MELDUNG. Ein halbes Pfund Lakritze bei El Corte [ Plaça de Catalunya, 14, Barcelona ], damit in der Tüte ist Odile, eine Rose, zwanzigzwölf voller Glück über die Straße gegangen. Kurz darauf in Folge von Meteoriten durchschlagen: Kioskdach, 2 Passeig de Gràcia, 12 Uhr 14, 3 Gramm. Markise, 666 Gran Via de les Corts Catalanes, Erdgeschoss, 12 Uhr 16, 0.8 Gramm. Motorhaube, 67 Carrer del Bruc, 12 Uhr 17, 1.8 Gramm. Alle Feuersbrünste sind gelöscht. — stop
Particles: Mai 2015
chicago
tango : 6.05 — Im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie los werden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gern zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiert in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
20 Gramm : eine Künstlerin erzählt
zoulou : 18.25 — Inés, die mehrere Jahre lang in einem zentralen Madrider Postamt arbeitete, erzählt, sie habe in der Stunde etwa 3200 Kurzbriefe mit der Hand sortiert. Jeder ihrer Arbeitstage dauerte 6 Stunden reiner Arbeitszeit, das heißt, Stundenzeit ohne Pause, da ihre Hände ruhten. Manchmal, wenn ihre rechte Hand schmerzte, habe sie mit der linken Hand sortiert, da sei sie aber nicht so schnell gewesen. Einmal habe sie errechnet, pro Nacht oder Schicht mit ihren Händen aus dem Sitzen heraus 385 Kilogramm angehoben und durch die Luft transportiert zu haben. Sie lebte damals in der Calle José Abascal in einem kleinen Atelier unter dem Dach, nun, im Alter von bald 40 Jahren, könne sie Grund der Bilder, die sie zeichne, hervorragend leben. Einmal wohne sie in London, dann wieder in Berlin, München, Paris. Manchmal träume sie noch von Briefen, die sie in ihrer postalischen Zeit gerne betrachtet habe, Kuverts, die selbst Kunstwerke gewesen seien, liebevoll gestaltet. Aber das genaue Betrachten der Briefe war natürlich nicht gestattet, da das Betrachten eines Briefes viel zu lange dauere. Dass ich nun Zeit habe, niemals hetzen muss, sogar selbst entscheiden kann, wie schnell ich mein Abendbrot zu mir nehme, ist mein größtes Glück. — stop
radare
whiskey : 0.02 — Für die Position “particles” waren gestern, Sonntag, 3. Mai, 12.718 Besuche, Aufrufe, Berührungen zu verzeichnen. 324 Besuche scheinen von menschlicher Natur gewesen zu sein, 12394 Besuche sind vermutlich Maschinen, Computerprogrammen, Routinen wie Radaren zuzuordnen. — Past midnight. Never knew such silence. — stop
von nelken
echo : 6.10 — Ich beobachtete eine alte Frau, wie sie unter einem Regenschirm im Garten kniend Nacktschnecken von Nelkenblumen pflückte. Neben sich hatte die alte Frau einen kleinen Eimer abgestellt, der sich nach und nach mit Schneckenkörpern füllte. Heftiger Regen. Ich konnte den Regen hören, wie er auf den Schirm der alten Frau trommelte. Und ich hörte eine helle Stimme, die mit sich selbst oder zu den Schnecken sprach. Immer wieder einmal stand die alte Frau vorsichtig auf, um in ihr Haus zurückzukehren. Sie klopfte dann ihre Schuhe ab, stand hinter dem Fenster, schaute in den Garten und wartete bis weitere Schnecken ohne Häuser in die Nähe ihrer Nelken gekommen waren. Diese Schnecken reisten nicht von der Seite her an, sondern kamen tatsächlich von unten aus dem erdigen Boden herauf. Waren es wieder viele Schnecken geworden, kehrte die alte Frau zurück in ihren Garten und erneut hörte ich den Regen und eine helle Stimme. Ich hatte bald den Eindruck, diese Schnecken, die unablässig aus dem Boden stiegen, könnten rein aus etwas Haut und klarem Wasser bestehen, es waren derart viele, dass sie ganz einfach zunächst sehr kleine Wesen sein mussten, die sich zu ihrer vollen Entfaltung mit Wasser füllten sobald es regnete. Nach drei Stunden war der Eimer gefüllt und die alte Frau deckte ihn mit einem Kochtopfdeckel zu, holte aus dem Haus einen weiteren Eimer, der etwas größer gewesen war, als der erste Eimer. Es dämmerte, dann war es dunkel, und als es richtig dunkel geworden war, finster, kehrte die alte Frau mit einer Taschenlampe in den Garten zurück. Sie trug jetzt Gummistiefel an den Füßen und ein Nachthemd und es regnete noch immer. — stop
dos passos
india : 0.28 — Der Mann im Traum könnte John Dos Passos gewesen sein. Er trug einen Kittel wie ihn Ärzte tragen. Ich kam gerade sehr vorsichtig eine steile Treppe herunter, als ich ihn entdecke. Er stand breitbeinig unter einer Lampe, die sich langsam hin und her bewegte, weil wir uns auf einem Schiff befanden. Leichter Seegang. Um die Lampe herum schwebte ein Kind. Es musste gerade erst geboren worden sein, ein Stück der Nabelschnur baumelte noch von seinem Bauch, außerdem schien das Wesen feucht zu sein, es war so groß wie eine Mandarine, anstatt Armen und Händen verfügte es über Flügel, damit schwebte das Kind, und John Dos Passos schaute ihm zu. Er schien sich nicht zu wundern, ich hatte vielmehr den Eindruck, als würde er das Kindwesen prüfen. Eine Mutter war nicht zugegen. — stop
paperwhite
ulysses : 0.01 — Die Buchstaben verdrehen sich zur Zeit, ich schreibe zu schnell mit der Maschine, manchmal versäume ich ganze Wörter, als würden meine Hände glauben, dass ich Wörter schon geschrieben habe, obwohl ich sie noch nicht geschrieben habe. — Folgende Entdeckung: Es ist tatsächlich möglich, für den Preis 1 Pistazieneiskugel Joseph Roths Gesammelte Werke auf ein Paperwhite — Lesegerät zu laden. James Joyces Ulysses kostet soviel wie keine Eiskugel. Virginia Woolfes Mrs. Dalloway eine halbe Kugel. Anton Pawlowitsch Tschechows Kurzgeschichten, Novellen, Dramen wiederum 1 vollständige Kugel . Downloadreisezeit : 5,2 Sekunden. Bemerkenswert. Seltsam. — stop
sydney
von der sekundenzeit
delta : 0.02 — Wie jetzt der Sommer näherkommt, ändert sich alles. Im Winter erfrieren Menschen, im Sommer fallen sie versehentlich aus Fenstern, die sie zum Vergnügen geöffnet haben. Bernhardt L., der mich besuchte, erzählte von seinen Erfahrungen, die er mit Todesursachen betrunkener Menschen sammelte. Es war ein angenehmer Abend. Eigentlich wollten wir nicht von traurigen Geschichten sprechen, aber dann wurde es doch irgendwie wieder einmal ernst. Wir saßen auf Gartenstühlen vor dem Fenster zu den Bäumen, die in den Himmel staubten, und beobachteten meine Schnecke Esmeralda, die sich der frischen Abendluft näherte. Sie kroch zielstrebig über den Boden hin, dann die Wand hinauf und ließ sich auf dem Fensterbrett draußen nieder. Wenn sich Schnecken setzen, bewegen sie sich kaum noch, ihr feuchter Körper scheint indessen etwas breiter zu werden. Mein Bekannter Bernhardt L. war sehr interessiert an der Existenz Esmeraldas in meiner Wohnung, er hatte sie noch nie zuvor gesehen und auch noch nicht von ihr gehört. Er wollte wissen, woher sie gekommen war, wie alt sie wohl sei, und warum sie diesen sehr schönen Namen Esmeralda von mir erhalten habe. Ich erinnere mich, wie er mit einem Finger zärtlich über Esmeraldas Häuschen strich, während er von einem unglücklichen Mann erzählte, der ein Zeitwirtschaftler von Beruf gewesen sein soll. Dieser Mann habe Minuten gezählt, Sekunden, in der Beobachtung arbeitender Menschen in einer Fabrik. Seine Aufgabe sei gewesen, Zeiträume aufzuspüren, die durch Veränderungen in den Bewegungen der beobachteten Menschen eingespart werden könnten. In einem Brief, der sehr ausführlich sein Unglück notiert, habe er berichtet, dass es ihm zuletzt nicht möglich gewesen sei, eine Tasse Kaffee von der Küche in sein Wohnzimmer zu tragen, ohne darüber nachzudenken, ob es wirtschaftlich sei, mit nur einer Tasse Kaffee in der Hand die Räume zu wechseln, wenn es doch möglich wäre, zwei Tassen Kaffee zur gleichen Zeit zu transportieren. — stop
vor neufundland 1.16.28 uhr : kirschblüten
zoulou : 0.08 — Die Nachricht, ein afrikanischer Mann von der Elfenbeinküste habe bereits am vergangenen Mittwoch seinen 8 Jahre alten Sohn in einem Rollkoffer über die marokkanisch — spanische Grenze nach Europa transferiert. Das Kind wurde während einer Kofferdurchleuchtung lebend entdeckt, sein Vater festgenommen. Ich erinnere mich, vor zwanzig Jahren einmal beobachtet zu haben, wie am Centralbahnhof ein Kind in ein Gepäckschließfach kletterte, eine Frau, vielleicht die Mutter des Kindes, klappte die Tür des Schließfaches zu, wartete einige Sekunden, dann öffnete sie die Tür wieder und das Kind kletterte aus dem Fach. Das Kind lachte. — Meldung von Noe aus 805 Fuß Meerestiefe vor Neufundland. ANFANG 01.14.02 | | | > s t o p habe das wort sommerzeit notiert. s t o p kurz darauf eingeschlafen. s t o p als ich erwache liegt meine hand noch auf der tastatur der maschine. s t o p ein gelber fisch. s t o p behutsam. s t o p als ob er mit meinem handschuh sprechen wollte. s t o p werde bald ohne luft sein. s t o p das ist denkbar, s t o p ohne erinnerung. h u n t i n g r e d f i s h f r o m a b o v e. s t o p planlos. s t o p ein lautloses ende. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p | | | ENDE 01.16.28
ein ball
whiskey : 0.12 — Einmal beobachtete ich in New York einen Mann, wie er das Verhalten eines Balles in einem Wagon der Subway studierte. Es war ein sonniger Tag im Januar, ich fuhr gerade mit der Linie N Richtung Coney Island, als der Mann, der mir im Zug unmittelbar gegenüber Platz genommen hatte, einen roten Ball, von weißen Punkten bedeckt wie ein Fliegenpilz, aus einer Tasche holte und auf den Boden legte. Sofort rollte der Ball gegen die Fahrtrichtung davon, verlor sich zunächst zwischen den gestiefelten Beinen einiger Reisender, war dann für einen Moment nicht zu sehen, so dass der Mann, der den Ball freigelassen hatte, sich nach vorne beugen musste, um ihn wieder in den Blick zu bekommen. Kurz darauf kehrte der Ball zurück, beschrieb einen weiten Bogen, stieß mehrfach gegen die Füße einer schlafenden Frau, die die Berührungen des Balles aber nicht zu bemerken schien und einfach weiterschlief. Indessen verzeichnete der Mann mittels eines Bleistiftes den Weg des Balles durch den Wagon in ein Notizbuch, scharfe Richtungswechsel, enge Kreise, oder auch ruhigere Bewegungen des Balles über den Gang des Wagons wurden in dieser Weise präzise dokumentiert. Einmal nahm ein Kind den Ball in seine Hände, da machte der Mann an dem Ort, da der Ball den Boden verließ, ein Kreuz auf sein Papier. Nach einer halben Stunde stieg der Mann aus dem Zug, und ich dachte noch, dass ich diesem Mann und seinem Ball vielleicht nie wieder begegnen würde. Ich notierte: Hier in New York begegnet man ständig Menschen, die man nie wieder sehen wird. Drei Tage später bemerkte ich einen roten Ball mit weißen Punkten auf einer Fähre nach Staten Island, er rollte langsam über das Hurricane-Deck. — stop
winterherz
alpha : 6.52 — Nehmen wir einmal an, es existierten Menschen, die je über ein schlagendes, also ein aktives Herz verfügen, und außerdem über ein wartendes Herz, das ganz still im Brustkorb liegt, klein, gefaltet, ein Altersherz oder ein Winterherz. Von dieser Vorstellung wollte ich in der vergangenen Nacht einem kleinen Mann iranischer Herkunft erzählen. Aber kaum hatte ich Luft geholt und meinen ersten Satz zu Ende gesprochen, begann der kleine Mann seinerseits eine Geschichte zu erzählen. Er sagte, er habe Merkwürdiges erlebt, das Festnetztelefon seiner Wohnung sei gestört gewesen, er habe deshalb die Telefongesellschaft über sein Mobiltelefon angerufen. Eine weibliche Stimme habe sich bald gemeldet, die sich sehr freundlich mit ihm unterhalten habe in der Art und Weise, dass sie Fragen stellte. Sie fragte zum Beispiel: Könnten Sie bitte Ihr Problem genau beschreiben. Oder sie erkundigte sich, ob seine Internetverbindung noch funktionieren würde, ob sein Telefon über ausreichende Stromversorgung verfüge, wie lange Zeit er in etwa nicht mit seinem Telefon telefoniert habe. Das Gespräch dauerte, so erzählte der kleine Mann, einige Minuten, bis er bemerkte, dass tatsächlich eine Maschinenstimme zu ihm sprach. Weitere drei Minuten verstrichen, dann habe er sich vorsichtig erkundigt, ob er mit einem menschlichen Wesen der Telefonzentrale verbunden werden könnte. In diesem Moment brach das Programm die Unterhaltung ab. Es wurde still am Telefon, keine Fragen, keine Antworten, kurz darauf war ein Pfeifen zu hören. Und das soll nun einer am frühen Morgen noch verstehen. Der Himmel leicht bewölkt. — stop
morgens kurz nach fünf
zoulou : 6.10 — Eine Stechmücke setzte sich in der Dämmerung nach einer langen Arbeitsnacht auf meinen Arm. Ich beobachtete, wie sie ihren Rüssel an mich legte, aber sie stach nicht zu, als ob sie sich meiner Reife nicht sicher geworden sei. Kurz darauf wartete ich vor einer Kasse in einer Menschenschlange. Irgendwo in der Ferne lachte eine Kassiererin. Plötzlich bemerkte ich, dass ich in meinem Leben noch nie eine Ohrfeige bekommen habe, oder alle Ohrfeigen, die ich bekommen habe, vergessen konnte. So endete meine Nacht mit zwei spannenden Geschichten, ich war zufrieden. — stop
freitag
india : 4.10 — Gestern Abend im Gespräch entdeckte ich die Existenz der Ohrmuschelforscher. Es existieren außerdem Herzforscher, Knochenforscher, Lungenforscher, Kehlkopfforscher. An dieser Stelle höre Ich auf zu erzählen. Heute ist Freitag. Guten Morgen. — stop
terminal 1
india : 7.02 — Eine kugelrunde Frau sitzt am Flughafen sehr aufrecht auf einer Bank. Sie hält in jeder Hand ein Telefon. Einmal betrachtet sie das eine Telefon, dann wieder das andere Telefon. Wie ich sie so beobachte, glaube ich zu bemerken, dass sie für beide Telefone zärtliche Gefühle zu hegen scheint, als seien sie kleine Tiere, die manchmal zu ihr sprechen. Ich spüre plötzlich selbst zärtliche Gefühle in mir wachsen für diese Frau oder dieses Bild der Frau mit ihren Telefonen. Unvermittelt schaut sie mich an, und ich senke meinen Blick, öffne schnell meine Schreibmaschine und beginne zu notieren, obwohl ich nichts im Kopf habe, das ich notieren könnte. Also schreibe ich zunächst, dass ich gerade eben notiere, obwohl ich nichts zu notieren habe, weil ich verlegen bin. Ich schreibe, eine kugelrunde Frau sitzt frühmorgens sehr aufrecht auf einer Bank. Bald wird Sommer werden. Am Flughafen existieren weder Vögel noch Mäuse. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 507, Luftfahrt — 701, Automobile — 53], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 8, 19. Jahrhundert – 66, 20. Jahrhundert – 1001 , 21. Jahrhundert — 355 ], Trolleykoffer [ blau : 7, rot : 66, gelb : 5, schwarz : 532 ] physical memories [ bespielt — 6, gelöscht : 122 ], Armbanduhr — Audemars Piguet / Typ Royal Oak Grande : [ 1 ], Frösche [ Pärchen ] auf Treibholz [ 8 ], Öle [ 0.76 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 8, Kniegelenke – 66, Hüftkugeln – 2, Brillen – 562 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 54, Größen 38 — 45 : 88 ], Plastiksandalen [ 307 ], Kühlschränke [ 3 ], Telefone [ 65 ], Porzellanpuppenhände [ 16 ] Gasmasken [ 17 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 5, mit Taucher – 18 ], Pfeifenköpfe — Bruyèreholz [ 2 ], Engelszungen [ 51 ] | stop |
ein pinguin
india : 6.38 — Ludwig, ich traf ihn am Freitagabend während eines Spaziergangs zufällig unten am Fluss, erzählte von einem Experiment, das er vor wenigen Wochen im April gestartet haben will. Es gehe, sagte Ludwig, um den Versuch, Luftpostbriefe nach Aleppo zu verschicken. Weder habe er selbst Freunde noch Familienangehörige in Aleppo, trotzdem habe er ein gutes Dutzend Briefe in die zerstörte Stadt geschickt, zufällige Straßen, zufällige Häuser, zufällige Namen. Eine Freundin habe ihm bei seiner Arbeit geholfen, Lucille, die die arabische Sprache mühelos sprechen und schreiben könne. 5 seiner Briefe seien nach wenigen Tagen bereits zurückgekommen, sie waren je mit einem handschriftlichen Vermerk in deutscher Sprache versehen: Zur Zeit nicht zustellbar. 12 weitere Briefe seien noch verschollen, 1 Brief war jedoch zu ihm zurückgekehrt. Der Brief schien tatsächlich bis in die Stadt Aleppo gekommen zu sein, ein Stempel in französischer Sprache begründete die Rücksendung des Briefes: Adresse insuffisante. Diese Nachricht hatte Ludwig erwartet, nicht aber, dass auf dem Briefumschlag selbst eine Nachricht in der Gestalt eines handgezeichneten Pinguins hinterlassen worden war. — stop
violet
echo : 0.01 — Vielleicht ist das so, dass sich die Seele eines Ortes, beispielsweise die Seele eines Fährschiffes, auf Wörter überträgt, wenn diese Wörter an dem Ort, von dem sie erzählen, geschrieben werden während einer längeren Zeit der Beobachtung. Ich sehe, was ich nicht erfinden kann. Oder ich erfinde, was ich nur hier erfinden kann. Ja, so könnte das sein. Ein befreiender Gedanke. — Ich träumte von einem Mann, der keine Kommazeichen ertrug, weswegen er Kommazeichen einerseits durch Punkte ersetzte, anderseits darauf achtete, möglichst kurze, einschichtige Sätze zu formulieren. — stop
=
sierra : 0.05 — a m b o s s s c h e n k e l
zitronengelb
charlie : 7.08 — Über meinen Großvater, den ich nie persönlich kennengelernt habe, ist mir nicht sehr viel bekannt. Er soll ein warmherziger Mensch gewesen sein, der als Beamter der Stadt München in ein kleines Bürozimmer versetzt worden war, das im Winter nicht beheizt werden konnte. Mein Großvater wollte nicht in die Partei eintreten, deshalb musste er frieren, deshalb war er sehr oft krank gewesen. Die Familie, meine Mutter war ein Mädchen von damals fünf oder sechs Jahren, bewohnte eine kleine Wohnung in einem nördlichen Stadtteil. Sie waren dort zu fünft, die Eltern und ihre drei Töchter. In der Küche der Wohnung im zweiten Stock war Parkettfussboden verlegt, keine Selbstverständlichkeit für diese Zeit. Wenn Bomben ins Münchener Zentrum fielen, zitterte in Moosach der Boden und die Hölzer des Parketts hüpften wie Frösche herum. Vor einem Spiegel steht mein Großvater. Er rasiert sich mit zitternden Händen. Er hat Zucker und kein Insulin. Er ist immer sehr durstig und spricht vom Durchhalten wegen der Rente. Vor allem ist sein Gesicht so gelb wie eine Zitrone. Diese Vorstellung habe ich einer Erzählung meiner Mutter unlängst entnommen, die ich hörte, als wir über den Nordfriedhof gingen, um das Grab der Großmutter und des Großvaters zu besuchen. Bald wird das Grab verschwunden sein, aber die Knochen bleiben im Boden zurück. Zum Zeitpunkt unseres Besuches war alles anwesend, wie früher noch, als ich selbst, ein Kind, an Sonntagen vor das Efeugrab getreten war. Einmal stand ich dort in blauen Sandalen. Auf dem Grabstein spazierte eine Schnecke. Sie legte eine Bleistiftstrecke zurück, dann blieb sie sitzen und schlief in der warmen Herbstsonne ein. — stop
schirme
olimambo : 7.08 — Träume scheinen sich zu verhalten wie Fallschirme kurz nach einer Landung. Für einen Moment zeigen sie sich noch in ihrer vollen Pracht, dann sinken sie in sich zusammen, werden weniger und weniger, bis sie fast ganz unsichtbar geworden sind. – stop
eine chinesin
echo : 1.24 — Im Zug saß ich einer alten Frau gegenüber, die in einer chinesischen Zeitung las, ohne eine Brille zu verwenden. Das war deshalb bemerkenswert, weil die Zeichen der Zeitung sehr klein waren, aber nicht nur die Zeichen der Zeitung, sondern auch jene Schriftzeichen, die die alte Frau neben die Zeilen der Zeitung setzte, waren außerordentlich kleine Zeichen. Sie notierte mit einem Bleistift, den sie immer wieder spitzte. Und obwohl der Zug uns Reisende beständig erschütterte, wurden ihre komplizierten Schriftzeichen mit je einer sehr schnellen Handbewegung sicher auf das Papier gesetzt. Kein Blick zu mir hin. Aber ich spürte, dass sie meine beobachtenden Blicke selbst bemerkte. Nach zwei Stunden verließ die alte chinesische Frau den Zug. Sie sagte: Auf Wiedersehen! — Sehr helle Stimme. — stop
lichtzimmer
nordpol : 0.02 — Einmal träume ich von einem Haus ohne Fenster und ohne Türen. Die Zimmer des Hauses sind von strahlendem Licht erfüllt. Das Licht kommt aus dem Boden, den Wänden, von der Decke. In einer Ecke kauert ein Mann. Seine Augen sind gerötet. Er steht auf, geht auf unsicheren Füßen umher, sucht nach einem Schalter, vielleicht um das Licht zu löschen. Vögel leben in den Zimmern des Hauses, hunderte kleine Vögel. Sie fliegen hin und her, ohne jemals zu landen. – stop
dynamo
echo : 5.22 — Sind nicht vielleicht Fingergelenke als Dynamoapparate zu betrachten? — stop
am radio
zoulou : 0.08 — Als ich das Radio einschaltete, hörte ich, bei Ryan Air, einer Fluggesellschaft, sollen die Stückkosten, demzufolge die Kosten je transportierten Passagiers, erneut dramatisch gesunken sein. Weiterhin würden in einem Land des fernen Ostens bald Züge über das Land rasen, die stets sehr pünktlich sein werden, da sie auch von selbstmordenden Menschen niemals aufzuhalten sind, sie fahren immer weiter und weiter zu. Auf der ersten Seite einer spanischen Provinzzeitung sei ein leichtgewichtiger Hund zu sehen, der im Moment seiner Aufnahme von einer Elektrodrohne über ein Hausdach befördert wurde. Die Zahl der hungernden Menschen auf dieser Welt würde im kommenden Jahr erfreulicherweise um 10 Millionen auf unter 800 Millionen Menschen sinken. Das war gestern. — stop
das auge der ezmer
himalaya : 0.01 — Ich habe Palmira zunächst nicht wirklich ernst genommen. Sie erzählte vor einigen Wochen, das linke Auge ihrer Tochter Ezmer würde sich seltsam verhalten, ich hörte kaum hin. Gestern dann habe ich Mutter und Tochter zufällig in einer Straßenbahn getroffen. Tatsächlich schien sich das linke Auge der kleinen Ezmer in Richtung des nahegelegenen Ohres in Bewegung gesetzt zu haben. Die Frage, ob sie Schmerzen empfinde, verneinte Ezmer, auch könne sie mit ihrem wandernden Auge weiterhin bestens sehen. Sie fragte mich: Wo will es denn hin? Woraufhin Ezmers Mutter Palmira bemerkte: Mach Dir keine Gedanken, Kleines, dein Auge geht nur ein bisschen spazieren. — stop