lima : 9.15 UTC — Vor wenigen Stunden noch auf dem Sofa sitzend, beobachtete ich Esmeralda wie sie sich mir langsam über den hölzernen Boden meines Arbeitszimmers von der Diele her kommend näherte. Immer wieder einmal hielt die kleine Schnecke kurz an, betrachtete Strukturen des Holzes, Wirbel insbesondere, die sie aus irgendeinem Grund für bemerkenswert erachtete. Eine halbe Stunde später war sie bei mir auf dem Sofa angekommen, fuhr sogleich ihre Fühler in den Kopf zurück, um ein wenig zu schlafen. Gegen 22 Uhr weckte ich Esmeralda. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich nicht wusste wie ich Esmeralda präzise ansprechen sollte: Guten Morgen vielleicht, oder doch: Guten Abend! Welche Uhrzeit haben wir, dachte ich, gerade in Maryland? Ich überlegte einige Minuten lang, indessen Esmeralda mich aufmerksam zu betrachten schien. Dann schlief sie wieder ein. — Heute ist der 1. Mai. Regen. Nichts weiter. — stop
Particles: Mai 2017
ny
eine telefongeschichte
himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja sagte B., da hab ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
lions writers inc.
alpha : 17.25 UTC — Eine Notiz der Lions Writers Support Services. Inc., die ich an dieser Stelle mit großer Freude übersetzt wiedergebe, berichtet von Mr. und Mrs. Shapiro: > AUF NACH CONEY ISLAND. Als Mr. Sini Shapiro, wohnhaft zu New York ( Park Avenue 720 ), im vergangenen Jahr den dringenden Wunsch äußerste, endlich einmal seine Wohnung verlassen zu dürfen, um sich in der Stadt seiner Geburt umzusehen, waren wir mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Wie könnte es möglich werden, fragten wir, einen Kiemenmenschen, der zeit seines Lebens ein hochspezialisiertes Wasserhabitat in Manhattan bewohnt, einen Zugang zur Stadt zu ermöglichen, ohne ihn umzubringen. Sehr bald folgten wir einer konkreten Spur. Aus der nautischen Sammlung der Familie Landau, die auf Long Island lebt, erwarben wir einen Tiefseetaucheranzug, welcher zuletzt in den 40er Jahren der unterseeischen Minenräumung diente. Der Anzug selbst wog 240, Mr. Shapiro, ein zartes Wesen, 32 Kilogramm, die Maße stimmten, und der Anzug, wenn man ihn mit Wasser füllte, erwies sich als vollständig dicht über viele Tage hin. Am 5. Juni des Jahres 2016 unternahmen wir mit Mr. Shapiro einen ersten Versuch unter wirklichkeitsnahen Bedingungen. Getestet wurde in der Wohnung der Shapiros zunächst unter Wasser, ob Mr. Shapiros Leib sich in den Anzug fügte und ob er sich geborgen fühlen konnte. In einer zweiten Phase des Testes versuchten wir einen Eindruck von der Beweglichkeit des Anzugs zu gewinnen, immerhin war das Gefäß nun vollständig mit Wasser gefüllt. Der Taucheranzug, Mr. Shapiro plus Wasserfüllung, sowie angeschlossene technische Weiterungen, Filter und Pumpen, eine Fotokamera sowie zwei Funkkommunikationsmodule, wogen insgesamt 352 Kilogramm. Am 22. Juli dann in den frühen Morgenstunden von sorgenvollen Blicken seiner Frau begleitet, wagte Mr. Shapiro sich zum ersten Mal in das Leben jenseits der Schleusentüren seiner Wohnung hinaus. Der alte Mann wurde in sitzender Position über Aufzüge des Hauses vorsichtig zu einem Subaru — Sambar — Automobil transportiert, das sich, von einem Polizeifahrzeug eskortiert, bald langsam über die Manhattanbridge, kurz darauf über die Coney Island Avenue südwärts bewegte. Mr. Shapiro wollte das Meer mit eigenen Augen betrachten. Brooklyn, äusserte er später, gefalle ihm. / — stop New York City. May 3 2017 by Miu Gallane
ϱ
bamako : 0.05 UTC — Was präzise geschieht, wenn zwei Personen, die an oder in demselben Dokument arbeiten, innerhalb eines gemeinsamen Datentransferzeitraums simultan notieren. Die Verwirrung der Versionen vielleicht, rauschende Zeichen? ローマのロta — stop
late late blues
echo : 18.30 UTC — Samstag. Kaum auf den Beinen beschließe ich, ein Experiment zu wagen, an dem ich mich vor Jahren schon einmal versuchte. Ich wünschte, einen Gedanken genau so zu denken, als wäre dieser Gedanke der letzte meiner Gedanken. Die Beobachtung, dass sich bereits die Wahrnehmung eines letzten Gedankens in einer Zeit weit nach dem letzten Gedanken zu befinden scheint, als ob jedem Gedanken sofort ein Echo folgte. Vielleicht wird überhaupt jeder Gedanke niemals als Gedanke im Moment seiner Verfertigung, sondern immer nur in seiner Echospur für mich verfügbar sein. — Noch zu tun: Nachdenken über den Sandmann. — stop
die geschwindigkeit der wörter
tango : 22.30 UTC — Wie flink vermag ich mit einem Finger auf einem Bildschirm zu schreiben, wie schnell mit einem Sensorstift? Am schnellsten schreibe ich, wenn ich mittels Wörtern denke? Ich schreibe dann, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen, schreibe eine denkende Spur, die erinnert oder sofort vergessen werden könnte, wie jener Mann, der in einer Erzählung Patricia Highsmiths einen Roman nach dem anderen Roman im Kopf notiert. Das Schreiben per Hand auf Papier oder mittels einer Tastatur auf einem Bildschirm bewirkt vermutlich ohne Ausnahme eine Verlangsamung des Denkens, eine Präzisierung. Das sprechende, erzählende Denken scheint der Luft, den Vögeln verbunden, das schreibende Denken dem Wasser, den Fischen. Ich stelle mir vor, Menschen, die mich einmal schweigsam wahrgenommen haben, eine in sich gekehrte Person, werden diese Gedanken in einer völlig anderen Weise wahrnehmen, als jene Menschen, die einen sprudelnd erzählenden, mitteilungslustigen, Wörter sprühenden Mann erlebten. — stop
=
delta : 0.05 UTC — f i n g e r h u t
hrabal
ulysses : 0.12 UTC — Ein gutes Heft ist, würde Hrabal, wenn er noch lebte, vielleicht sagen, gut für die Ohren, etwas zu denken, aber von dem Gedachten nichts zu äußern. — stop
sekundenglück
romeo : 17.10 UTC — Adele, die in Südafrika geboren wurde, in Johannesburg genauer, in Soveto, sitzt auf einer Bank der Centralstation. Sie sollte eigentlich längst auf dem Weg zur Arbeit sein, es ist kurz nach zehn Uhr, stattdessen sitzt sie hier unter weiteren Menschen auf einer Bank und weint. Sie sagt, sie habe ihre Brille vergessen, ohne Brille könne sie nicht arbeiten, wenn sie heute nicht arbeiten würde, werde das sehr schlimme Folgen haben, man würde ihren Vertrag nicht verlängern, ohne Arbeit sei ihre Aufenthaltsgenehmigung bald verwirkt, sie müsse dann zurück nach Südafrika, ich könnte mir gar nicht vorstellen, was das für sie bedeuten würde, deshalb weine sie, deshalb sei sie ganz am Ende, nein, dass Lesebrillen existieren, die nicht einmal soviel kosten wie eine Wochenzeitung, das wusste sie nicht, das ist jetzt doch eine Überraschung, die wunderbar ist, Brillen gleich hier um die Ecke, Brillen die stark sind, nein wirklich! Wie sie jetzt aufspringt, wie sie zunächst auf die Uhr blickt, dann auf die kleine Skizze, die sie aus den Wörtern pflückte, die ich ihr erzählte, wie sie auf knallroten Turnschuhen losrennt, wie sie mit einem Lächeln zurück in der Menschenmenge verschwindet, so viel Glück, dass die Luft zu knistern beginnt, soviel Glück. — stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR : “Nach 31 Tagen im Hungerstreik im Evin-Gefängnis in Teheran geht es Atena Daemi gesundheitlich sehr schlecht und sie benötigt umgehend eine stationäre Behandlung. Sie ist seit November 2016 aufgrund ihrer menschenrechtlichen Aktivitäten zu Unrecht inhaftiert. / Am 8. April trat die iranische Menschenrechtsverteidigerin Atena Daemi im Evin-Gefängnis in den Hungerstreik. Sie protestiert damit gegen die Verurteilung ihrer Schwestern Hanieh und Ensieh zu ausgesetzten Gefängnisstrafen wegen “Beleidigung von Beamt_innen im Dienst”. Beide wurden am 13. März 2017 von einem Strafgericht in Teheran zu ausgesetzten Gefängnisstrafen von drei Monaten und einem Tag verurteilt. Laut der Familie von Atena Daemi hat sich ihr Gesundheitszustand sehr verschlechtert. Sie soll etwa 12 kg Gewicht verloren haben. Sie leidet an ständigem Schwindel, Erbrechen, Blutdruckschwankungen und großen Nierenschmerzen. Am 2. Mai verlor sie kurzzeitig das Bewusstsein. Sie wurde am 8. Mai für kurze Zeit in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht, in dem einige medizinische Untersuchungen durchgeführt wurden. Man brachte sie jedoch ins Gefängnis zurück, noch ehe die Untersuchungsergebnisse vorlagen. Ärzt_innen haben warnend erklärt, dass ihre Nierenentzündung einen kritischen Zustand erreicht habe und sie sofort stationär behandelt werden müsse. / Die Gefängnisbeamt_innen gewähren ihr jedoch keine angemessene medizinische Versorgung. Am 29. April erzählte Atena Daemi ihrer Familie, dass die Gefängnisärzt_innen in ihren Berichten weiterhin schreiben, dass ihr Gesundheitszustand normal sei und sie ihre Erkrankung nur “vortäuscht”. Ende April wurde sie in die Gefängnisklinik gebracht, um ein EKG zu erstellen, doch der Krankenpfleger weigerte sich, die Untersuchung durchzuführen. Er rechtfertigte seine Weigerung damit, dass es für männliches medizinisches Personal “unangemessen” sei, diese Untersuchung an Patientinnen durchzuführen, da sie dabei ihre Brust entblößen müssen. Weibliche politische Gefangene sehen sich häufig zusätzlichen Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung gegenüber, wenn sie Zugang zu medizinischer Behandlung suchen. Weiblichen Gefangenen mit abendlichen oder nächtlichen Herzproblemen wurden bereits bei mehreren Gelegenheiten Notfall-EKGs verweigert, da die Gefängnisbehörden darauf bestanden, dass diese Tests von weiblichem Personal durchgeführt werden, da die Patientinnen für die Untersuchung ihre Brust entblößen müssen. / Atena Daemi und der Rechtsbeistand ihrer Schwestern warten derzeit auf die Überprüfung der Schuldsprüche und Strafmaße durch das Berufungsgericht. Der Rechtsbeistand befürchtet, dass die Rechtsmittel zurückgewiesen werden könnten. Amnesty International betrachtet das Verfahren, das zu ihrer Verurteilung führte, als unfair und würde Hanieh und Ensieh Daemi bei einer Inhaftierung als gewaltlose politische Gefangene einstufen, die nur deshalb zur Zielscheibe wurden, weil sie mit Atena Daemi verwandt sind.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 20. Juni 2017 hinaus, unter > ai : urgent action
von der stille
himalaya : 20.12 UTC — Einmal spazierte ich durch New York an einem warmen Tag im April. Ich ging einige Stunden lang ohne ein Ziel nur so herum, manchmal blieb ich stehen und beobachtete dies oder das. Ich dachte, New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, um zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehen, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nachtmensch oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann von Zeit zu Zeit ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und für einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, was Menschen, die mir begegneten, erzählten. So ging ich damals dahin, ich glaube, ich spazierte im Kreis herum, berührte da und dort die Küste eines Flusses, und als es Abend wurde, besuchte ich Marina Abramovic, die seit Monaten bereits in einem Saal des Museums für moderne Kunst auf einem Stuhl saß. Wie sie Menschen erwartete, um mit ihnen gemeinsam zu schweigen, berührende Stunden, und ich dachte und notierte, wie ich heute wieder notiere, es geht darum, in der Begegnung mit Menschen Zeit zu teilen, es geht darum, die Zeit zu synchronisieren, in meinem Falle geht es darum, langsamer zu werden, um Menschen in der Wirklichkeit nahekommen zu können, es geht darum in dieser rasenden Welt von Stillstand, so langsam zu werden, und wenn es nur für wenige Stunden ist, dass ein Gespräch, eine Berührung, überhaupt möglich sein kann. Daran wieder erinnern, Tag für Tag. — Heute bin ich nicht in New York. Wo ich bin, schwebt ein dunkler, schlafender Zeppelin am Horizont, der möglicherweise bald aufwachen und blitzen wird. Ein schöner, nachdenklicher Tag, weitere schöne Tage werden folgen. Ich werde langsam lesen und langsam sprechen, und denken werde ich so langsam wie nie zuvor. Ich werde die Empfindung der Zeit zur Geschmeidigkeit überreden, ja, das ist vorstellbar, weiche, warme Stunden. — stop
chicago
india : 16.28 UTC — Einmal, ich habe vor zwei Jahren bereits davon erzählt, arbeitete ich im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie los werden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gern zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiere in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
washington
MELDUNG. Zu Washington im Opernhaus, 2700 F Street, werden am Mittwochabend, 17. Mai 2017, zwei goldgelbe Baumsteigerfrösche, letzte ihrer Art, öffentlich auf der zentralen Bühne zur Sprengung gebracht. Zündung des männlichen Tieres um 22 Uhr Ortszeit, Zündung des weiblichen Tieres um 22 Uhr 30. Die Vorstellung ist ausverkauft. – stop
in der schnellbahn
zoulou : 10.12 UTC — Gestern in der Schnellbahn las ich in meinem elektrischen Notizbuch folgenden Hinweis: Geschichte vom Papiersegler. Ich habe diesen Vermerk einer Geschichte, die sich irgendwo in meinem Kopf befinden muss, im August des vergangenen Jahres festgehalten, vermutlich in einer Schnellbahn fahrend. Auch in diesem Moment, wieder sitze ich in einer Schnellbahn, komme ich an meine Geschichte nicht heran. Sie kennen das vielleicht. Wie man nach einem Wort sucht oder einer Telefonnummer, in dieser Art und Weise suchte ich vor wenigen Minuten nach meiner Geschichte. Ich schloss also meine Augen oder öffnete sie, um vorüberziehende Waldlandschaft zu betrachten, der eigentliche suchende Blick aber war nach Innen gerichtet. Auch meine Gedächtnisohren waren indessen äußerst aufmerkam gewesen. Vielerlei Geräusche, aber nicht ein einziges Geräusch, das mich zu meiner Geschichte führte. Ich ahne, dass ich Geschichten oder Wörter, sobald ich sie gefunden habe, zunächst höre mit meinem Kopf, erst dann vermag ich sie zu lesen. Ich will das weiter beobachten. Jetzt muss ich aussteigen. — stop
ein papiersegler
ulysses : 17.52 UTC — Wie viele Geschichten habe ich in meinem Leben bereits vergessen? Es ist denkbar, dass ich, wenn ich mich von Zeit zu Zeit an vergessene Geschichten erinnere, meine, sie seien umfassend neue Geschichten. — stop
am telefon
marimba : 17.55 UTC — Plötzlich kracht es. Sie muss während unseres Gespräches in irgendetwas gebissen haben. Ja, sagt sie, ich habe furchtbaren Hunger, war den ganzen Tag in irgendwelchen Sitzungen, ich muss etwas essen, ich habe gerade in einen Apfel gebissen. — Das war wohl ein sehr fester Apfel, bemerke ich. Willst Du mal eine Banane hören, fragt sie? Das Meer vor Thessaloniki sei unruhig an diesem Tag, die Nächte sind wärmer geworden, auf den Straßen und Plätzen, in den Parks campierten noch immer tausende Flüchtlinge. Ich stelle mir vor wie L. mit lächelndem und doch ernstem Gesicht Obst verteilt, Brote, Tee, dann wieder in irgendwelche Sitzungen eilt, um hungrig zu werden. Bananen, das weiß ich nun mit Sicherheit zu sagen, sind kaum zu hören über eine Telefonverbindung hin. Was man von einer Banane in dieser Situation zu hören vermag, ist allein die Vorstellung, dass gerade eben in größerer Entfernung ein Mensch in eine Banane beißt. Ich höre demzufolge ein vorgestelltes Geräusch, weshalb ich sagen kann, dass die Vorstellungskraft wirkungsvoll sein kann wie ein Mikrophon oder wie eine Lupe. — Das war gestern. Heute ist es kurz vor sechs Uhr. Die Luft ist warm und feucht. Noch zu tun: Lektüre — Italo Calvino Herr Palomar. Nichts weiter. — stop
glück
charlie : 20.52 UTC — Am Ufer eines kleinen Sees auf einer Bank in einem Park kurz vor der Dämmerung. Da und dort Karpfenschnäbel, die etwas von der regenfrischen Luft zu trinken scheinen. Drei Ameisen hasten gleich neben mir hin und her über warmes, verwittertes Holz. Und da ist ein Falter. Er tastet mit seinen Fühlern nach Wortzeichen auf meinem beleucheten Bildschirm, vielleicht deshalb, weil das strahlende Weiß des Bildschirmhintergrundes Luft, Zeichen hingegen ein Etwas bedeuten, einen Schatten, mit dem kommuniziert werden kann. — Ich habe wieder einmal beobachtet, dass ich, wenn ich mit meinen Ohren nach Geräuschen suche, die nicht hörbar sind, meine Augen öffne so weit ich kann. Der Wunsch, einmal in meinem Leben, für eine halbe Stunde nur, über das Vermögen zu verfügen, den Sonarhupen der Abendsegler lauschen zu können. — stop
=
himalaya : 1.28 UTC — w a n g e n s c h n e e
früher morgen
lima : 7.30 UTC — Vor einiger Zeit einmal wachte ich auf und dachte: Heute wirst Du einen Text notieren, der reinen Unsinn erzählt. Ich trank einen Kaffee, ass einen Apfel, öffnete das Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Dort bewegten sich Menschen. Ich beobachte wie sie aus Straßenbahnen stiegen, wie sie die Straße überquerten, manche rauchten noch schnell eine Zigarette, andere telefonierten, manche durchsuchten ihre Taschen oder schauten in die Bäume, alle aber bewegten sich fast senkrecht vorwärts. Als ich ihnen so zuschaute, ahnte ich, dass es nicht einfach sein würde, einen Text zu schreiben, der reinen Unsinn erzählt. — stop
jonny
ulysses : 6.25 UTC — Was für ein schöner Morgen unter Kastanienbäumen. Sommerfäden treiben durch die warme Luft. Atemzüge der Spinnen, der Falter, der Käfer, sanft streifen sie durch Blütenstaubwolken. In diesem Moment, da ich mir ein Baummikroskop erfinde, höre ich aus dem Radio, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika habe versucht, Ermittlungen des FBI zu behindern. Das ist eine ziemlich interessante Geschichte. Das Kurzwort FBI war schon immer ein leuchtendes Wort. Wenn ich mich nicht irre, ist das so, dass ich in meinem wirklichen Leben noch nie einem FBI — Beamten begegnet bin. Vielleicht habe ich einmal in einer U‑Bahn, die in Richtung Coney Island fuhr, neben einem FBI — Beamten Platz genommen, das ist möglich, ich habe ihn nicht bemerkt. Mit dem Wort FBI ist in meiner Erinnerung zunächst ein heftiges Gespräch verbunden, welches ich einmal in meiner Kindheit mit einem Jungen namens Jonny führte, der war uniformiert und bewaffnet gewesen zur Karnevalszeit. Ich sagte: Du, Jonny, Du bist Polizist! Er sagte: Nein, ich bin vom FBI, und zückte seine Waffe. Seit etwa einer halben Stunde trage ich die Formulierung Summer of Sam wie einen Stempel in meinem Kopf. Warum? — stop
turingluftmaschine
sierra : 0.05 UTC — Bis in den späten Abend bei geöffneten Fenstern über das Wesen nichtdeterministischer Algorithmen nachgedacht. Da war plötzlich wieder ein sehr helles Propellergeräusch an meinem Ohr, ein vertrauter Ton, den ich seit Kinderzeit erfinde, aber immer dann, wenn ich dieses Geräusch summieren wollte zu einem Geräusch hunderttausender Fliegentiere, der Verdacht, dass mit meiner Erinnerung etwas nicht ganz in Ordnung sein könnte. Ein Schwarm der Ordnung Ephemeroptera ist in der Luft kaum zu vernehmen. Habe fünf oder sechs Schwarmerscheinungen in der Wirklichkeit beobachtet, sie sind lautlos wie wirbelnder Schnee. Und doch war da stets ein besonderer Ton, sobald eine Fliege dicht an meinem Ohr vorüber gekommen war oder in nächster Nähe auf mir landete. – Ein zartes Klappern vielleicht? – Weiterhin Luftgeräuschworte erfinden. — stop
taormina
von kakteen
ulysses : 19.35 UTC — Einmal wollte ich einen Text notieren, der möglichst noch nie zuvor aufgeschrieben wurde. Ich wollte diesen Text in das Magazin einer Servermaschine transferieren, versehen mit einer allgemeinen Anweisung für Suchmaschinen, diesen Text nicht zu beachten. Ich plante demzufolge mittels einer Verlockung ( Textköder ) sowie einer Anweisung für entsprechende Verzeichnisse ( .htaccess noindex ) zu erproben, ob Suchmaschinen meinen Wunsch wahrnehmen und akzeptieren, oder ob sie meinen Wunsch wahrnehmen und sich ihm widersetzen werden. Ich notierte: marimba : 8.02 – Palmengarten. stop. Wüstenhaus. stop. Das feine Geräusch der Kakteen, sobald ich ihr Stachelhorn mit einem Pinsel, einem Mikadostäbchen, einem Finger berühre. Hell. stop. Federnd. stop. Propellernd. stop. Klänge, für die in meinem suchenden Wortgehör noch keine eigene Zeichenfolge zu finden ist. stop. stop. Die Stille beim Durchblättern eines feuchten Buches in der Mangrovenabteilung. stop. stop. Zweiter Versuch. — Ich könnte vom heutigen Tage an Suchmaschinen als Lebewesen betrachten, die über Wille, Lust und Laune gebieten. — stop
lappo
nordpol : 12.30 UTC — Ein anderes Mal beobachtete ich einen Filmbericht, der von Menschen erzählte, die auf der Insel Lappo in Meeresnähe sehnsüchtig den Winter wie einen Besucher erwarten, dass das Meer endlich gefriert, dass sie bis nach Turku über das Wasser laufen können. Eine Frau sagt, sie liebe die Stille im Ohr. Diese Stille sei wie ein Geräusch für sich. Man könne der Stille zuhören. Manchmal knistere das Eis, im Sommer summten Insektentiere durch Luft und Stille. — Eben fällt mir ein, dass ich vor längerer Zeit bereits den Auftrag formulierte, Schneelibellen zu erfinden. Fangen wir an. — stop
=
delta : 0.26 UTC — l e b e r b l ü m c h e n
ein koffer
delta : 16.12 UTC — Ich weiss nicht, wohin die Vögel schlafen gehen, stellt Hilde Domin einmal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem geliebten Mann begegnete, dass sie wunderbare Gespräche führten, dass sie sicher ein Jahr brauchten, um sich zum ersten Mal zu küssen. Wir waren sehr förmlich. In der 45. Minute des wundervollen Films Ich will Dich — Begegnungen mit Hilde Domin von Anna Ditges will die junge Filmemacherin wissen, ob Hilde Domins Ehemann ein guter Liebhaber gewesen sei. Hilde Domin antwortet mit trockener Stimme: Ich hatte keinen anderen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich find, ja. Sie macht ein längere Pause. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm niemanden geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurückhaltend war wie ich. Meine Freundinnen waren alle anders. Anna Ditges: Er war der einzige Mann, den Du je gekannt hast? Hilde Domin antwortet: Ja! Anna Ditges: Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist? — Hilde Domin: Jedenfalls hab ich keine andere. Weisst Du, der lebendige Mensch ist der lebendige Mensch. Und der Mensch, der nur noch in meiner Vorstellung ist, das ist nicht dasselbe. — In diesem Augenblick erinnere ich mich an eine Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervorgespäht. Später wurde mir warm, wenn ich das Bild betrachtete. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit fürchtete. Weinen und Lachen falten sich wie Hände sich falten. Mutter irrte wochenlang zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. Sie geht noch immer, Jahre sind vergangen, so umher. – stop
bei harrods
MELDUNG. Automobile, folgende, wurden nach einem Kaufhausbesuch zu London in Martha B., 91, vorgefunden. Magen — 1 Bentley Continental [ 1952 ], Dünndarm — 1 Lamborghini Miuri [ 1964 ], Dickdarm — 2 Citroen B12 [ 1912 ]. Ein nachsichtiger wie wohlmeinender Richter hatte die Durchsuchung des hochbetagten Bauches einerseits, sowie unmittelbare Rückführung der Fahrzeuge in das Warenhaus Harrods an der Brompton Road andererseits, angeordnet. — stop