­sel not­wen­dig sind. Ja, so könn­te das mög­lich sein, das ist denk­bar, das macht Kno­ten im Kopf. — stop

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