india : 1.15 – In Indien, der Regen, der nicht fallen will, nehme sich jede 8. Sekunde ein Baumwollbauer das Leben. – Ist das eine Nachricht? — stop
Sammlung
die privatheit der engel
echo : 0.28 – Wovon ich nicht berichtet habe, am Mittwoch bereits ist mir ein Fieberengel zugeflogen. Jetzt kommen sie schon im Oktober angereist, wollen getröstet, wollen unterhalten werden. Der Engel, von dem ich gerade spreche, lungert seit zwei Tagen in meiner nächsten Nähe auf Kissen herum. Ein Anblick, der mich nicht einschlafen lässt, das Beben seines Gefieders, Herbstlaubfarben, die über einen blassen Körper stürmen. Durch hohe Temperaturen, die in seinem Inneren brennen, ist der kleine Engel so matt geworden, dass ich ihn in eine Hand legen, dass ich ihn wiegen konnte. Eine leichte Person, 80 g, sitzt in diesen Minuten, da ich meinen Text notiere auf meiner Schulter links nicht ohne Grund. Ich hatte meine Particlesarbeit betont und dass ich dort von seiner Gegenwart erzählen würde. Man ahnt nichts von der Wildheit ihres Wesens. Meinen Namen solltest Du nicht erwähnen! Ich warne Dich, flüsterte der Engel. Er saß im Moment seiner Drohung auf dem Stiel eines Löffels in meiner Küche, steckte die Spitze einer Feder in warmen Honig und dozierte von Geheimnissen, die Engel und Menschen umgeben. Du und ich! So sitzt er also und beobachtet, was ich gerade notiere. Ich weiß, ich könnte, ein Wort zu viel, sofort in Flammen aufgehen, also hör ich besser auf. — Eine halbe Stunde nach Mitternacht, der letzte Tag des Oktobers ist angebrochen. – Gute Nacht!
ohrensegel
whiskey : 0.01 – Gespräch mit einer kleinen Philosophin am frühen Abend in einer Straßenbahn, weswegen ich nun für den Rest meines Lebens gerührt sein werde von einem ihrer Gedanken, der mir zu erklären versuchte, weswegen ihre Ohren etwas größer seien als die Ohren ihrer besten Freundin. Das wäre nämlich so, dass ihre Ohren deshalb größer seien, weil sie viel weniger sprechen würde als ihre Freundin üblicherweise. Ich kann, fuhr sie fort, mit meinen Ohren sogar meine eigene Stimme hören, obwohl ich gar nichts sage. Blinde segelten durch die Luft. — stop
kakaduzwerge
ginkgo : 6.55 – Ein schläfriger Mann sitzt in diesen Minuten mit einer Schreibmaschine auf dem hölzernen Boden seines Arbeitszimmers. Habe zuletzt zwei Stunden in Christoph Ransmayrs letzter Welt gelesen, in einem Buch, das ich immer dann zur Hand nehme, wenn mir die Sprache müde zu werden scheint. Der Mai kam blau und stürmisch. Ein warmer, nach Essig und Schneerosen duftender Wind fraß die letzten Eisrinden von den Tümpeln, fegte die Rauchschwaden aus den Gassen und trieb zerrissene Girlanden, Papierblumen und die öligen Fetzen von Lampions über den Strand. (Christoph Ransmayr). Kaum hatte ich das Wort Schneerose zu Ende gelesen, stand ich auf und wartete erhitzt zwei oder drei Minuten vor meinem Aquarium. Dort wohnen seit einigen Monaten Wälder und Fische, die mich im Zwielicht schwebend, Stunde um Stunde beobachten. Einmal, gegen Zwei, entfaltete ich einen Stadtplan New Yorks. Das machte sie wild. Dann wieder Ruhe. Flossenfäden. Flugdrachenschwänze. Und dieser Mann, dieser schläfrige Mann, der sich wieder und wieder nähert. Seine Freude, dass ihn das Wort Schneerose, indem es dem Wort Essig folgte, derart begeisterte, dass ihm warm wurde, feurig und alle diese Dinge. Aber natürlich, aber natürlich erneut die Frage, ob meine Kakaduzwerge mich als einen der ihren, als einen Fisch betrachten. — Guten Morgen!
seelenvögel
tango : 0.01 — > s e e l e n v ö g e l
dorothy parker
india : 23.12 — Ein seltsamer Traum. Als ich erwachte, stolperte ich unverzüglich zum Schreibtisch und notierte: Mit Dorothy Parker spaziert. Manchmal frage ich mich, wie meine Träume entstehen, wie ich dazu komme, mir Geschichten zu erzählen, die von kosmischer Ferne sind, obwohl ich doch selbst in ihnen enthalten bin. Vor dem Hotel im Traum, 37. Straße West, wartete eine uralte, strahlend schöne Frau, die nach meinem rechten Arm verlangte, ohne ein Wort zu sprechen, eine geschmeidige, eine unwiderstehlich reizende Geste, und schon waren wir auf dem Weg dem Süden zu. Winterzeit, die Straßen dampften. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Die alte Frau trug einen schweren, dunklen Pelzmantel, feine Lederhandschuhe von weißer Farbe und einen roten Hut, auf den ich herabsehen konnte, weil die Gestalt an meiner Seite sehr zierlich gewesen war. Ich kann mich nicht erinnern, wer nun wen durch Manhattan führte, jedenfalls passierten wir den Broadway, die Bowery, die Brooklyn Bridge. Wir mussten lange Zeit unterwegs gewesen sein, weil Mrs. Dorothy Parker, die sich selbst im Traum nicht zu erkennen gab, sehr, sehr langsam ging. Einmal hob ich sie hoch und trug sie eine Weile und sie schlief in meinen Armen ein. Dann erreichten wir den Prospect Park, eine Gegend, die mir bekannt zu sein schien. Da war eine Kreuzung. Und da war Harvey Keitel, der fotografierte. Er kam auf mich zu und betrachtete das Gesicht der alten Frau und lächelte und erkundigte sich, ob ich denn wüsste, wen ich da in den Armen halten würde. — Und jetzt ist wieder Nacht geworden und ich habe gute, sehr gute Laune und funkende Lust traumwärts weiterzuerzählen. Wie nur komme ich über den Atlantik hinweg genau an den Ort meiner kleinen Schlafgeschichte zurück?
napapiin
india : 6.22 — Schaute gegen den Himmel. Bemerkte, dass sich die Dunkelheit wie eine Flüssigkeit verhielt. Vögel hüpften in dieser feuchten Lichtlosigkeit in Kastanienbäumen von Ast zu Ast, ein traumartiges Bild. Vielleicht habe ich etwas gesehen, das ich nur deshalb beobachten konnte, weil ich ohne jeden Grund auf der Straße stand, wie aus einem Versehen heraus, ein Mann, der die falsche Tür genommen hatte. Jetzt, etwas später, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelandet war, weil ich insgeheim wünschte, mit meinen Gedanken an den gewaltsamen Tod eines Torhüters, unter freiem Himmel zu stehen. Und wie ich so wartete, hörte ich die Stimme seiner mutigen, jungen Frau in meinem Kopf, eine Stimme, die versuchte, von all dem Wahnsinn, dem Wahnsinn des Verheimlichens zu sprechen. Da war einmal ein Mensch gewesen, der nicht weiterleben konnte, der sterben musste, weil er seine Verletzlichkeit, seine Schwäche, seine Menschlichkeit nicht zeigen durfte oder glaubte, sie nicht zeigen zu dürfen. So könnte das gewesen sein. Ein Mensch, der lange Zeit über Wasser hastete. So weit ist er gelaufen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewesen war. — 2 Uhr und fünfzehn Minuten. Die Welt dreht sich, um einen Atemzug langsamer geworden, weiter, immer weiter. Soeben wurde amtlicherseits die Öffnung folgender Weihnachtspostämter, nördliche Hemisphäre, bekannt gegeben: Nordpol-Grönland Santa Claus Nordpolen, Julemandens Postkontor DK-3900 Nuuk / Finnland Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napapiin / USA Santa Claus Indiana 47579.
rund
pupille : 23.56 — Die Sonne ist rund.
01001010
echo : 0.02 — Eine Fotografie, die ich lange Zeit vergeblich wiederzufinden suchte, zeigt die Raumstation MIR in großer Höhe über der Erde schwebend. Ich kann mich noch gut an das farbige Bild erinnern, vielleicht deshalb, weil ich mich die Aufnahme tagelang berührte. Ein Bullauge, dort das Gesicht einer Frau, deren Namen ich vergessen habe, ein ernstes Gesicht, Ahnung, Schatten, Züge einer russischen Kosmonautin, die Monate alleine auf der MIR-Station lebte. Sie beobachtet die äußerst behutsame Annäherung eines Raumschiffes der NASA, in dem sich Menschen befinden, die mittels Funk vermutlich bereits Kontakt aufgenommen haben: Wir sehen Dich! — Da war das tiefe Schwarz des Weltalls im Hintergrund, ein absolut tödlich wirkender Raum, der sich zwischen den beiden Raumkörpern erstreckte. Immer wieder einmal in den vergangenen Jahren habe ich mich an das Gesicht der Kosmonautin erinnert, eine Ikone menschlicher Verlorenheit, und insgeheim weiter gezeichnet. — stop
central park
tango : 0.10 – Man lässt sich abends treiben, sitzt mit Schreibmaschine auf dem Sofa, schaut Regen zu, liest da einen Satz und dort einen Satz, und wartet darauf, dass sich der Kopf endlich entfalten möge. — Einmal suchte ich nach Spuren zweier Eichhörnchen, nach Billy, nach Frankie, und landete im Central Park im Winter, und zwar im Jahre 1902. Genau genommen landete ich in einem magischen Film, der von Mitarbeitern der Thomas Alpha Edison Inc. bei Eis und Schnee aufgenommen worden war. Ich stellte mir vor, wie die Kälte das Öl der Kamerakurbel fester werden ließ, sodass ein Pfeifen zu hören gewesen sein könnte und der Kameramann fröstelte. Ja, so genau muss das gewesen sein, weswegen der kleine Film, festgehalten in einer Zeit lange vor meiner Zeit, auch heute noch zu beben scheint. Ich muss ihn noch finden. — stop
echo
echo : 0.15 — Folgendes. Wenn Sie diese hin und her gefaltete Zeile lesen und immer weiter lesen, werden Sie einer kleinen Geschichte begegnen, die ich in der vergangenen Woche bereits notierte und gesendet habe. Eine Fotografie war damals hinzugefügt, und weil ich sehr müde gewesen war, legte ich mich schlafen, um zwei oder drei Stunden später mit dem Gedanken wach zu werden: Nein, Louis, nein! Das ist kein guter Text, den Du da gesendet hast! Ich hastete also zum Schreibtisch und löschte den Text, und auch die Fotografie, und schlief sofort sehr zufrieden wieder ein. Kaum eine Stunde ist vergangen, seit ich den Text noch einmal gelesen habe. Ich wunderte mich, weil mich die Geschichte nun doch berührte, und ich ahne sehr gründlich, warum das so ist. Hier also ist meine kleine gelöschte Geschichte ohne Fotografie, eine Geschichte, die von einem Spaziergang erzählt, der mich über einen Nachtflughafen führte. Still war die Zeit, überall in den Hallen und auf den Fluren lagen schlafende Menschen herum. In einem besonders großen Saal aber schaukelten zwei Männer durch Luft, die Glühbirnchen in Fassungen schraubten, um weihnachtliche Stimmung zu erzeugen. Beide waren sie gut gelaunt, machten Späße und erzählten sich lauthals irgendwelche Geschichten, sie hatten ganz ohne Zweifel viel Freude mit ihrer Arbeit unter dem gläsernen Gewölbe an Seilen hängend. Einmal kamen sie auf den Erdboden zurück. Sie standen etwas unsicher auf den Beinen und flatterten mit ihren Armen. Als ich mich erkundigte, ob ihnen vielleicht schon irgendwann eine Glühlampe von der Decke gefallen und zerbrochen sei, antwortete einer der Männer: Nein! Niemals! Ich machte dann eine Aufnahme, merkwürdig, dieser Moment, da sie zur Flughafenschwebebahn schlenderten. Denn genau in dem Augenblick, als ich den Auslöser der Kamera drückte, war ich mir sicher gewesen, dass die zwei Männer in ihren blauen Anzügen auf meiner Fotografie später nicht zu sehen sein würden. – So, das war meine Geschichte, die in der vergangenen Woche verschwand. Jetzt ist sie wieder da und wird vermutlich bleiben. Kurz nach Mitternacht. Ich trage das schöne Wort Gandhineuron in meinem Kopf.
times square
sierra : 1.30 – Und wieder, immer wieder, auch heute Nacht, das Schreiben im Stehen, weil das Stehen sich in der Nähe des Gehens befindet, das Sitzen aber in der Nähe des Liegens, also des Schlafens. — stop
regenschirmtiere vol.2
tango : 22.28 — Seit einigen Tagen denke ich, sobald ich lese, begeistert an Neurone, Synapsen, Axone, weil ich hörte, dass ich mittels Gedanken, die Anatomie meines Gehirns zu gestalten vermag. Vorhin, zum Beispiel, ich folgte der Ankunft eines Schiffes in New York im Jahre 1867, überlegte ich, was nun eigentlich geschieht in diesem Moment der Lektüre dort oben hinter meinen lesenden Augen, ob man verzeichnen könnte, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wieder aufgerufen wird, frische Fädchen gezogen werden, indem sich das Wort schrittweise mit einer unheimlichen Geschichte verbindet. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schlafend, Stunde um Stunde, Geräusche fallenden Wassers vernehme? In der vergangenen Nacht jedenfalls habe ich wieder einmal von Regenschirmtieren geträumt, sie scheinen sich fest eingeschrieben zu haben in meinen Kopf, vielleicht deshalb, weil ich sie schon einmal nachtwärts gedacht und einen kleinen Text notiert hatte, der wiederum in meinem Gehirn zu einem bleibenden Schatten geworden ist. Natürlich besuchte ich meinen Schattentext und erkannte ihn wieder. Trotzdem das Gefühl, Gedanken einer fernen Person wahrgenommen zu haben. Die Geschichte geht so: Von Regenschirmtieren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich so durch die Stadt ging, beide Hände frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und ich staunte, nie zuvor hatte ich eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, die Flughaut der Abendsegler. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnete noch immer. Jetzt sitze ich seit bald einer halben Stunde mit einer Tasse Kaffee vor meinem Schreibtisch und überlege, wie mein geträumter Regenschirm sich in der Luft halten konnte. Ob er wohl über Augen verfügte und über ein Gehirn vielleicht und wo genau mochte dieses Gehirn in der Anatomie des schwebenden Schirms sich aufgehalten haben. — stop
segelohren
whiskey : 23.33 — Manchmal, wenn ich nach Wörtern, Sätzen, Auswegen suchend durch meine kleine Wohnung spaziere, glaube ich, auf einem Boden zu handeln, der nicht fest ist, der schwankt, der schlingert. Ich gehe dann sofort andersherum, dieselbe Strecke oder einmal kurz aus dem Haus rüber zum See, der in diesen Tagen längst zugefroren sein müsste. Das hilft gegen Seekrankheit auf dem Nachtschiff und alle weiteren Dinge. — Kurz vor Mitternacht. Ruhige, entspannte Arbeitsstunden stehen bevor. Ich hatte seit dem frühen Abend eine Frage in meinem Kopf so lange vergeblich hin und her bewegt, dass ich sie nun guten Gewissens zur Seite legen kann. Sie wird wiederkommen. Ich versuchte nämlich zu verstehen, weshalb Barack Obama auf den Einsatz der Landminenwaffen, die insbesondere gegen zivile Menschen wirken, nicht verzichten will oder kann. In diesen Momenten der Irritation, wieder die Ansicht, wie viel ich nicht weiß, eine Ahnung, die sich nur schwer weiterdenken lässt. Aber die Herzen der Tiefseeelefanten sind mir bekannt, sind vertraut, kommen näher und näher wie ihre Ohren, fantastische Hautsegelflächen, die sie sanft über den sandigen Boden des Atlantiks tragen. – Gute Nacht!
grüne schuhe
lima : 22.02 — Beobachtung des New Yorker Polizeifunks. Scheppernde Stimmen, als würde man Transparentpapier beatmen, Sprache von Zahlen, von Codes. Gelegentlich Passagen, die Geschichten erzählen. Eine lauthals singende Frau im Central Park, Höhe Dakota Building, sie kehrt als Spur, als Wörterinsel immer wieder zurück, man vermutet, dass sie vielleicht verrückt sein könnte. Die Frau ist etwa 50 Jahre alt, trägt grüne Schuhe, Blue Jeans, eine beige Jacke und läuft im Kreis herum. Einmal will man ihre Papiere überprüfen und da hörte ich im Rauschen des Äthers tatsächlich eine hell schimmernde Stimme. — stop
franny and zooey
foxtrott : 10.00 — Flugzeug über Atlantik quer. 7 Stunden 25 Minuten. Bewegung auf dem Bildschirm wie Dämmerung, wie Eisschmelze, wie Graswachsen. Luft von Zimt, Mundvoll Lebkuchen. So liegen, ein Auge ruhend auf Pixelmeer, das andere auf Salingers Franny. Wispernde Stimmen der Manhattenoffizers, leise Aufnahme, einen Tag festhalten, eine Nacht. Das Wasser des Grönlandeises, noch langsamer als das Älterwerden und so sicher, so ausgemacht, wie es im Süden nach den Häusern der armen Küstenmenschen greift. Man hört das nicht, man denkt das nicht. Es ist längst schon eingearbeitet, vielleicht, in jede Erwartung. Luft von Zimt, Mundvoll Lebkuchen. Ein Auge ruhend auf dem Meer, das andere auf Franny. Coltrane, John: A love supreme. Zeit vergeht. — stop
hibiscilli!
tango : 6.00 — c u c u r r u c u
ein kleiner engel
ulysses : 0.03 – Es ist Sonntag, aber noch nicht lange. Genaugenommen ist Samstag, aber auch nicht richtig Samstag, weil ich diesen Text am Freitag, am Abend nämlich, geschrieben, ihn am Samstagmorgen in meine WordPressmaschine gefüllt und sofort Anweisung gegeben habe, ihn am Sonntag kurz nach Mitternacht sichtbar werden zu lassen. Es ist also ein merkwürdiger Sonntag, ein Sonntag der Abwesenheit und der Anwesenheit zur gleichen Zeit, ein großes Vergnügen. Aber eigentlich wollte ich rasch eine kleine Geschichte erzählen. Ich habe, ganz unglaublich, vor einer Stunde einen kleinen Engel, den ich seit Tagen vermisste, wiedergefunden. Ich stand bei leichtem Regen mit meiner Kamera vor einem Karussell, weil ich versprochen hatte, einen Film vom wärmenden Drehlicht aufzunehmen. Plötzlich saß der kleine Engel, wir kennen uns schon lange, auf meiner Schulter, leicht wie eine Mozartkugel. Er wollte wissen, ob er denn auf dem Film, den ich gerade aufgenommen hatte, zu sehen sein werde, und ich fragte natürlich unverzüglich zurück, was er überhaupt hier tun würde und ob er sich nicht denken könne, dass ich mir Sorgen gemacht habe während der vergangenen Tage. Aber mit Engeln ist das so eine Sache, sie genügen sich selbst, machen, was sie wollen. Sie fliegen, nur so zum Beispiel, mit oder neben einem Karussell durch die Luft, weil sie die weiten, die gefährlichen Reiserouten üben, atlantische Strecken, sagen wir, viele Tage über Wasser dahin in der Geschwindigkeit der Bienen. Ich weiß nun, ich ahne, auch dann, wenn sie schlafen, segeln sie immerzu weiter. – Guten Abend. Guten Morgen. Gute Nacht.
nachricht
delta : 0.02 — Jede 6. Sekunde stirbt auf dieser Welt an Nahrungsmangel ein Kind. — Ist das eine Nachricht? — stop
engelgeschichte für geraldine
delta : 0.03 — Vor langer Zeit habe ich eine kleine Geschichte geschrieben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen warum, ich habe diese Geschichte bereits zweimal aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie aber nie gelöscht. Als ich gestern nun über die Kindheit eines Mädchens nachdachte, das in einer vornehmen Gegend Manhattans aufgewachsen ist, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich werde sie jetzt für Geraldine an dieser Stelle endgültig notieren. Liebe Geraldine, wo auch immer Du sein magst, diese folgende Geschichte gehört Dir. Hör zu: Einmal, immer nur einmal im Jahr, kommen die Engel der Stadt New York in einer Kirche zur großen Versammlung geflogen. Die steinernen Engel kommen von den Friedhöfen her, die hölzernen Engel aus den Gartenlauben, kostbare Porzellanengel öffnen ihre Vitrinen und segeln über den Hudson durch die kühle Abendluft. Auch von den Tapeten steigen Engel auf, verlassen ihre Postkartenzimmer, Bücher und Zeilen, in welchen sie vermerkt worden sind Zeichen für Zeichen. Sie steigen aus den Träumen der Kinder, der Mütter, der Väter, wie Menschen aus Straßenbahnen steigen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwingen fühlen, werfen sie ihre Goldstaubmäntel von den Schultern, springen aus Badewannen, stark schon unterm Wasser geschmolzen, löschen das Licht, das auf ihren Köpfen flackert, umflattern noch einmal kurz die Häupter der steinernen Marien, auf deren Händen sie um ein weiteres Jahr gealtert sind. Es ist kaum richtig Nacht geworden, da kann man es in den Kellern schon ächzen hören, wenn sie sich mit vereinten Kräften gegen die schweren Deckel der Truhen stemmen, in denen sie aufgehoben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezember in Manhattan, Queens oder Brooklyn am richtigen Tag zur richtigen Stunde vor einen Engel setzen. Sobald es dunkel geworden ist, setzt man sich hin und wartet. Man wartet nicht lange, man wartet eine Stunde oder zwei und plötzlich ist der Engel fortgeflogen. Nach Süden ist er geflogen, oder nach Norden, auf kürzestem Weg vorbei an bebenden Vögeln zur größten Kirche der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Überall sitzen sie inzwischen bis unter die Gewölbe, auf der Kanzel, den Betstühlen, den heiligen Figuren, auch auf den Mosaiken des Bodens, den Chören, dem Altar, den Verstrebungen der Kreuze, den Knochenfiguren, ja, auf Christus selbst haben sie Platz genommen. Sie sind alle sehr leicht. Im Grunde wiegen sie nichts. Sie sind von der Schwere eines Wunsches und sprechen in einer von keinem Forscher erschlossenen Sprache. Fröhliche Engelgestalten, jawohl. Sie lachen, das Lachen der Engel, wie tolle Fledermäuse lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mitternacht ist’s geworden, kommt einer der drei großen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, wurde aufgehalten im Auftrag befindlich, einmal ist es Gabriel, dann Raphael, dann Michael. Sehr langsam, ein Künstler des Fliegens, schwebt er herein, nimmt Platz auf den Stufen, schlägt die Beine übereinander und leuchtet. Ruhig sieht er unter die Versammlung, während er seine gewaltigen Schwingen hinter dem Rücken faltet. Jetzt werden die kleinen Engel andächtig und still. Vereinzelt kommt noch ein vergesslicher Kundschafter durchs Kirchenschiff gerast, da und dort trudelt ein betrunkenes Federwesen von höherer Stelle. Ist dann alles schön geordnet, erhebt der Erzengel seine Stimme. Es ist ein Singen, ein wunderbarer Altsopran, eine unerhört schöne Sprache. Er sagt: Guten Abend, Engel.
warenmenschen
olimambo : 0.01 — Ein Film, der den Alltag sehr armer Menschen in Kairo dokumentiert. So arm sind diese Menschen, dass sie Teile ihres lebenden Körpers verkaufen. Und ich dachte noch: Du darfst nicht vergessen, was Du gerade wahrgenommen hast, solltest überlegen, was das mit Dir persönlich, mit Deiner Existenz zu tun haben könnte. Einige Stunden später hatte ich die 5‑Minutenfilmgeschichte, die der wirklichen Wirklichkeit unserer unheimlichen Zeit entnommen worden war, insofern verloren, da ich mich an sie erinnerte, als hätte ich Jahre nicht an sie gedacht, indem ich das Wort Warenhausmenschen, von eigener Hand notiert, auf einem Schreibtischzettel wiederentdeckte. — Ein Schriftzug. Der Schriftzug eines Fremden von einer Sekunde zur anderen Sekunde. Warum? — stop
schäume
echo : 5.03 — Entdeckte, dass sich Spuren, die Menschen ihren Leben hinterlassen, ähnlich der Spur eines Ozeandampfers verhalten, der hinter dem Horizont verschwunden ist. Sichtbar sind sie noch, obwohl längst vergangene Wesen, Schriftzeichen, Bilder, Noten, Fotografien, murmelnde Schäume. Konnte meinen Blick nicht lösen: Nathalie Sarraute, wie sie verloren neben Samuel Beckett steht, der eine Rauchwolke beobachtet, die Monsieur Pinget’s Mund entkommen sein könnte. — stop
caravelle
romeo : 0.02 — Ich überlegte, ob ich, wenn ich bei wolkenlosem Himmel in 33000 Fuß Höhe befindlich aus einem Flugzeugfenster spähen würde, ein Schiff erkennen könnte, ein Schiff von der Größe der Queen Mary sagen wir, einen Luxusdampfer, der zur Zeit meiner Geburt noch regelmäßig zwischen New York und Southampton über den Atlantik hin und her gependelt war. Ich stellte mir zunächst einen Berg vor von entsprechender Höhe, einen Berg, der Himmel und Flugzeug berührte, kurz darauf ein Schiff. Und ich ahnte sehr bald, dass ich das Schiff wohl eher nicht, vermutlich aber die ihm folgende Spur im Wasser erkennen würde, Wellen und Wirbel von Luft. Eine junge Frau, so unsichtbar wie das Schiff, an dessen Heck sie steht, betrachtet die Spur, die das Schiff im Wasser hinterlässt. Einmal wirbelt eine Bö ihren Hut durch die Luft. Sie schaut zum Himmel. Ein Blitzen vielleicht. Ten-four. Charlie. Charlie. Kurz nach Mitternacht. Klirrende Kälte. — stop
ohrenfeigen
marimba : 6.05 — o h r e n f e i g e n
hello world
olimambo : 22.15 — Guten Morgen, Louis! Hello World!
dezember
echo : 20.55 — Im vergangenen Jahr noch, Mitte Dezember, wurde mir von einem jungen Moslem, dem ich gewogen bin, weil wir über seinen und über meinen Glauben sprechen können, ohne beleidigend oder abwertend sein zu müssen, ein Geschenk überreicht, ein kleines Buch, verbunden mit der dringenden Empfehlung zur Lektüre. Das Büchlein soll viel Licht enthalten, Weisheit, Wahrheit, Freiheit und auch Glück, weil es mir, so der Schenkende, beweisen werde, dass ich, der Autor dieser Zeilen, nicht von den Affen abstammen könne. Das Werk ist 18 cm hoch, 12 cm breit und 68 Seiten stark. Seit Wochen, eine Drohung, liegt es ungeöffnet auf meinem Schreibtisch. Und auch heute Nacht wird das nichts werden mit der Lektüre, weil ich Schneeflocken zählen, John Coltrane lauschen und über Geschichten nachdenken werde, die mir eine junge Indianerin erzählte, deren Schwester seit langer Zeit in den Wäldern Guatemalas verschwunden ist. Wie ihr das Wort Guerilla leicht von der Zunge fliegt, vielleicht weil das Wort schon immer zu ihrem Leben gehört. – Am 24. Dezember 2009 in Peking wurde der Schriftsteller Liu Xiaobo zu 11 Jahren Haft verurteilt, da er die Gewährleistung der Menschenrechte in China eingefordert hatte. — stop
augenschirme
romeo : 18.17 — a u g e n s c h i r m e
nachtstraße
marimba : 2.24 — Ein Eichhörnchen querte hüpfend die feuchte Straße. Genau dieses Eichhörnchen, eine Fantasie, hatte ich in der vergangenen Nacht schon einmal gesehen, die Straße war tief verschneit gewesen. Jetzt hielt das kleine Tier mitten auf der Straße inne und sah sich um. In diesem Moment begegneten sich unsere Blicke: Ja, etwas ist anders geworden! stop. Noch zu tun. stop. Das geheime Augenwissen der Computermaschinen besprechen. — stop
loop
india : 0.01 — Wie schnell können wir denken? Wie schnell können wir sprechen? Wie schnell können wir beten? Verfügen wir über Dolmetscher für unsere Götter, für unsere Propheten? — stop
synchron
delta : 22.26 — Blühende Stille
5th avenue
romeo : 18.52 — Im Traum vergangene Nacht mit Geraldine im Central Park spaziert. Ich erinnere mich, es schneite. Ein Regenschirmtierchen schwebte fröstelnd über uns, und ich wunderte mich, dass Geraldine das Wesen, das sich langsam um die eigene Achse drehte, nicht zu bemerken schien. Das lag vielleicht daran, dass sie in einer pausenlosen Art und Weise erzählte, als ob sie ahnte, dass wir jederzeit erwachen und dann nie wieder zueinanderfinden könnten. Im Übrigen bewegte sie sich rückwärts hüpfend vor mir her, war sommerlich gekleidet, froh und glücklich. Ich glaube, ich habe in diesem Traum zum ersten Mal Geraldine’s Stimme gehört und ihr Lachen. Sie berichtete, dass sie in der Nähe des Hauses, in dem sie vor ihrer Reise nach Europa gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Zwillingsschwester wohnte, Audrey Hepburn bei der Arbeit an dem Film Breakfast at Tiffany’s beobachten konnte, und dass sie diese Schauspielerin sehr bewundern würde, aber doch viel lieber Forscherin sein wolle. Kurz darauf weckte mich eine Feuerwehrsirene und ich war erleichtert, dass mir im Traum Geraldine’s Schicksal nicht bekannt gewesen war. – Heute ist also Sonntag, und es schneit schon wieder. Vor wenigen Minuten habe ich etwas entdeckt, über das ich mich freue. Ich habe bemerkt, dass in meinem Leben das pressende Denken immer seltener, das lauschende Denken hingegen immer häufiger zur Anwendung kommt. Guten Abend, gute Nacht! — stop
Ø
marimba : 16.18 — s c h n e c k e n s p i n d e l
marie
alpha : 0.02 — Zwei Stunden mit Anna Thomson, mit Sue in New York, mit einer Frau, die an Einsamkeit und Alkohol zugrunde geht. Wollt gern hinter die elektrische Haut meiner Filmmaschine springen, um der Geschichte eine glückliche Wendung zu geben. Einmal hielt ich die Geschichte einfach an, in dem ich ihr weiteren Strom verweigerte. Aber das ergab natürlich keinen Sinn, weil Geschichten, wie diese Geschichte, sich so lange fortsetzen im Kopf, bis sie zu Ende gekommen sind. Und an Marie habe ich gedacht, an Marie, jawohl. Wie sie verrückt geworden ist. Als ich Marie zuletzt gesehen habe, lag sie im Flur ihrer Wohnung auf dem Boden herum und sah Geckos an den Wänden sitzen und ihre Zähne klapperten und ich musste aus der Bar im Erdgeschoss eine Flasche Cognac holen und sie damit füttern, damit sie wieder so ruhig werden wollte, dass ich sie zu ihrem Bett führen konnte. Aber dort kamen ihr die Geckos sofort wieder und spazierten über die Decke und sie musste sie mit einem weiteren Glas aus dem Zimmer fegen und ihr Körper gab restlos nach und sie schämte sich, obwohl ich ihr flüsterte, dass das nicht so schlimm sei, dass ich ihr helfen würde, sich zu waschen, dass sie jetzt endlich aufhören müsse, diese verdammten Filme zu drehen, und dass sie den Schweizer zum Teufel jagen solle, der nicht ein Freund sei, sondern ein mieser, kleiner Kunde, der nur dann in ihrem Wohnzimmer über sie herfallen wolle, wenn sie so betrunken geworden sei, dass er sich vor ihr nicht mehr fürchten müsse. Aber Marie hörte mich nicht, sondern weinte und verlor schnell das Bewusstsein und ich holte den Notarzt und wir fuhren in ein Hospital, wo man sie schon kannte. Und wie ich das jetzt so schreibe, erinnere ich mich, dass Marie einmal über das Telefon eine uralte Geschichte erzählte. Sie habe zu sich gesagt, so die Geschichte, dass sie jetzt aufhören werde. Schluss mit dem ganzen Wahnsinn, Schluss mit Pornobangbang, Schluss mit der Trinkerei. Sie habe alte Schulfreundinnen eingeladen zu sich in die Wohnung. Sie habe zunächst einen Apfelstrudel gebacken und alles habe sehr schön nach Vanille geduftet. Sie habe noch die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt und nur ein ganz klein wenig getrunken und kaum sei sie fertig gewesen mit der Putzerei, seien die Freundinnen angekommen, so seien sie hereinspaziert, als würden sie einen zoologischen Garten besuchen. Sie haben, sagte Marie, Marie gefragt, ob Marie ihre Wohnung shampooniert habe. Die haben sich nicht mal gesetzt! Und so ist Marie also verrückt geworden. — Ich geh’ jetzt noch ein paar Schritte wandern im Schnee. — stop
wortpropeller
nordpol : 2.05 — Da war wieder ein hell klingendes Propellergeräusch, aber immer dann, wenn ich dieses Geräusch summieren wollte zu einem Geräusch hunderttausender Fliegentiere, hatte ich den Verdacht, dass mit meiner Erinnerung etwas nicht ganz in Ordnung sein könnte. Ein Schwarm der Ordnung Ephemeroptera. stop. Im Geistraum meiner Papiere kaum noch zu vernehmen. stop. Habe fünf oder sechs Schwarmerscheinungen beobachtet, lautlos wirbelnder Schnee. Und doch war da ein Ton. Ein zartes Klappern vielleicht? — Luftgeräuschworte erfinden. — stop
hispaniola
sierra : 22.02 — Männer, die mit bloßen Händen Trümmerberge durchsuchen. Der Fuß eines Kindes, staubig, das unter einer Betondecke gefangen liegt. Erdige Straßen, gesäumt von verwesenden Körpern. Eine tote Frau, die auf einem Stuhl sitzt. Ein Mädchen, wie im Traum, nicht ansprechbar, ihr Blick in die Ferne gerichtet, wie sie durch eine Menge stammelnder Menschen schreitet. Weinende Stimmen. Verstörte Kindergesichter. Rufen. Durst. Verzweiflung. Inferno. Flimmerbilder. — Im Zug nach Süden erzählt eine Frau, die in Haiti geboren wurde und viele Jahre dort lebte, von dem Land, von dem Volk, das sie liebt, und alle Reisenden, die in ihrer Nähe sitzen, hören ihr zu, gebannt, mitfühlend, fragend. Einmal sagt sie, dass die Bewohner der Stadt Port-au-Prince, die ihr Leben unter Korruption in größter Armut auf einer heißen Erdmantelfalte zeitigen, nie an die Gefahr gedacht haben würden, in der sie sich in jeder Minute ihrer Existenz befanden. Niemand habe mit einem Erdbeben dieser Stärke gerechnet, obwohl ein Erdbeben genau dieser Intensität lange vorhergesagt worden sei. Eine Frage der Zeit, alles eine Frage der Zeit, sagt die Frau, und sieht aus dem Fenster des Zuges, auf Schnee, der in der Dämmerung bläulich schimmert. Man denkt, verstehen Sie, man denkt nicht an Erdbeben, an eine Gefahr, die nicht sichtbar ist, wenn man in Sterbensarmut lebt. Man denkt an sauberes Wasser. Man denkt an Brot. Man denkt an das Überleben der Kinder von Abend zu Abend.
papiere
tango : 0.05 — Gestern Abend, kurz vor sechs Uhr war es gewesen, bin ich einem seltsamen Mann begegnet, und zwar in einer U‑Bahn Downtown. Aber das spielt für die kleine Geschichte, die ich rasch erzählen möchte, nicht wirklich eine Rolle, ich meine, zu welcher Zeit wir in welche Richtung gemeinsam fuhren. Bedeutend war vielmehr gewesen, dass ich es nicht eilig hatte, genau genommen hatte ich so viel Zeit zur Verfügung wie seit Wochen nicht, weshalb ich den Geräuschen meines Herzens lauschte und dem Rascheln der Zeitungspapiere, die zu jenem seltsamen Mann gehörten. Er saß gleich vis-à-vis, die Beine übereinander geschlagen. Ich hatte den Eindruck, dass er sich freute, weil ich staunend beobachtete, wie er Zeitungen durchsuchte, die sich auf dem Sitzplatz neben ihm türmten, und zwar in einer sehr sorgfältigen Art und Weise durchsuchte, jede der Zeitungen Seite für Seite. Er schien Übung zu haben in dieser Arbeit, seine Augen bewegten sich schnell und ruckartig, wie die Augen eines Habichts. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neigte sich dann leicht nach vorn, um, mit einer Schere, einen Artikel oder eine Fotografie herauszuschneiden. — Das Rascheln des Papiers. — Das helle, ziehende Geräusch der Schere. — In dem ich den Mann beobachtete, erinnerte ich mich, dass ich selbst einmal Monate damit zugebracht hatte, den Ungerechtigkeiten dieser Welt mit einem Archiv von Beweisen zu begegnen, deren eigentliche Substanz jenseits der Titelzeile ich später nie gelesen habe, weil es zu viele gewesen waren. — Montag ist geworden und die Famen und Cronopien singen traurige Lieder durch die Nacht.
=
augenzeit
alpha : 0.03 — Im Regen herumspaziert, wollt ein Paar neuer Augen besorgen, hatte so lange Zeit Papiere und Zeichen betrachtet, dass ich blind für jede Bedeutung geworden war. Im Wald tropfte das Wasser von den Bäumen, eine Amsel lief auf feuchten Wegen vor mir her, da und dort Spuren von Schnee. — Schneekuchen. — Schneesuppe. — Schneebücher. - Nach einer Stunde dann waren mir neue Augen gewachsen, ich kehrte zurück und jetzt ist schon wieder heimlich Nacht geworden. Merkwürdig, wie man einen Abend lang in einem Zimmer auf dem Boden sitzen kann und denken und zugleich nichts denken. Nur noch atmen. Und die Augen bewegen. — stop
rüsselhupe
echo : 12.03 — Sagen wir das so: Tiefseeelefanten, sobald sie geboren werden auf hoher See in großer Tiefe, bleiben ihren Müttern lange Zeit verbunden. Solange Zeit genau wandern sie in nächster Nähe, bis ihre Rüssel ausreichend gewachsen sind, um zur Oberfläche des Meeres gelangen zu können. Wie sie sich küssen von Zeit zu Zeit in ewiger Dunkelheit, wie eine Mutter ihrem kleinen Elefanten Luft einhaucht, wie das taumelnde Wesen im Moment der Übergabe lustvoll seine blinden Augen schließt, eine Ahnung vom berauschenden Duft der Welt weit über ihm, von salzigen Schäumen, von Motorölen, Tang und weiteren angenehmen Substanzen, die ihm bald unmittelbar begegnen werden. Manchmal, eher selten, steigen sie, Miniaturen einer späteren Zeit, langsam aufwärts. Sie haben dann aus dem Munde ihrer Mutter einen Ballon süßer Luft entgegengenommen, der zu groß geworden sein könnte von Sorge und Liebe. Zwei oder drei Tage sind sie nun schwebend unterwegs, bis die Oberfläche des Wassers erreicht sein wird. Das feine Geräusch ihrer ersten Rüsselhupe, mit der sie die lichte Welt begrüßen. – Sonntag. Leichter Schneefall. Viel Jazz im Kopf. — stop
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop
brooklynites
tango : 6.03 – Das langsame Durchqueren einer nächtlichen Landschaft fremder Stimmen: Ten-four. David-David. Woman, black, in confusion. 75, Varickstreet. 12th floor. Ten-four. Ten-four. Sergeant? — Ich hatte, meiner neuen Leidenschaft folgend, den Klängen des New Yorker Polizeifunks zuzuhören, gegen Mitternacht eine Verbindung über den Atlantik hergestellt. Wie das dann genau gekommen sein mag, all das Flüstern in der Dunkelheit, kann ich nicht sagen, vielleicht war zu einer Zeit, da ich noch wach gewesen war, meine transatlantische Übertragung für zwei oder drei Stunden unterbrochen gewesen, oder man schwieg in New York, weshalb ich die geöffnete Verbindung vergessen haben könnte. Ich schlief jedenfalls ein gegen zwei Uhr, müde geworden vom Denken, und wie ich so schlief, kehrten die Stimmen zurück, ich träumte Geräusche, die in der amerikanischen Sprache plauderten. Ten-Four. Ten-four. Auch meine eigene Stimme, sie berichtete von einer Wanderung durch Brooklyn, war in der Dämmerung deutlich zu hören gewesen. Ein schnelles, ein rasendes Sprechen, Louis, als hinge sein Leben davon ab. Dann fehlte ihm ein Wort, ein entscheidendes Wort. Von suchender Stille erwacht. — stop
lustgärten
echo : 0.22 — Robert Walser in einer Nachtminute eben: Der Mensch ist ein feinfühliges Wesen. Er hat nur zwei Beine, aber ein Herz, worin sich ein Heer von Gedanken und Empfindungen wohl gefällt. Man könnte den Menschen mit einem wohl angelegten Lustgarten vergleichen. Wenn wir alle wären, wie wir sein sollten, nämlich wie es Gott uns gebietet zu sein, so wären wir unendlich glücklich. — Wiederum versucht und noch zu finden: Eine Gebärde, die das Wort Hibiscilli vollständig enthält, eine Geste der Freude, eine zärtliche Berührung der Luft. — stop
fotografieren
echo : 0.52 — Dieses kleine Stück hier, zur Vollmondnacht, handelt von einer Frau, die mir vor wenigen Stunden nach langer Zeit der Abwesenheit wieder begegnet ist, weil ich den silbergrauen Mond am wolkenlosen Abendhimmel bemerkt hatte, und aus diesem heiteren Luftraum heraus, war sie dann plötzlich zu mir hereingefallen, selbst ihre Stimme, eine außerordentlich leise Stimme, ist nun so gegenwärtig als wäre kaum Zeit vergangen seit unserer Unterhaltung im Präpariersaal der Münchener Anatomie. Ich hätte sie damals beinahe übersehen, eine kleine Gestalt, die präparierend auf einem Schemel kniete und merkwürdige Bewegungen mit den Augen machte. Sie betrachtete den Körper vor sich auf dem Tisch mit einem ruhigen, mit einem festen Blick für je einige Sekunden, dann schloss sie die Augen für etwa dieselbe Zeit, die sie geöffnet gewesen waren, und so wiederholte sich das Stunde um Stunde. Einmal setzte ich mich neben sie an den Tisch und erzählte, dass ich ihre Augen, ihren Blick beobachtet haben würde und den Eindruck gewonnen, sie mache Bewegungen mit ihren Augen, die der Linsenbewegung eines Fotoapparates ähnlich seien. Richtig, antwortete die Frau, ich schließe meine Augen und schaue mir im Dunkeln an, was ich gespeichert habe. — Eine seltsame Stimme. Sehr hell. Und scheu. Ein Zittern. Wie durch einen Kamm geblasen. — stop
dämmerschritte
kilimandscharo : 6.26 — Tiefseeelefanten, wo auch immer sie sich befinden, schlafen gemeinsam zur selben Zeit. Sie gehen dann langsam, step by step, träumend rückwärts über den Meeresboden hin. — Seltsame Sache. – An diesem frühen Morgen denk ich noch etwas anderes von Schlafesdingen. Gerade öffnet Berfin die Tür ihrer Wohnung. Sie kommt von einer Nachtschicht zurück. Fünf Stunden Arbeit. Jetzt wird sie noch eine halbe Stunde schlafen, dann aufstehen, ihre Kinder, drei Mädchen, mit Küssen auf kleine heiße Ohren wecken, Frühstück bereiten und sie zur Schule bringen. Berfin schläft 21 Stunden pro Woche. Sie lacht gern. Ein zartes Gesicht. Augen, die viel Krieg gesehen haben. Meistens plagen sie Kopfschmerzen. Müde bin ich, sagt sie, dafür gibt’s kein Wort.
auf dem viktualienmarkt
olimambo : 2.10 — Ein Eichhörnchen am Nachmittag, wie es durch den warmen Schnee springt. Immer wieder hält das Tierchen an, dreht sich nach mir um, betrachtet mich, als ob es meine Gedanken ahnen würde. Einmal sage ich leise zu ihm hin: Fürchte Dich nicht! Ich jage nur mit dem Kopf. – Das war auf dem Münchener Viktualienmarkt gewesen vor wenigen Stunden. Die Tage nun länger, bald wird Frühling und Menschen und das Bier und der Kaffee werden in Strömen fließen. Wieder, wie so oft schon, wenn ich von Bude zu Bude laufe und meine Nase in den Gewürzwind stecke, schau ich nach dem Achternbusch, Herbert. Würd’ gern einmal ein paar Worte mit ihm wechseln. Gestern war von ihm nichts zu sehen gewesen, weshalb ich ganz einfach an ihn gedacht habe, an eine Filmsequenz, deren Besichtigung mich um ein Haar das Leben gekostet hätte. Herbert Achternbusch in einem Tierhaus des zoologischen Gartens Hellabrunn. Er steht unter einem Faultier, das unbeweglich, und zwar sehr lange Zeit, an einem Ast hängt. Der Dichter bewundert die Klauen des Tieres und auch die Natur, was sie so macht. Kurz zwinkert das Faultier mit den Augen. Und Achternbusch ruft: Ja, da schau her, du bist ja ein Scheinschlaftier! – Guten Morgen, gute Nacht! — stop
atemrose
echo : 0.00 — a t e m r o s e
copy & paste
romeo : 2.56 — Vor wenigen Stunden noch wollt ich vom Abend einer Ameise unter sommerlichem Feigenbaum erzählen. Kaum angefangen, beobachtete ich, dass in dem Text, den ich wünschte aufzuschreiben, Wörter enthalten sein werden, die bereits vor meiner Textzeit von anderen Menschen in weiteren Texten verwendet worden sind. Das wohlklingende Wort Himmel, ich hab’s nicht erfunden, auch nicht das Wort Herzbeutelchen oder das Wort Sinusknoten. Alle diese Wörter, geliehene Wörter. Ich leg sie mir in den Mund, unter meine schreibenden Finger, Tag für Tag und Nacht um Nacht, als ob sie mir, Geschichten gleich, die aus der Luft zu stürmen scheinen, allein gehörten. Aber dann das elektrische Knistern meines Gehirns, in dem es die Entdeckung im Schlaf zu feinen Wirklichkeitsnetzen verwebt. – Weit nach Mitternacht. Eisluft vor den Fenstern, im Zimmer warten Feigen und Bäume. Hab jetzt einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
transkriptionen
alpha : 0.05 — Ein Datenspeicher, in dem alle je von Menschenhand geschriebenen Zeichensätze versammelt sein werden. Meine Schreibmaschine, ein Albtraum, könnte mit diesem frei schwebenden Gedächtnis in Verbindung stehen. Und während ich nun notiere, würde unverzüglich angezeigt, ob der gerade gedachte Satz bereits aufgeschrieben wurde oder nicht. — Schneeflocken, Früchte, leiseleicht, die aus Nachtbäumen fallen. — stop
nachtbaden
nordpol : 5.05 – Das Schlafträumen ist ganz sicher ein Vorgang des Schreibens.
amerikafahrt
marimba : 0.02 — Sekundenbriefmarke aus dem Jahr 1959, zu einer Zeit notiert, da ich selbst, auch als Idee, noch nicht geboren war: Das Taxi war groß wie eine Lokomotive. Und es war grellgelb angestrichen wie ein deutscher Briefkasten. Auf seinem Dach funkte es blaurote Lichtsignale, sie ähnelten dem blitzenden wachsamen Auge der Polizei, und für eine Weile hatte ich das Gefühl, ein Ehrengast zu sein, der eskortiert und ohne Berührung mit Land und Leuten an ein Ziel gebracht werden soll. Die Polster des Wagens waren hart, und der nackte Stahlboden war schmutzig; man bot dem Fahrgast den Transport, man bot ihm nicht mehr. Andauernd erreichten den Wagenlenker durch die Luft gesandte Botschaften; Unsichtbare sprachen zu ihm, beschworen ihn, quälten ihn, hetzten ihn. Zuweilen antworte der Mann den Stimmen der befehlenden Luftgeister. Wolfgang Koeppen A m e r i k a f a h r t
vorstellung
zoulou : 20.02 — Die vielleicht zärtlichste Weise, einen Menschen zu berühren : eine Bewegung der Vorstellung, eine Bewegung des Einfühlens. — stop
blattlicht
lima : 0.01 — Und schon ist wieder März geworden. Warme Luft pfeift übers Dach, und Blätter, Blätter von Sonnenlicht, sie schaukeln vor dem Fenster. So fein sind sie gewirkt, dass nichts sie zu berühren vermag als meine Gedanken. Höchste Zeit von kleinsten Wesen zu erzählen, wie man sie findet, da sie doch unsichtbar sind, und wie man mit ihnen sprechen oder reisen oder gemeinsam warten könnte, sobald man ihnen begegnet sein wird. — Papierene Herzen. — stop
meerestee
charlie : 0.03 — Jedes Wort als winziges Tier betrachten, mit einer je sehr langen Lebensgeschichte. Das Wort Himmel, zum Beispiel, ein feines Wesen, seine vielfältige Gestalt in den Sprachen dieser Welt, Zeichenmäntel, irrlichterndes Plankton in einer Tasse Meerestee. Und so fliegen die Wörter in Herden durch Luft und Raum um den halben Erdball herum von einem Menschen zu einem anderen Menschen in Sekundenschnelle. Hier werden sie gelesen, ein Tier nach dem anderen Tier, behutsam, scheu. — Gute Nacht und guten Morgen!
kopfaffen
himalaya : 0.58 — Wann das mit den Affen genau angefangen haben könnte, dass sie mich begleiten, sobald ich die Tür zur Wildnis öffne und jagen gehe ins Warenhaus um die Ecke, vermag ich nicht zu sagen. Ein Anfang jedenfalls könnte sein, zu wissen, welchen Ursprungs sie sind. Ich sage Ihnen das Folgende im Vertrauen leise, sie hüpfen aus der Reproduktion einer Malerei heraus, die ich vor zwei Jahren im Sommer auf Höhe meiner Augen an den Rahmen der Wohnungstüre nagelte, kawumm. Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, das kleine Bild zu betrachten, in dem ich die Schleuse zur Außenwelt passiere. Ich schlendere dann eine Straße unter schneienden Akazien entlang und beobachte Wesen, wie sie in den Kronen der Bäume toben. Wenn ich mich selbst vergessen habe und warum ich eigentlich auf die Straße getreten bin, sind sie gut gelungen. Jetzt nur noch Affenmensch sein, atmen und in die Blätter schauen. - Donnerstag. Das Erfinden ist ganz sicher ein Vorgang geschmeidiger Achtsamkeit. — stop
wörter
echo : 0.28 — Die Fieberhitze der vergangenen Tage. stop. Seegang. stop. Schwankende Tastaturen. stop. Schlingernde Gedanken. stop. Taumelnde Wörter. — stop
februarbrief
romeo : 0.15 — Noch war Februar gewesen, da verfasste ich einen Brief an ein Mädchen, das ich bereits kannte, als sie noch nicht laufen konnte. Sie heißt Rosario, was eigentlich nicht ganz richtig ist, weil das natürlich an dieser Stelle nicht ihr wirklicher Name sein darf. Aber dass ich ihr Patenonkel bin, ist eine Tatsache, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Rosario, ein zauberhaftes Wesen, wohnt jetzt in Brooklyn, New York, und zwar in der Hicksstreet nahe einem Haus, in dem Arthur Miller sein Drama Tod eines Handlungsreisenden notierte. Genau dorthin nun schickte ich meinen Brief, einen papierenen Brief in einem Luftpostumschlag, den ich in ein Päckchen zu einer Büchersendung steckte. Ich schrieb, – ich darf das zitieren, weil ich die Erlaubnis dazu erhalten habe -, folgende Zeilen: „Liebe Rosario, hiermit sende ich Dir ein spektakuläres Buch, einen Katalog Leanne Shapton’s, der mich Tage lang begeisterte. Von einer Liebe wird berichtet, Du solltest sie unbedingt lesen, eine wundervolle, in seltsamer Weise erzählte Geschichte. Was das Buch wohl bei sich denken mag, jetzt, da es nach einer Schiffsreise über den Atlantik her, im Flugzeug wieder zurück nach Amerika hin getragen werden wird? Gut, wir werden das vielleicht niemals herausfinden, oder, sag, hast Du gelernt, mit den Büchern selbst zu sprechen? Erinnerst Du Dich noch an Abende, da ich Dir vorgelesen habe? Du lagst auf meinem Bauch, eine kleine Katze, und einmal legtest Du Dein Ohr an meine Stirn, und wolltest meine Gedanken hören. Und als Du nichts vernehmen konntest, sagtest Du zu mir mit großen Augen: Du musst lauter denken, Louis, ich kann Dich nicht hören! Viel Vergnügen beim Lesen und Schauen wünscht Dir Dein Louis.“
bermuda
alpha : 0.03 — Ob es wohl möglich ist, ein Blatt Papier, das aus Millionen sehr kleiner Lebewesen bestehen wird, mit einer Schere, sagen wir, in zwei Teile zu zerlegen? Was sollte geschehen? Würden meine papierenen Tiere Geräusche erzeugen, die Widerspruch signalisieren, Empörung, Furcht? Oder würden sie weichen, sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, eine blitzschnell sich vollziehende Bewegung der Entropie? – Sonntag. stop. Warme, geschmeidige Stunden. stop. Hell vom Schnee, die Luft.
schneekamille
nordpol : 0.02 — Deine schneeweiße Hand, die an einem Sommernachmittag auf meinem Unterarm liegt. Wir wandern durch einen Wald. Klein bist Du geworden und leicht, und ich gehe, Du führst mich, mit geschlossenen Augen neben Dir her. Und plötzlich bist Du nicht mehr da. Ich sehe Dich, unsicher Deine Schritte über das Moos. Und wie Du kniest vor den lichten Blumen unserer Wiese. Deine weinende Stimme. Dein Klagen ohne Worte. Dein Schreien gegen den Himmel. Dein Beben in meinen Armen. Und wie Du flüsterst: Ich will nicht sterben. - Dann ist Nacht wie an vielen Tagen Nacht geworden. Ich stehe im halben Dunkel Deines Zimmers, so still, so still, und lausche nach Deinem Atem, sitze und lese und schau Dich an. Deine lächelnden Augen im Schlaf, der süße Himbeerduft des Morphiums, das Schnurren der Sauerstoffmaschine, Dein Seufzen, und wie Du wach geworden bist, Dein Blick für mich, wie Du mit Deinen tiefen Augen vom Wunder des Lebens erzählst. Nie wieder, erinnerst Du Dich, haben wir vom Tod gesprochen.
für marikki im himmel
hibiscilli
nordpol : 0.01 — h i b i s c i l l i
animals
~ : louis
to : Mr. stanislaw lem
subject : ANIMALS
Hochverehrter Herr Lem, Sie werden, nehme ich an, noch nie von mir gehört haben. Ich heiße Louis. Seit vielen Jahren bin ich ein stiller Bewunderer Ihrer Kunst. In der Nähe meines Schreibtisches hängt deshalb eine Fotografie, die Sie in schwarzer und weißer Farbe zeigt, an einer Wand. Immer wieder, wenn ich Sie dort betrachte, denke ich, dass ihre Augen, ihr Blick, von der Weite der Welt erzählen, die sich in ihrem Kopf entfaltet, dass man überhaupt die Großzügigkeit eines Geistes in seinen Augen zu erkennen vermag. Eines Ihrer Bücher nun habe ich wieder gelesen in den vergangenen Tagen, weil ich mich erinnert hatte, dass Sie dort von winzigen gefährlichen Wesen berichteten, Mikroben, die Waffenpanzerungen jeder Art in Sekundenschnelle zu durchdringen in der Lage sind. Eine beunruhigende Vorstellung natürlich. Ich hoffe, das bald wieder zur Seite legen zu können, gerade auch deshalb, weil ich mich in diesen Wochen persönlich mit kleinsten Wesen beschäftige. Sollten Sie in der Lage sein, meine Arbeit von höherer Stelle aus zu beobachten, dann werden Sie bald erkennen, es geht um lebende Papiere, um ihren Geist, um ihr Verhalten und alle diese Dinge, die eine forschende Person begeistern von früh bis spät. In diesem Sinne sende ich Ihnen allerbeste Grüße. – Louis
gesendet am
10.03.2010
22.56 MEZ
1278 zeichen
sekundenstunde
india : 0.01 — s e k u n d e n s t u n d e
handkuss
olimambo : 0.02 — Wieder einmal wahrgenommen, dass ich meine Gegenwart nicht in modernen Signalwörtern erzählen kann. Wenn ich Gegenwart erzähle, verwende ich Wörter einer Zeit, die mir eine alte Zeit zu sein scheint: Automobil stop Hospital stop Grammophon stop Schreibmaschine stop Traummechanik stop Sprechapparat stop Schallplatte stop Handkuss stop. – Da ist noch etwas Weiteres an diesem Abend, ein Gerücht, das mich fröhlich stimmt, sobald ich darüber nachzudenken beginne. Man erzählt, Autoren des New Journalism sollen lange, sollen viele Jahre dauernde Zeit unter ihren Figuren gelebt haben: Gay Talese stop Truman Capote stop Tom Wolfe stop. Man ist demzufolge nicht verrückt. Oder man ist verrückt, aber nicht allein verrückt. — Warum nur duftet dieser Abend nach Zimt und Fröschen? — stop
luftlaufen
pupille : 0.02 — Gestern Nachmittag im Regen durch den Palmengarten spaziert. Saß bald unter dem Schirm gut verpackt auf einer Bank am See und las in einer Sammlung feiner Texte, die Anton Tschechow in seiner persönlichen Ausgabe der Selbstbetrachtungen Marc Aurels vor langer Zeit einmal markiert hatte. Dort folgende Bemerkung: Du musst Dich daran gewöhnen zu denken und zu handeln, als sei das Ende Deines Lebens schon da. Und ich dachte, es ist genau so, dass zwischen dem vorgestellten Ende des eigenen Lebens und dem tatsächlichen Ende, dessen Zeitort unbekannt, dessen Nahen von Tag zu Tag wahrscheinlicher wird, schmale oder noch breite Stege von Hoffnung, von Unkenntnis sich befinden, auf welchen ich mich bewegen kann, langsam, nachdenklich, oder in Tanzschritten, glücklich, übermütig und verwegen. – Wieder der Versuch, die Tropfgeräusche des Regens zu zählen. Nichts könnte beruhigender sein. — stop
standardminute
delta : 6.05 — Wie ich abends im Warenhaus eine moderne Standardminute erlebte, das will ich rasch noch berichten, eh mir die Augen zufallen, müde vom Wundern. Eine ganze Minute also. In dieser Minute, an ihrem Anfang genauer, befindet sich eine Kassiererin mittleren Alters, unruhig sind Augen und Mund, und ihre flatternden Hände, Werkzeuge, die Waren über Lichttaster ziehen. Eine alte Dame ist da noch, eine Dame mit Hut, die sich sehr langsam bewegt, ein wahres Reptil, würdevoll, bedächtig. Ein wenig zerstreut scheint sie zu sein, hebt immer wieder den Blick, beobachtet scheu die Bewegung des Bandes, die Reise ihrer persönlichen Ware: eine Schachtel Pralinen, ein Fläschchen Jägermeister, Salzstangen, drei Dosen Katzenfutter, ein duzend Schokoladenostereier in Grün, in Gelb, in Rot, und ein weiteres Fläschchen noch hinterher. Das alles muss jetzt in die Tasche, sofort, und doch ist es schon zu spät. Zwei Aprikosensafttüten schieben sich, einem Eisbrecher ähnlich, in den wartenden Bezirk der alten Frau hinein, falten Eier, Salzstangen und andere Warenteile steil zur Seite. Man kann jetzt hören, wie das klingt, wenn eine Dame höflich um Geduld bittet, um Nachsicht, eine freundliche, eine herzerwärmende Stimme, und das Geräusch einer Flasche, die zu Boden fällt. Wie sich die alte Dame nun aufrichtet, wie ihre hellen Augen meine Hände beobachten, die versuchen, weiteres Unglück abzuwenden. Ungläubig schaut sie mich an, dann das Förderband entlang, das weitere Waren voran transportiert. Ja, bald stehen wir und staunen zu zweit, und auch die Verkäuferin ist zur mitfühlenden Beobachterin geworden. Sie lurt zum Warenstrom hin, der über die Kante der Rollbandtheke in die Tiefe stürzt. Ihre Hände, diese seltsamen Hände, sie arbeiten weiter und weiter, schieben und schieben, als führten sie ein eigenes Leben oder gehörten schon der Maschine mit ihrem Rotlichtaugengehirn. stop. Minute zu Ende. stop. Guten Morgen. — stop
lufthupe
ginkgo : 6.25 — Ob sich die Trompetensprache der Tiefseeelefanten von der Trompetensprache der Steppenelefanten unterscheidet? — Lässt sich diese Frage fotografieren? — stop
nachtlaufen
romeo : 0.52 — Nachts, im Laufen am See, Geräusche des Bodens, die durch den Körper dringen. Bald das Herz am Hals. Schlafende Schwäne, schlafende Enten. Der Flug eines träumenden Karpfens. Und ein Gedanke. Und noch ein Gedanke. Atem, der zum Wort wird von Runde zu Runde. Das Glück der Schritte. — stop
papierlicht
olimambo : 1.28 — Das Wort Papier in meinem Kopf, ein von jeher helles, weißes Wort, weshalb die Erfindung lebender Papiere, ihre Erforschung, ihre Beobachtung in lichte Räume führt. Ich könnte demzufolge sagen, dass mein lotendes Fabulieren wie eine Bogenlampe in mein Leben wirkt. – 1 Uhr 28 mitteleuropäischer Winterzeit: Auf dem Kapitol zu Washington, im Haus der Repräsentanten, erklärt die demokratische Abgeordnete Debbie Wasserman Schultz / Florida während der Debatte zur entscheidenden Abstimmung über Barak Obamas Gesundheitsreform mit fester Stimme: The nightmare ends tonight! — stop
sanfte bewegung
echo : 2.12 — g e h i r n w e l l e
hydra
sierra : 6.30 — Haben Sie schon einmal mit dem Gedanken gespielt, in einem Kolonialwarenladen für zwei Stangen Zimt den fünffachen des geforderten Preises in aufrichtiger Erwartung zu bezahlen, man möge das zugesetzte Geld an Plantagenarbeiter und ihre Familien nach Sri Lanka transferieren? – Sie schmeichelten dem charmantesten Kopf einer Hydra! — stop
wortklangstempel
echo : 0.06 — Da war ein i am frühen Morgen, vielleicht weil ich nach einer langen Traumnacht noch nicht ganz wach gewesen, in das Wort Lebende hineingeraten, sodass das Wort Leibende entstand. Im Zusammenhang einer blühenden Regenkäfergeschichte eigentlich kein verrücktes oder schlampiges Wort, und doch eine merkwürdige Sache, weil ich den kleinen Text zwei- oder dreimal, ehe ich ihn veröffentlichte, prüfte, ohne das nachdrücklich umgestaltende i entdeckt zu haben. Ich spiele nun mit dem Verdacht, dass ich Texte, die ich notiere und kurz darauf wieder lese, zunächst einem Nahzeitspeicher meines Gehirns entnehme, in welchem Wörter oder ganze Sätze eines Textes als scheinbar korrekte Klangstempel im Moment der Zeile erinnert werden. Und dann gehe ich schlafen oder spazieren, beobachte einen Film oder unterhalte mich mit einem Freund oder einer Freundin, Zeit vergeht, in welcher die Stempel meines erfundenen Textes wieder zu Buchstaben, zu isolierten Tönen zerfallen, so dass ich meine Gedanken, meine Wörter und Sätze genau so zu lesen oder zu hören vermag, als wären sie von einem anderen Menschen notiert. Ja, so könnte das sein, so wollen wir das zunächst einmal annehmen. — Noch zu tun in dieser Nacht: Dimensionen der Papiertiere erspüren / µm = 10–6 m = 0,000.001 m. — stop
am späten abend
delta : 6.28 — Es war am späten Abend und ich hatte meine Augen noch geöffnet, Cole Porter spielte ein paar feine Sachen, zwei golden braune Froschballone segelten durchs Zimmer, und da war noch mein kleiner Koffer, und ich sagte zu ihm, als könnte er mich versehen, um dich kümmere ich mich später! Und dann schlief ich ein und wachte wieder auf, noch immer spielte Cole Porter seine feinen Sachen, und ich dachte, du bist eingeschlafen und du bist wieder aufgewacht, das ist das Leben, einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Und da lag ein Engel, eine Mango so groß, auf meinem Bauch, und der Engel schlief, wie ich geschlafen hatte, und ich dachte, ist das nicht wunderbar, sein Herz, sein kleines Herz, wie es schlägt und schlägt und schlägt. Und dann schlief ich wieder ein und schlief und schlief so seltsam, ohne das Schlafen zu bemerken, dass ich vielleicht noch immer schlafe, indem ich gerade schreibe, indem ich gerade zärtlich denke, an das Leben, an das Schlafen, an das Wachen, an all die wilden Dinge, und daran, dass ich nun weiß, wir Menschen sind für letzte Geschichten niemals gemacht, auch in den Minuten schwerster Abschiede ist da immer noch dieser seltsam schwebende Punkt in der Luft, ein leises Licht, ein Blick, bis bald. — stop
stimmband
echo : 5.27 — s t i m m b a n d
denkfalter
india : 0.02 — Begeistert, nachdem ich in einem Wörterbuch der englischen Sprache zur Übersetzung der Zitronenfalter Variationen gesammelt habe. Brimstone butterfly, herrlicher Klang! Ich erinnerte mich, dass mir das Wort brimstone schon einmal begegnete, ich meine das Wort vor langer Zeit in Jan Gabrials Buch My Life with Malcolm Lowry entdeckt zu haben, ein vulkanisches Wort, und weil ich mir nicht ganz sicher gewesen war, noch einmal der Blick ins Kompendium. Eine Meeresgeschichte der Schwefelfalter wird nun denkbar, wie sie von salzigen Winden über Zinnobersand gewirbelt werden. Und da ist noch eine weitere, eine vielleicht seltsame Beobachtung an diesem Abend. Das ist nämlich so, ich kann nichts sagen über den eigentlichen Duft der Schmetterlingswesen. — stop
suspense
ginkgo : 0.55 — Im forschenden Gespräch mit Taini*. Vor einiger Zeit hatte sie auf meine Frage hin, ob sie sich jetzt, da sie schon viele Jahre in Europa lebt, als Europäerin wahrnehmen würde, geantwortet, sie sei doch eher noch immer eine Indianerin und das würde sich wohl niemals ändern, schon deshalb nicht ändern, weil ihre Gesichtszüge, weil das tiefe Schwarz ihres Haares und ihre äußerst zierliche Gestalt sie an ihren Ursprung täglich erinnerten. Ich sehe mich, sagt sie, ja, ich sehe mich! Wie sie jetzt lachend erzählt, dass sie einst schleichend ihre Sprache verloren habe, die verbotene Sprache ihrer Kindheit, und dass sie nun die Sprache jener Männer denken und sprechen würde, vor welchen sie sich als Mädchen in die Bäume flüchten musste. Langsam formuliert sie, Wort für Wort, betrachtet auch dann, wenn ich sie nicht ansehe, mein Gesicht, indem ich notiere, was sie erzählt. Selten wirft sie einen Blick auf das Notizbuch, das neben der Tonbandmaschine auf dem Tisch zwischen uns liegt, macht manchmal eine Kopfbewegung, die bewirkt, dass ich mein Werkzeug herumdrehe, damit sie sehen kann, was ich aufgeschrieben habe. Deine Schrift ist nicht zu lesen, bemerkt sie und schüttelt amüsiert den Kopf, vielleicht weil ich noch immer nicht gelernt habe, so zu schreiben, dass sie meine Gedanken entziffern könnte. Also lese ich ihr vor, zum Beispiel die Frage, wie Ameisen schmecken oder das Stichwort Schule. Kannst Du Dich noch an Deinen ersten Schultag erinnern? Ihr Schweigen. Eine anmutige, in sich suchende Erscheinung. Du musst eine spannende Geschichte daraus machen, sagt sie einmal. Ihr Blick, als ich sie frage, was sie denn unter einer spannenden Geschichte verstehen würde. — stop
* Name geändert
animals
remmington : 0.01 — Eintausendachthundert Zeichen, Rücken an Rücken schwarz auf weiß ist gleich eine Seite erzählendes Papier. — stop
herzgeschichte
olimambo : 0.02 — Das weiße Papier ist niemals leer. Diesen Satz habe ich gestern Nachmittag gegen 15 Uhr genau so notiert, wie er hier verzeichnet ist. Ich saß am kleinen See im Palmengarten und dachte an Herzen und solche Dinge, und als ich den Satz eine Stunde später noch einmal gelesen habe, konnte ich nicht sagen, warum ich den Satz eigentlich aufgeschrieben hatte. Das war ein merkwürdiger Moment gewesen, diese Sekunde, da ich bemerke, dass ich einen Satz, den ich selbst ausgedacht, nicht erkennen konnte. Trotzdem gefiel mir der Satz. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen wahren Satz handeln könnte, und dass ich nur abwarten müsse, bis sich sein feines Wesen zeigen wird. Und so lausche ich nun also. Irgendetwas brummt in meiner nächsten Nähe. Dämmerung. Und ich stelle mir vor, wie gut es doch wäre, wenn Menschen für eine gewisse Zeit ihre Herzen teilen könnten. Man meldet sich zum Beispiel in einem Hospital. Guten Abend, sagt man, guten Abend, wir haben heute Nacht etwas Zeit, mein Herz und ich. Und dann fährt man unverzüglich los, man fährt durch die Stadt und ihre Lichter und Düfte und legt sich sehr bald zu einem Menschen, dessen Herz schwach geworden ist, verbunden liegt man Stunden still.
nachtende
sierra : 15.08 — Oder der Vordämmerungsschein der Schneekirschbäume, indem sie ihre Papiere entfalten. — stop
bleistiftschreibmaschine
sierra : 0.08 — Laure Wyss. Sie bemerkt um 22.38 MESZ, man würde ihre Gesellschaft vermutlich deshalb meiden, weil sie gerne ganze Bücher erzähle. Ihr feines, von der Zeit gewirktes Gesicht. Ja, fährt sie lachend fort, das Älterwerden, das ist ein Prozess, vielleicht der Schwierigste, weil es der letzte ist. Aber er hat auch sein Gutes. Es wird immer klarer, was wichtig ist im Leben. Es ist eine Art Vereinfachung. Es ist auch eine Zeit des Abschieds. Aber merkwürdigerweise bereichernd, nicht nur traurig. – Laure Wyss besaß drei Schreibmaschinen. Mit der weichsten dieser Maschinen, ihrer Bleistiftschreibmaschine, notierte sie Gedichte.
animals
kilimandscharo : 0.58 — Die wirklich kleinen Dinge dieser Welt sind dem menschlichen Auge nicht sichtbar. Sie befinden sich in Räumen des Ahnens, des Wünschens, des Erfindens. Niemand könnte je sagen, ob man von dort aus betrachtet wird. Wenn ich nun ein Papiertierchen ganz für sich allein belichte, dann erkenne ich zunächst, seine Gestalt ist rund. — stop
gramm
olimambo : 0.15 — Das Wort Demut in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Demut fühle. Wie viel Gramm? — stop
trommeln
papa : 22.58 — In dem Moment, da Sie diese Zeilen lesen, sehen Sie mich verwundert, staunend, ja, sagen wir’s ruhig, glücklich. Das ist so darum, ich habe gerade bemerkt, wie kleinste Dinge, Lebewesen, die eigentlich nicht sichtbar sind, sichtbar werden, sobald ich sie mit Gedanken berühre. Auch Geräusche, die so leise und zart, demzufolge klein sind, dass ein menschliches Ohr sie niemals vernehmen könnte, werden hörbar durch ein einzelnes Wort, das sie behauptet. Systolische Frequenzen, helles Trommeln, 250 Pulse, kein Wort existiert für jene Musik heimlicher Herzen, als die Summe der Pfade, die sich um Annäherung bemühen. Und ihre Augen, ihre Augen, jawohl, sie haben Augen, wo werden ihre Augen sein? — stop
lufträume
foxtrott : 0.08 — Arnold Schönberg, so Hanns Eisler im Exil, sei einer gewesen, der Klänge hörte, die nie zuvor ein Mensch wahrgenommen habe. — stop
feuerblume
marimba : 6.28 — Kurz nach Mitternacht. Hunderte gestrandeter Menschen liegen, Flughafenterminal 2, auf Feldbetten, schlafen unter grauen Decken, still, als seien sie ohne Träume, bewegungslos, verpuppt. Saß auf einer Bank in nächster Nähe, wartete, notierte: Die Augen der Papiertierchen befinden sich im Zentrum ihrer Körperscheibe, eines erhaben aufwärts, das andere erhaben abwärts gerichtet. Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, so ist ihre Welt beschaffen. stop – Nie werden diese Augen sehen, was ich in vergangenen Stunden mit menschlichen Augen auf dem Bildschirm meines Computers beobachtete. Fotografien einer Feuerblume aus dem Eis, ihr tiefschwarzer Atem, das Blut der Erde, ursprünglichste Kraft. — Bleibt noch, mit den Winden zu sprechen.
fliegende berge
india : 2.24 — Im Schlaf eine interessante Erfahrung der Zeit. Das war gestern, nachdem ich mir vorgenommen hatte, eine Zugfahrt nach Montauk zu träumen. Stattdessen, feine Sache, träumte ich, Stanisław Lem habe mir einen Brief geschrieben. Und weil ich die kleine Geschichte nun ganz genau erzählen möchte, muss ich an dieser Stelle notieren, dass Herr Lem im Nachtgeschehen keinen unmittelbaren Kontakt aufzunehmen vermochte, dass vielmehr ein geheimnisvolles Büro den ersten und einzigen Buchstaben einer Nachricht mit dem Hinweis übermittelte, ich müsse mich fortan gedulden, da die Zeit der jenseits Lebenden sehr viel langsamer vergehen würde, als die Zeit der diesseits lebenden Menschen. Mit einem weiteren Zeichen, einem zweiten Zeichen des Briefes, sei im Juni, und zwar doch im Juni des laufenden Jahres, zu rechnen. Ich wachte dann auf und war fröhlich und machte mich unverzüglich an die Beobachtung eines Nachrichtenschattens, den fliegende vulkanische Mikrogebirge derzeit über Europa erzeugen. – Abwarten. stop. Teetrinken. — stop
animals
tango : 22.12 — Ich notiere so leise und behutsam wie möglich. Das erste noch winzige Blatt eines beschreibbaren Wesens ist in meiner Nähe gelandet. Spazierte, beobachtete den Himmel und als ich zurückkehrte, war dann alles bereits fertig gewesen. Noch leichte Unruhe auf meinem Schreibtisch, sobald ich mich vorsichtig nähere. Ein wundervolles Gefühl, die Blicke abertausender Augen, deren Licht ich nicht sehen, doch spüren kann. Und so sitze hier nun seit Stunden und überlege, welchen ersten Satz ich mit meinem Lichtstift in das lebende Blatt vor mir eintragen könnte. — stop
morsen
echo : 0.25 — Gestern, am späten Abend, eine erste Zeile in meinen Bogen lebenden Papiers eingetragen, einen Satz, den Walter Benjamin vor langer Zeit einmal unter dem Begriff Kaktusblüte verzeichnete. Dieser Satz geht so: Der wahre Liebende freut sich, wenn der geliebte Mensch streitend im Unrecht ist. — Zärtlich, ohne zu atmen, arbeitete ich Zeichen für Zeichen voran. Und als ich fertig geworden war mit einem schließenden Punkt, lehnte ich mich zurück und wartete. Ich wartete lange. Ich wartete so lange, bis ich eingeschlafen war. Dann wachte ich auf und staunte. Sicher ist nun, dass sich Papiertierchen mittels einer Sprache verständigen, die morsenden Zeichen ähnlich ist. Sie verfügen demzufolge über Ohren und ihre Stimmen sind hell, sind Fledermäusen, Walen und Delfinen nur vernehmbar. — stop
nahaufnahme
india : 0.02 — Erscheinungen auf Bildschirmen, die sich wie Traumbilder, wie bewegte Gemälde verhalten. Wollte sie berühren, jenen isländischen Mann im Moment, da er aus dem Atem des Vulkans auf eine Wiese tritt, dieses vollkommen graue Wesen, staubig, steinern, und auch das Schaf an seiner Seite, unsicheren Schrittes, ein steinernes Schaf. Aber dann, in dem sie näherkommen, die Augen des Mannes und die Augen des Schafes, wie sie zwinkern, zwei Leuchtkörper in Dunkelheit, überlebt, eine Chiffre des Widerstandes. – Man müsste jetzt ein gut trainierter Atlantikschwimmer sein. — stop
0,087 mm
echo : 0.16 — Der kühle Mund eines Papiertierchens, sein Jahresatem, der das Volumen einer Blaubeere füllt. — stop
jonglieren
romeo : 0.25 — Stand in einer Schlange wartender Menschen, machte Rechenübungen im Kopf. Nach fünf oder zehn Minuten konzentrierter Arbeit war ich dann so weit gekommen, einzusehen, dass jene Zahlengrößen, die ich jonglierte, mein Denkvermögen deutlich überforderten. Rechnete bald in meinem Notizbuch notierend, mit Bleistiftzahlen weiter voran: Erstens / Ein Papiertierchen, sobald es seine Arme streckt, misst 0,087 mm von Ost nach West. Zweitens / 2413 Papiertierchen säumen den Rand eines beschreibbaren lebenden Papiers an seiner schmalen Seite, 3218 Papiertierchen desselben Papiers an seiner längeren Seite. Drittens / 7765034 Papiertierchen sind Teile einer Struktur, der ich einen Namen zu geben habe. — Wunderbare, frühe Nacht. Ein großer Frieden in angenehmer Spannung. Alle sind sie jetzt da, sitzen an meinen Zimmerwänden und rühren sich nicht. — Guten Morgen!
winde
sierra : 0.02 — Vergangene Nacht ein feiner Traum. Pendelte unter riesiger Stadt in einem U‑Bahnzug. Kostbar geschmückte saßen zwischen zerlumpten Menschen. Ameisen prozessierten, kreisrunde Papiere in ihren Zangen, ein zerteiltes Buch durchs Abteil. Kinder spielten mit Pingpongbällen, federlose Täubchen fackelten über offenen Kohlefeuern. Und da waren Libellen von vornehmer Größe, bitter duftende, blauhäutige Tiere, sie schwebten mit der reisenden Luft. Nie wurde Dunkel im Zug, Jahre fuhren wir so dahin, ohne je einmal anzuhalten. Eine Lautsprecherstimme, scheppernd, pfeifend. Immer wieder derselbe Satz: It was a wrong number that started it. – stop. — Mein Handnotizcomputer, so leise, so leise, dass ich mich zu ihm neige, um seinen Wind wahrnehmen zu können. — stop
move
tango : 5.02 — r a p i d _e y e _m o v e m e n t s
iris
tango : 0.05 — 1500 Meilen Wolkentüll über atlantischem Ozean. Fünf weitere Stunden, bald hellblau der Himmel, das Wasser, man könnte die Welt dort oben auf den Kopf stellen und würde es mit den Augen nicht bemerken. Höhe 11887 Meter. Wellen, leichteste Wellen, — 55° Celsius, Eis wispert in der Paukenhöhle. Reptilien von Dunst recken geschärfte Rücken aus der Tiefe. Dann wieder sanfte Gebilde, Wolkenlamellen vom Meer an den Himmel geatmet. Von dort aus fällt man zu Boden, öffnet Iris der Behörde, fährt im luftfedernden Taxischiff über alte Brücke, Nacht, sandmüde Augen spazieren unter dem Regenschirm. Der erste Blick ins irre Licht. — stop
eine kleine physik
charlie : 0.02 — Zunächst Bilder, dann Klänge. Die Erinnerung des Gehörs scheint langsamer zu spielen, als die Erinnerung der Augen. Wie sich allgemeine physikalische Gesetze der Außenwelt in meinem Gehirn beruhigend wiederfinden. — Stellen Sie sich vor, ich habe den gestrigen Nachmittag unter einem Regenschirm zugebracht. So im Gehen im Wasser, die Suche nach kleinsten Partikeln einer großen Stadt. Bin ich Angler, bin ich Jäger, bin ich ein Dompteur? Ob Eichhörnchen mittels Zungenstimmen zueinander sprechen? — stop
andrea faciu — touching the city
hibiskus : 18.02 — Fangen wir noch einmal von vorn an. Wie das ist, eine Stadt zu berühren, touching the city. Die Hand einer Frau, gefilmt von einer Kamera, die sich in einer weiteren Hand, der zweiten Hand derselben Frau befindet, streicht über Häuserwände, Klingelknöpfe, Briefkästen, Namensschilder. Filmpartikel, in einen verdunkelten Raum getragen, wo sie sich wiederholen, verwinkelt zu zarten, bebenden Geräuschen des Lichts. — In Florenz, an einem herbstlichen Abend, erzählt die Künstlerin Andrea Faciu derart spannend von ihrer Arbeit, dass ich einen Tag später meine eigenen Hände beobachte, indem sie die Stadt Florenz berühren. Diese Hände nun tasteten in New York nach der silbernen Haut eines Subway-Waggons, Gesten der Begrüßung vielleicht. Da war eine mühevoll gehende Frau gewesen, ich erinnere mich, eine Indianerin unter einem Poncho, gebeugt von der Last einer Christusfigur, die sie durch einen Tunnel nahe dem Times Square schleppte. Ihre murmelnd betende Stimme. Christus blinkte. — stop
animals
india : 10.02 – Ein lebendes Blatt Papier, nach wie vor heiter, welches aus Millionen mobiler Einheiten oder Persönlichkeiten bestehen würde, könnte immer dann als eine Rechenmaschine betrachtet werden, wenn jedes der zu dem Blatt gehörenden Individuen für sich imstande wäre, zwei oder weitere Zustände, zum Beispiel hell oder nicht hell, anzunehmen und den Status dieser Selbstverfassung mittels einer Sprache an benachbarte Individuen weiterzugeben. Ja, das ist denkbar, eine Rechenmaschine, die sich vorsätzlicher Weise in Luft auflösen und wieder aus der Luft heraus vereinen könnte. — stop
schlafbild
bamako : 22.15 — Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, Louisiana’s schillernde Küste. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt, lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen? — stop
regenfeder
tango : 8.15 — r e g e n f e d e r
spieldose
tango : 0.03 — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe einem Krankenhaus. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig, die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wüsste, wann das alles wiederkommt, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte, und warum. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. Gestern in einer besonderen Weise von dem erschütternden, hoffnungsfrohen Film Helen in die Tiefe erzählt. — Top five der schlechtesten, gut gemeinten Ratschläge von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben: Fahr in die Ferien, lies ein Buch, lass Dir die Haare schneiden, renovier Deine Wohnung, lerne Joga. — stop
marina abramovic
alpha : 0.02 — Guten Morgen, heute ist Freitag. Ich habe mir für diesen Tag vorgenommen, langsam zu gehen, langsam zu atmen, langsam zu schreiben. Ich werde langsam lesen und langsam sprechen, und denken werde ich so langsam wie nie zuvor. Die Empfindung der Zeit zur Geschmeidigkeit zu überreden, ja, das ist vorstellbar, weiche, warme Stunden. — stop
vögel
charlie : 2.08 — Plötzlich war er da, wie aus dem Nichts, der Junge heut Nacht woher zurückgekommen. Kniete auf einem Stuhl vor dem Bett, auf dem seine Mutter ruhte. Ein Arzt hatte zu ihm gesprochen, erklärt, weshalb die Mutter so lange Zeiten schlafen müsse, diesen merkwürdigen Schlaf, Monate, Monate, Monate. Und dass die Mutter nicht antworten, aber hören könne, wenn man zu ihr sprechen würde. Also erzählte der Junge seiner Mutter von der Schule, vom Schnee, vom Ballspiel, von dampfenden Lokomotiven seiner Modelleisenbahn. Manchmal flüsterte er, beugte sich hin zum schlafenden Ohr, erzählte von geheimen Dingen. Und von den Vögeln berichtete der kleine Mann, von Vögeln, die sehr nah gleich hinter dem Fenster an der Brüstung des Balkons ihre Schnäbel wetzten. Vögel waren das, besondere Vögel, sie halfen, weiterzuerzählen, wenn ihm nichts einfallen wollte. Einmal hörte ich, wie er einen Vogel erfand, ein Wesen, das allein durch Wörter für Sekunden existierte, einen Vogel der Poesie. Seine glockenhelle, aufgeregte Stimme, sein erhitztes Gesicht, seine müden Augen, seine Hände, die die Luft beschrieben. — stop
kornblumenlampe
ulysses : 22.01 — Sekundenzeit. ~ Noch nie habe ich aus der Zukunft in die Gegenwart geschaut. Peter Nadas
juli 14
romeo : 22.38 — Stunde um Stunde auf Fährschiffen zwischen Staten Island und der südlichen Spitze Manhattans hin und her. Ein schaukelnder Ort. Ein Ort, der im Moment meiner ersten Begegnung schon vertraut gewesen war, als ob ich vor langer Zeit geboren wurde auf einer der brummenden Bänke, ein früher Blick, Schatten riesiger Möwen hinter Scheiben, auf welchen Salzkristalle funkelten, der Klang der Nebelhörner, und wieder oder immer noch seither dieser rote Ball, den die Bewegung des Meeres über das untere Deck der Fähre spielt. Heiß und stickig, der Tag meiner Notiz, auch über der Upper Bay ruhte bewegungslos die Luft, bereit zu sinken. Lungerte mit Reiseschreibmaschine auf den Knien hechelnd, Luvseite, herum und wartete. — stop
=
tango : 15.27 — g e w i t t e r f e d e r
subway
sierra : 22.01 — Immer wieder der Eindruck, Menschen würden mittels raschelnder Zeitungen in U‑Bahnwagons miteinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Zug in einer Weise fort, dass man meinen möchte, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von besonderer Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, geschmeidige Wesen, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille verbreitete sich sofort, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — stop. / Dezemberkoffer 2007
miniatur — world trade center
olimambo : 0.02 — Ein Frauenwesen spätabends in der Subway Linie 1 südwärts. Vollständig in Weiß gekleidet, blau geschminkter Mund, hochgewachsene, schmale Statur, faltenlose Stirn, die bis hin an die Decke des Zuges reicht. Leicht gebeugt verharrt sie von Taschen umgeben neben einer Tür in der eisigen Luft, ernstes Gesicht, verschenkt Zettel, auf welchen je nur ein Wort, das Wort LOVE, handschriftlich verzeichnet ist. Ihre heisere Stimme, die Lautsprecheransagen wiederholt. stop. Echoes. stop. Ladies and Gentlemen! Please stay clear of the closing doors. This is a local A‑Train. — stop
’
sierra : 20.14 — c o l t r a n e f e d e r
holly — juli 26
ginkgo : 1.18 — Ein Herr, wie geträumt, sitzt auf einem Klappstuhl nahe der Busstation Port Authority in einem Subwaytunnel. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Mann vollzieht auf einer Hammondorgel Ohrenwurmmelodien ohne Pause. Weißes Haar, gelblich schimmernd, grauer Anzug, blaues Hemd. Dürr springen seine Hände über die Tastatur, auf dem spiegelnden Rücken des Instrumentes tanzt eine elektrische Jazzfigur im schwarzen Anzug. Die kleine Personenmaschine scheint defekt zu sein, hält immer wieder einmal an, bebt ein wenig nach, federt, fordert einen weckenden Stoß unverzüglich. Unweit, auf dem Boden, eine weitere Puppe, rotes Haar, lebensnah, durchblutet, ein Bonsaimädchen, dem zwei Finger der rechten Hand verloren sind. Geschmeidige Bewegungen der hellen Arme in jede Himmelsrichtung, grazil, leicht und rhythmisch, als verfügte sie über wirkliche Ohren ihres hochbetagten Freundes, dessen Kopf von wandernden Wirbelknochen tief über die Tastatur gezwungen wird. Jede Bewegung, jeder Blick in den Raum, scheint aufs Äußerste schmerzhaft zu sein. Für Sekunden sind Augen eines jungen Menschen zu sehen, seltsam helle Augen. Eine elegant gekleidete Frau kniet vor dem Klappstuhl auf dem Boden. Sie betrachtet den alten Mann von unten her, sie lacht, sie spricht. — stop
schreibmaschine
tango : 23.58 — Regen. Gütiger Regen. Ich bin eine lustige Schreibmaschine. — stop
mann ohne mund
tango : 22.16 — Dreifach einem Mann ohne Mund begegnet, jedes Mal unter der Lexington Avenue gegen den Abend zu fahrend, wenn sich die Züge füllen mit Pendlern in alle Richtungen des Himmels. Das Pfeifen der Luft, die den Saum einer Öffnung am Hals des Mannes in Schwingung versetzt, ich hörte es in nächster Nähe, ich hörte es im Traum, ich erinnerte es bei einer zweiten Begegnung sofort, als wäre das pfeifende Flattern eine Stimme, da war er noch entfernt, da sah ich sein zerstörtes Gesicht durch die Menge der Reisenden näherkommen, sah seine gleichwohl vom Feuer versengten Hände, rosa leuchtende Haut da und dort, die Ahnung einer Nase, sein Auge, das letzte, gerötet von der Anstrengung und vom Ausdruck der Dankbarkeit, mit dem er jeden unter der Stadt reisenden Menschen bedachte, sobald er sich Davids Geschichte lesend näherte, sprechenden Fotografien vor einer ruhig atmenden Brust: Ich, ich habe in Bagdad mein Gesicht verloren in einer Sekunde an einem Abend wie diesem Abend, in einem Sommer wie diesem Sommer. Und wie er jetzt weitergeht, wie er die Stille mit sich nimmt. Auch ich habe kein Wort zu ihm gesagt, als ob ein Mann ohne Mund nicht hören könne. — stop
manhattanwelle
marimba : 22.16 — Dampfende Stadt. Dampf aus dem Boden, Dampf von den Wolken, Bäume dampfen, Menschen unter ihren Schirmen, selbst Eichhörnchen des Central Parks dampfen kleine Wolken aus dem Mund. Wie ich so gehe von Harlem aus nach Süden, von jedem Ticketschalter her eine schwarze Stimme von Jazz. Das ratternde Geräusch der Subway, rhythmisch, ihr warmer, öliger Atem, der dem Spazierenden unter den Regenschirm fährt. — Ein Mann zur Mittagsstunde nahe Madison Square Park mitten auf dem Broadway im tosenden Verkehr. Er trägt einen feinen, dunklen Anzug, aber grobe, staubige Schuhe. Immer wieder beugt er sich zur Straße hin, versenkt einen Zollstock in den Asphalt, telefoniert, die Arme, als sei ihm kalt, eng an den Körper gepresst. Der Mann scheint wütend zu sein. Er geht ein paar Schritte südwärts, vermisst ein weiteres Loch, Rauch steigt von dort, ein flatternder Faden. Als ob sich der Mann vergessen haben würde, nun zunächst in die Hocke, dann kniet er nieder, späht in den Schlund. — stop
linie d – nordwestwärts
echo : 15. 02 — Von Brooklyn nach Manhattan Subwayfahrt, eine alte Dame vis–à–vis. Seit einer halben Stunde reisen wir so dahin, ich schreibe, sie scheint zu schlafen. Ein kariertes Hüttchen trägt sie auf dem Kopf und einen Seidenschal um einen grazilen Hals gewickelt. Ihr dunkelhäutiges Gesicht, zart gefaltet. Von Zeit zu Zeit öffnet sie für eine oder zwei Sekunden eines ihrer Augen und berührt mich mit einem festen Blick. Ich würde gerne wissen, ob sie mich wirklich sieht. Gleich werden wir die 33. Straße erreichen. Ich stelle mir vor, wie die alte Frau weiterfahren wird, um kurz darauf erneut eines ihrer Augen zu öffnen. Ich werde dann nicht mehr da sein, ein anderer Mensch wird an meiner Stelle sitzen, vielleicht wird auch dieser Mensch bald eingeschlafen sein, und gerade in dem Moment, da die alte Dame ihr Auge öffnet, eine ebensolches, wachsames Auge geöffnet haben. — stop
zungen
delta : 18.
05 — Was ich hörte im Gehen Ecke Lexington Avenue zur 59. Straße, ein Wort müsste ich übers andere schreiben. Das Heulen der Löschzüge, das Hupen der Taximobile, quietschende Bremsen, Krawall aus Läden, Menschenstimmen, Pfeifen, Quietschen, Ächzen, Brausen, Lärmzungen, die um jede Ecke streichen, ein Wort über das andere schreiben, bis sich die Zeichen aus dem Papier erheben. — stop
lamellenohr
ulysses : 17.
52 — Ich hatte, seltsame Geschichte, die Idee, dass ich, in dem ich schlafend oder wachend durch Manhattan spaziere, lernen sollte, meine Ohren in der Weise der Seehunde durch Muskelkraft zu verschließen. Denkbar, dass mir bald Lamellen feinster Haut gewachsen sein werden, Innenohrsegel, deren Bewegung ich verfügen könnte, wie ich die Bewegung meiner Hände vorhersagen kann. — Menschliche Stimmen im Vorübergehen in den Farben sanfter Traumgespräche. Der Schlaf der Augen in der Subway, die Wildheit zufälliger Blicke. — stop
madison avenue
ulysses : 7.
32 — Madison Avenue am frühen Morgen von Süd nach Nord. Tausende Tagpassanten nähern sich und verschwinden. Heftige Winde. Blüten, Blätter, Töne wirbeln in Spiralen durch die frische Luft. Frauen halten ihre Röcke, Männer ihre Hüte fest. Berauschende Glücksgefühle. Werde ich größer oder werde ich kleiner? Irgendetwas scheppert leise im Kopf von Schritt zu Schritt. Fliegenleichtgewichte, transparente Hummergestalten, spazieren seitwärts über den Bildschirm meiner Handschreibmaschine dahin, gebeutelte, zausige Herzen. Wo waren sie in der vergangenen Nacht gewesen? Indem ich eines der Geschöpfe auf der Schulter mit mir trage, der Gedanke, dass sich beinahe alle Menschen dieser großen Stadt nicht persönlich kennen. — stop
bronx — flug
echo : 23.
32 — In der Dämmerung des Abends gegen die 241 St. zu, letzte Station weit oben im Norden. Eine halbe Stunde Tiefflug über steinerne Landschaften der Bronx, Miethauskasernen, rot, grau, rußig schwarz. Nach und nach leert sich der Zug, aber da draußen, da unten hinter den scheppernden Scheiben des Zuges, geräuschlos, stumm, Straßenzüge voller Menschen bis zum Horizont. Und wie sich die Lichtmembranen dann beruhigen, wie wir langsamer und langsamer werden, der schmale Kopf eines metallenen Fühlers, unser Bahnsteig, an den der Zug sich müde lehnt wie ein Schiff an einen Landungssteg nach langer Reise. Wald, wild und dornig, jenseits der Schienen, blühende Gräser erheben sich vom brüchigen Boden. Eine Bank, warmes Holz, auf dem ich sitze, rot leuchtende Falter eilen westwärts. Weit entfernt, am anderen Ende des schlafenden Zuges noch, die Gestalt einer Frau mit Besen, die sich durch die schimmernde Schlange fädelt, eine Frau von schwarzer Hautfarbe. Sie trägt kräftige Schuhe und einen Overall. Als sie bei mir ankommt, zögert sie kurz, will wissen, was ich hier tue, seltene Erscheinung, formuliert so rasend schnell, dass ich ihr kaum folgen kann. Bald geht sie weiter, schleift ihren Besen hinter sich her, macht den Zug zu Ende, kommt wieder zurück, setzt sich neben mich, spricht wie in Zeitlupe mit leicht erhobener Stimme: I — s — - t – h — a — t — - s — l – o — w — - e – n — o — u – g – h ?
fifth avenue – lemur
tango : 20. 56 — Pappkartonhütten auf Treppen, die zu Kirchenräumen führen, zerlumpte, sich bewegende Gebilde. Seit Stunden geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf, der in New Yorker Subway – Zügen immer wieder einmal zu lesen ist: Give the homeless the kind of change they can really use. Irgendetwas irritiert in dieser Zeile. — Abend. Warm und schwül der Atem der Straßen. Vor der St. Patricks Cathedral, Fifth Avenue, liegt eine Frau ohne Bewusstsein um einen Hydranten gewickelt auf dem Boden. Eine Ratte zerrt an ihrem Gepäckwagen. Das nervöse Tier hebt den Kopf, scheint mich zu betrachten, diesen Mann in feinen Hosen, mit tadellosen Wanderschuhen, der mit weit geöffnetem Mund vorsichtig atmet. Beißender Gestank ruht in der Luft. Ich stehe, ich denke, sie wird bald sterben, diese Frau wird bald sterben. Sie könnte eine Mutter sein. Ihre eitrigen Hände. Ihr von Schmutz graues Gesicht. Ihr staubiges Haar. Ihre tief in den Kopf eingesunkenen Augen. Was ist, was nur um Gotteswillen ist geschehen, dass sie so endet? — stop
>
echo : 20.58 — e l e f a n t e n f e d e r
ground zero
sierra : 18.16 — Zwei Stunden Broadway südwärts bis Fultonstreet. Eine kleine Kirche, St Paul’s Chapel, Granitsteine, Gräber, ein Garten unter Bäumen. Ich kenne diesen Garten, diese Bäume, eine Fotografie genauer, die einen Staubgarten zeigt, Sekundenzeit entfernter Gegenwart, ein Bild, das im September 2001 aufgenommen wurde, am elften Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vormittags. Hellgraue Landschaft, Papiere, größere und kleinere Teile, liegen herum, Akten, Scherben. Auch die Bäume vor der Kirche, helle Gestalten, als hätte es geschneit, eine feine Schicht reflektierender Kristalle, Spätsommereis, das an Wänden, Stämmen und an den Menschen haftet, die durch den Garten schreiten, träumende, schlafwandelnde, jenseitige Personen im Moment ihres Überlebens. Ein merkwürdiges Licht, beinern, nicht blau, nicht blühend wie am heutigen Tag um Jahre weitergekommen. Etwas fehlte in der Luft im Raum unter dem Himmel über Manhattan sehr plötzlich, war so fein geworden, dass es von flüchtenden Menschen eingeatmet wurde. Kaffeetassen. Treppenläufe. Hände. Feuerlöscher. Füße. Waschbecken. Nieren. Stühle. Schuhe. Computerbildschirme. Arme. Brüste. Kopfschalen. Radiogeräte. Bleistifte. Telefone. Ohren. Augen. Herzen. stop
lexingtonlineparticle
echo : 2.32 — Subway 86 St., Linie 4, spätester Abend: Menschenstille. Aber das Brausen tausender Ventilatoren, die kühle Luft durch blecherne Arterien blasen. Eine Rolltreppe, einsam quietschend, selbstgenügsames Wesen. Und das Wasser, woher, an den Wänden. Hier muss nicht geatmet werden, solange der Boden bebt von der Erwartung des Zuges. Man hört ihn schon von weit her kommen, dumpfe, pochende Erschütterung. Und wenn er dann hereinfliegt aus den Schatten, das rote, das gelbe, das blaue Zahlenauge. Luft zischt, Menschen treten hervor oder bleiben. Jede Kammer, jeder Waggon, hinter jedem Fenster, eine eigene, einzigartige Versammlung lebender Geschichten. stop. Wie sich die Türen schließen. stop. Wie man verschwindet. — stop
lichtbilder
tango : 22.55 — Prozession der Holzkohlewagen abends in der Dämmerung auf der Fifth Avenue südwärts. Fäden weißen Rauches, die sich den Luftbewegungen der Seitenstraßen beugen. Im Café, am Nebentisch, eine Frau, die gegen den Himmel fotografiert. Das künstliche Geräusch der Kamera im Moment der Aufnahme, ein wegwerfendes Geräusch, visieren, festhalten, vergessen. Wie viele Bilder sind genommen, ohne je betrachtet worden zu sein? — Zur Mittagszeit ein griechischer Mann auf dem Fährschiff nach Ellis Island. Scheue Blicke der Enkelkinder, die sein uraltes Gesicht betasten, während er schläft. Sie halten Windräder in Händen, die sich schnurrend drehen. Ihre Mutter, die Tochter, lehnt an der Reling. — stop
hibiscilli
sierra : 20.24 — h i b i s c i l l i !
manhattan — bellevue hospital
alpha : 14.15 — Auf einer Bank im Schatten kühlender Bäume gleich neben dem Bellevue Hospital sitzt ein alter Mann in einem blau und weiß gestreiften Pyjama. Er versucht eine Mineralwasserflasche zu öffnen, schimpft vor sich hin in dieser schweren Arbeit, sagt, dass das doch nicht möglich sei, warum sich das verdammte Ding nicht öffnen ließe, er habe die Flasche vor einer Stunde noch selbst zugedreht. Ein graues Eichhörnchen hockt auf mächtigen Hinterbeinen neben ihm, beobachtet die Hände des alten Mannes, bleibt auch dann ganz still, als ich mich nähere und meine Hilfe anbiete. — Ein angenehmer Nachmittag, die Luft ist etwas kühler geworden und trocken, ein leichter Wind raschelt in den Bäumen, die so alt zu sein scheinen, dass der Schriftsteller Malcolm Lowry sich an ihren Stämmen festgehalten haben könnte, damals, im Jahr 1936, als er schwer alkoholsüchtig in enger werdenden Kreisen auf das Krankenhaus zustürzte, um in einem Tage währenden Delirium, Wale über den East River fliegen zu sehen. Der Dichter, der Trinker auf hoher See. Bellevue war in Lowry’s Kopf zu einem Schiff geworden, dessen Planken unter ihm ächzten, in den Stürmen, die sein armes Gehirn durchleben musste, in Fieberschüben, unter den schwitzenden Händen der Matrosenärzte, die ihn an sein Bett fesselten. Und wie er dann selbst, oder jene Figur, die Malcolm Lowry in seiner großartigen Erzählung Lunar Caustic gegen das Alkoholungetüm antreten lässt, nach Wochen der Abstinenz aufrecht und leichtfüßig gehend durch den Haupteingang des Hospitals wieder festen Boden betritt, schon die nächste Flasche Absinth vor Augen hier am East River, an einem Tag wie diesem Tag vor langer, langer Zeit.
manhattan transfer
ginkgo : 17.58 — Im Moment der Vergegenwärtigung, eine Minute stillzustehen und zu denken: Meine Schuhe berühren amerikanischen Boden. Könnt von hier aus nach Patagonien laufen, nach Feuerland, ohne je einen Schwimmzug zu unternehmen, südwärts, südwärts zur 42th Straße hin, den Lincoln Tunnel unter dem Hudson durch nach New Jersey, immer der Küste entlang, langsam, Schritt für Schritt. Aber dann nehmen mich meine Beine doch nordwärts mit sich fort, spazieren den Zoo der Bronx bis wir abends müde geworden das Fährpendelschiff Downtown erreichen. Schaun nach Holly, heut könnt sie kommen wie aus dem Nichts aus dem Strom der Menschen, Marsec Security Level 1, fröhlich grüßt sie die Matrosen, fliegt über die Gangway aufs untere Deck hin zum vertrauten Platz am Fenster ins Licht der flaschengrünen See. Hier nimmt sie unverzüglich ihre Arbeit auf, beginnt Zeichen von einem Buch auf regenfestes Papier zu übertragen: Mittagsstunde am Union Square. Ausverkauf. Müssen räumen. WIR HABEN EINEN SCHRECKLICHEN IRRTUM BEGANGEN. Auf dem staubigen Asphalt kniend, putzen kleine Jungen Schuhe, Halbschuhe, Sandalen, Knöpfelschuhe, Stiefeletten. Wie ein Löwenzahn glänzt die Sonne auf der Spitze jedes frisch geputzten Schuhs. — stop
=
echo : 8.58 — d e l i l l o f e d e r
ventilatorpocken
nordpol : 9.16 — Dämmerung des Morgens. In den blaugrauen Schatten der Häuserspitzen, die sich über Kreuzungen bewegen, scheint die Zeit schneller zu werden. Ein Waschbär hastet Richtung Central Park geduckt der Bordsteinkante entlang. Am siamesischen Hydranten hält er kurz an, trinkt, dreht sich immer wieder nach mir um, unsicher vielleicht, weil er bemerkte, dass ich ihm folge durch die Seewindluft, die noch kühl ist von der Nacht. Das Rauschen der Ventilatorpocken an den Häuserwänden, sanft. Vereinzeltes Hupen. Eine Minutengeschichte im Warten auf Uwe Johnsons Wörterlicht, die Sohle der Lexington Avenue noch verschattet. — stop
mrs. wilkerson
whiskey : 22.28 — Mrs. Wilkerson ist eine außerordentlich stattliche Erscheinung. Sie trägt ihr schwarzes Haar zu einer Kugel geformt streng hinter den schmalen Kopf zurückgezogen, Mund und Augenlider sind von einem Schimmer erhellt, der so dezent aufgetragen ist, dass er auf der Haut einer weißhäutigen Frau nicht sichtbar werden würde. Wenn man abends nach zehn Uhr das Haus in der 38th Straße betritt, wartet sie bereits, meistens stehend und freundlich lächelnd hinter ihrem Tisch in einer fliederfarbenen Bluse unter einem dunkelblauen Jackett so adrett gekleidet, so sauber, so leuchtend, dass ich mir immer ein wenig schmutzig vorkomme, staubig, sagen wir, klebrig, erhitzt von der Erregung der Stadt, die ich während des Tages aufgenommen habe. Mrs. Wilkerson kennt mich bei meinem Namen. Sir, sagt sie, ein seltsam klingendes Wort in meinen Ohren, dann wieder Honey, was ich als Auszeichnung empfinde. Sie arbeitet nachts, öffnet die Tür, sobald ein Bewohner oder Besucher des Hauses die kleine Halle vor den Aufzügen zu betreten wünscht, grüßt, vermittelt Postsendungen, Nachrichten, Zeitungen, aber eigentlich bewacht sie das Gebäude und die Menschen, die in ihm wohnen. Eine vollendet höfliche Person, etwas größer als ich und so geschmeidig und locker in ihrer Art, dass ich sie zum Vorbild genommen habe. Ob die Aufzüge des Hauses schon einmal ausgefallen seien, verlangte ich unlängst zu wissen. Nicht, wenn sie selbst im Dienst gewesen sei, antwortete Mrs. Wilkerson. Ich fragte weiter fort, ob es denn gestattet sei, durch das Treppenhaus aufwärts zusteigen, um die Zeit eines Fußweges himmelwärts zu messen. Und als ich mich umdrehte, als ich in Richtung der Tür spazierte, auf die sie gedeutet hatte, wieder diese lachende, fürsorgliche Stimme: Honey, your bag is open! — stop
george ferry terminals tiefseeelefanten
sierra : 17.10 — Hatte einen Traum, eine Wahrnehmung, die mir lange Zeit, ich war längst erwacht, ein sehr wirklicher Raum gewesen zu sein schien. Dort, im Nachtzimmer, wartete ich an einem späten Abend in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Ich wartete lange, ich wartete den halben Tag und eine halbe Nacht, begeistert vom Anblick einer Herde filigraner Tiefseeelefanten, die über den hellen, sandigen Boden eines Schauaquariums wanderten. Sie hatten ihre meterlangen Rüssel zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das warme Glas des Geheges legte. Dieses Geräusch nun sucht seit Stunden nach einem Wort für sich selbst, nach einem Zeichensatz, der vermutlich niemals existieren wird. — stop
louiloui
olimambo : 12.01 — Das Vermögen schimmernder Feuerlöschzüge, zärtlich zu Passanten zu sprechen. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights
echo : 22.12 — Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
groundzerosekundenzeit
charlie : 22.18 — Kurz nach sechs Uhr abends. Church Street. Auf einer Treppe sitzt ein Mann in einem dunklen Anzug, weißem Hemd, blauer Krawatte. Seit bald einer Viertelstunde, Aktenkoffer zwischen den Beinen, Hände gefaltet, verharrt er in dieser Weise bewegungslos, schaut in den Luftraum über Ground Zero. Presslufthämmer sind zu hören, Tauben picken über den Boden. Eine Armlänge entfernt von dem Mann, der zu beten scheint, balanciert ein sehr viel jüngerer Mann auf den Schultern eines weiteren jungen Mannes. Er hält mit einer Hand einen Fotoapparat so weit wie möglich in die Höhe, um eine Fotografie jenes Ortes aufnehmen zu können, der hinter einem Bauzaun verborgen liegt. Das sieht so aus, als versuche er rückwärts in die Zeit vorzudringen, als wolle er noch etwas vom Verschwundenen, vom Schrecken dokumentieren, all das finden vielleicht, was dort nicht mehr ist, so gründlich wurde aufgeräumt. Wie er jetzt von den Schultern des Freundes springt, fällt ihm der Fotoapparat aus der Hand. Der kleine Blechkasten scheppert über den Gehsteig, Tauben fliegen auf. Auch der Blick des betenden Mannes bewegt sich, flackert für einen Moment in den Räumen der Zeit. — stop
luftfäden
himalaya : 12.56 — Subwayzüge um fünf, in magischer Zeit, wenn einschlafende Nachtaugen wachwerdenden Morgenaugen begegnen. — stop
central park — liegend
tango : 15.28 — Im Central Park für Stunden. Einmal lege ich mich ins Gras und notiere was ich sehe: Hunde, zum Beispiel, Riesenpudel im weißen Pelz, rosafarben die Haut ihrer Gesichter, Kreaturen, Menschenhunde, die uralte Bäume markieren. Das feine, helle Grün der Kronen, wisperndes Licht, als wär noch Frühling, solche Bäume, die geduldig flanierende Personen beschirmen. Und Läufer, männliche und weibliche Läufer, leicht bekleidet, entspanntes Lächeln, wie von unsichtbaren Fußsänften getragen. Vier Polizisten, je mit Mütze, schweres Gerät klimpert in der Mitte ihrer runden, festen Körper. Eisverkäufer streiten am Ufer eines Sees, auf dem Funksteuerboote segeln. Ein verliebtes Paar ist da noch, sie liegen, und ein weiteres, ein gleichgültiges Paar lungert auf einer Bank, die Frau einerseits türmt mit zartesten Bewegungen ihrer rot bemalten Zehen Baumsamenspreu zu Gebirgen, der Mann andererseits beobachtet ein filigranes Wesen, das von Leibwächtern umringt über eine Wiese nordwärts schreitet. Ich schlafe bald ein. Eine nordamerikanische Biene, brummend. Das Blau des Himmels. Zwei Luftballons wippen vorüber, als würden sie auf eigenen Beinen gehen. — stop
nachricht
sierra : 2.56 — Zu jeder Zeit, auch dann, wenn ich schlafe, habe ich etwas Licht in meinem Kopf. – stop
∏
alpha : 0.22 — Summende Stille.
°°
ginkgo : 6.06 — Das eine Ohr lauscht zum anderen hin. Flimmernde Begegnung. — stop
in der paukenhöhle
echo : 16.02 — Ich habe mir eine Maschine vorgestellt, derart filigran konstruiert, dass ich sie meinen inneren Ohren zufügen könnte, und zwar in nächster Nähe der Gehörknöchelchen, eine Trafomaschine, 50 mg von Gewicht und mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen. Dort in den Paukenhöhlen befindlich, würde das Maschinenwesen in physikalischer Weise Strom erzeugen, würde durch die Bewegung eines Gedankens gesteuert, Geräusche der Welt dämpfen, das heißt bremsen, aber niemals verstärken. Je lauter die Welt, in der ich mich befinde, je leiser ich sie höre, desto heller das Glühbirnenlicht, das von gesammelten Strömen zunehmender Stille entzündet sein wird. — stop
nonfossil
marimba : 20.06 — Versteinerte Geräusche existieren nicht. — stop
ebola
echo : 15.57 — Kleinste Waffentiere. stop. Sagen wir : Ebola : Pocken : Marburg : Antrax. stop. Schlafen wir in unseren Weltstädten nur deshalb noch friedlich, weil wir nicht denken, wovon wir wissen? — stop
radare
ginkgo : 20.58 — Palmengarten. Die Sonne geht gegen sechs Uhr unter, Enten gehen schlafen. Der Schirm ihrer Augen, der sich regelmäßig öffnet, als würden sich in ihren kleinen Köpfen Halbschalen von Perlmutthaut langsam drehen. Gehen und Kommen, Wiederholung, Rhythmus, Radare. Transferierte in der Dämmerung handschriftliche Texte aus Notizbüchern in die Schreibmaschine, das kann man jetzt drucken, die Bewegung der Subwayzüge, die sich in den Zeichen zur Unleserlichkeit fortsetzte, verschwunden. — Wie sprechen, wie erzählen? — Erinnerte mich an den Moment, da ich erfahren habe, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist. Seither, von Zeit zu Zeit, die Wiederholung der Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte, die atemlose Sprache der Lust vielleicht oder die Sprache der Chaträume? Ob eine dieser menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, auf hoher See Luft perlend vor einem Wal zu schweben und zu warten und zu wissen, dass er gleich, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird. Etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine weitere Frage: Wie heißt Du, mein Freund? — Oder: Ich hörte von Bäumen!
die alte margareta spricht vom sterben
nordpol : 18.15 — Nachmittag. Wolken tief. Regen heut aus nächster Nähe auf den Schirm. Auch von der Seite her Tropfen, die so leicht sind, dass sie mit meinem Atem zurück gegen den Himmel fliegen. Mit Schreibmaschine sitz ich und beobachte handliches Kino. Dort das Gesicht einer uralten Frau. Sie heißt Margareta, die Margareta aus Wien. Margareta ist 91 Jahr alt. Von einem bösen Krebs schwer gezeichnet, spricht sie im Sterbehospiz in einer heiteren Weise Gedanken in die Kamera, die mich berührten, als ich sie zum ersten Mal hörte, so dass ich mir vorgenommen hatte, jeden ihrer Sätze in einer eigenen Textspur festzuhalten. Heute nun ist Margaretas Tag. Immer wieder halte ich den Film an und notiere Wort für Wort was Margareta zum Sterben sagt: Ich glaub nicht gar so. Ich glaub nicht, dass man in den Himmel kommt. Weil, mit was soll man denn? Ja, mit der Seele, nicht! Die Seele kommt in den Himmel. Ja, aber wer ist denn die Seele? Das weiß man dann auch nicht. Ich sag das nur, weil Sie mich gefragt haben. Weiß ich nicht, wie das dann geht! Ich hab eine Cousine gehabt, die war sehr christlich. Wenn die nur einmal nicht in die Kirche gegangen war, aber sie hat mir gesagt damals, sie war ein 18er-Jahrgang, ich bin ein 14er, mein Bruder war ein 17er, und sie hat gesagt: Das glaub ich nicht, dass es nach dem Tod noch was gibt. Sie meint halt, dass wenn man stirbt, dass es dann aus ist. Ich weiß es auch nicht. Aber ich schlafe jetzt auf die Nacht ein, und in der Früh werd ich munter, das hab ich jetzt dreimal schon gemacht, da denke und da träume ich gar nichts, so richtig nichts. Dann denk ich mir, siehst du, so wär das Sterben. Aber es ist halt so. Nein, so richtig weiß ich es nicht. Aber ich bin ja schon knapp davor. Mit 91 sind Sie knapp vor dem Sterben. Müssen Sie ja sein. — Margareta hebt einen kleinen Löffel vom Tisch. - Mein Gott, gar nichts essen möchte ich am liebsten. - stop
voyager
ulysses : 22.00 — Wie ich lernte, meine Schuhe zu binden. Eine Sekundenerinnerung an den Tag, als ich zum ersten Mal mit einer Dampflokomotive aus der Stadt München heraus über Land gefahren bin. Abends sitze ich unter einem Apfelbaum nahe Landau. Ich bin müde, aber ich habe den Wunsch, im Leben weiterzukommen. Irre Bewegungen meiner Kinderhände über kleinen blauen Schuhen. Der Eindruck forschender Unsicherheit, der in diesem Moment, Finger für Finger, wieder zu spüren ist, als würde jede Hand für sich über ein eigenes Gedächtnis verfügen. — Vielleicht ist es sinnvoll zu sagen, dass die Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 in der Sekunde ihres Starts geboren wurden. — stop
fächer
romeo : 2.33 — Meine blauen Kinderschuhe. — stop
mangrove
india : 22.58 — Im Palmengarten befinden sich acht wabenförmige Glashäuser, die durch Schleusenräume miteinander verbunden sind, sodass man in wenigen Minuten zunächst durch eine Wüste spazieren kann, dann durch einen Regen- und kurz darauf durch einen Nebelwald. Ich sitz gern dort, jenseits der Mangrovenabteilung im Bromelienhaus, und lese in wasserfesten Büchern herum. Es ist angenehm still. Kaum jemand verirrt sich hierher, so versteckt liegt die Wabe im Zentrum der Glashausversammlung. Und vielleicht genau aus diesem Grund, weil es von Menschen still ist, kommen dutzende, leise jaulender Wachteln unter Bäumen zusammen, auf welchen Blumen lungern wie schlafende Vögel. Hatte vor Stunden noch unter Luftwurzeln etwas Wilhelm Genazino beobachtet. Plötzlich bemerkte ich, dass kein Geräusch um mich herum zu hören war. Völlige Stille. Eine merkwürdige, eine trockene Stille. Für einen kurzen Moment der Eindruck, während des Lesens vielleicht taub geworden zu sein. Schaute mich um, sah eine Hand auf einer Buchseite liegen und dachte, dass ich jetzt mit dieser Hand sofort zur Beruhigung ein Papiergeräusch erzeugen müsse. Ich blätterte also um, und ich hörte ein Rascheln und das leise Sausen der Luft, hörte Vögel wieder pfeifen, das Tropfen des Wassers. Ich hörte meine Stimme das Wort seltsam sagen. — stop
gramm
whiskey : 15.28 — Das Wort Mangrove in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Mangrove denke. Wie viel Gramm?
quentin crisp
romeo : 18.12 — Samstag. Regen. Knisternde Fenster. Beobachtete die Filmbiografie des homosexuellen Schriftstellers Quentin Crisp vor und zurück. Gegen Ende seines Lebens folgende Sätze: Beharrlichkeit ist Ihre stärkste Waffe. Es liegt in der Natur von Barrieren, dass sie fallen. Versuchen Sie nicht so zu werden wie Ihre Widersacher. Sie tragen die Bürde und haben die große Freude, Außenseiter zu sein. Jeder Tag, den Sie leben, ist eine Art Triumph, daran sollten Sie immer festhalten. Sie sollten sich nicht bemühen und versuchen, sich der Gesellschaft anzuschließen. Nein, bleiben Sie stets da, wo Sie sind. Geben Sie Ihren Namen und Ihre Seriennummer und warten Sie darauf, dass die Gesellschaft sich um Sie herum bildet. Denn das wird sie höchstwahrscheinlich tun. Schauen Sie niemals nach vorn, wo es die Zweifel, und niemals zurück, wo es das Bedauern gibt. Nein, schauen Sie immer nach Innen, und fragen Sie sich nicht, ob es in der Außenwelt etwas gibt, was Sie wollen, sondern ob es Innen irgendetwas gibt, das Sie noch nicht ausgepackt haben. / zitiert nach der Tonspur des Films “An Englishman in New York”
maschinenradar
zuluzulu : 7.28 — Notieren in Chaträumen eventuell Computermaschinen, die Menschenversuche unternehmen? — stop
luftzeitpumpen
~ : louis
to : Mr. eliot
subject : LUFTZEITPUMPEN
Mein lieber Eliot! Ich habe mir heute gedacht, man müsste Beizeiten einmal mit einer höheren Instanz darüber verhandeln, ob nicht Lebenszeit durch Lesezeit verlängert werden könnte. — Wollte Dir schon lange schreiben. Ich nehme an, Du wirst vor Monaten zunächst Dein Warten, dann meinen Namen vergessen haben. Oder war es etwa umgekehrt gewesen? Nun, hier bin ich wieder, Dein Louis, jener Louis, der in seiner Vorstellung Luftzeitpumpen versuchte. Um Himmelswillen, ich werde doch nicht ganz und gar verloren sein, ein seltsamer Gedanke, dass ich meiner Arbeit nachgegangen sein könnte, ohne bemerkt zu haben, dass meine Existenz in Deinem Leben endete, ein ferner Tod, mein eigener. Sammelst Du weiterhin Herzen Deiner Rechenmaschinen? Wie geht’s Deiner Geliebten? Was macht das Chromosom No 1, hast Du’s bald ausgedruckt? — Zwergseerosen segeln durch die Luft. Antworte rasch! Dein Louis
marit
nordpol : 0.02 — Vergangene Nacht war ich wach geworden um fünf. Ich hatte einen merkwürdigen Traum, in dem Mr. Eliot erklärte, dass er Briefe, die ich an ihn schreibe, nicht lesen könne, weil er schon vor langer Zeit blind geworden sei. Ich war dann also wach um fünf und fühlte mich leicht, und ich wunderte mich, woher diese Leichtigkeit gekommen sein mochte. Da erinnerte ich mich, dass ich noch immer nachdrücklich auf eine Antwort James Salters warte, ich hatte ihm vor zwei Jahren zuletzt geschrieben. Auch Mr. Salter könnte blind geworden sein, kein Wunder, dass er nicht schreibt. Unverzüglich suchte ich in den Archiven nach dem Brief, den ich notiert hatte. Er war rasch gefunden, eine feine Geschichte, die ich berühre, die ich hier wiederhole, indem ich sie mit Stimme lese, in der Hoffnung, dass Mr. Salter mich hören kann: Lieber James Salter, als ich heute Nacht am Schreibtisch saß und in Ihren wunderbaren Erzählungen las, habe ich eine kleine Spinne bemerkt, die mich beobachtete, jawohl, sie saß auf dem Feinsten der Blatthaare eines Elefantenfußbaumes, der neben meiner Computermaschine steht, und beobachtete mich aus mehreren winzigen schwarzen Augen. Ich habe überlegt, was dieses Wesen wohl in mir sieht. Für einen weiteren kurzen Moment habe ich darüber nachgedacht, ob Spinnen vielleicht hören, – ich lese oft laut vor mich hin, das sollten sie wissen -, und so wunderte ich mich, dass ich viele Jahre gelebt habe, ohne der Frage nachzugehen, ob Spinnen über Ohrenpaare oder doch wenigstens über einen zentralen Gehörgang, wo auch immer, verfügen. Ich saß also am Schreibtisch, ich las und die kleine getigerte Spinne, von der ich Ihnen erzähle, seilte sich zur Tastatur meiner Computermaschine ab. Ich hatte den Eindruck, dass ihr diese Luftnummer Freude machte, weil sie ihre Landung immer wieder hinauszögerte, indem sie den Faden, der aus ihr selbst herausgekommen war, verspeiste, demzufolge verkürzte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich sie betrachtete, das ist denkbar, weil ich aufgehört hatte, laut zu lesen, für einen Moment, um nachzudenken, vielleicht wollte sie, um sich mir darzustellen, auf meiner Augenhöhe bleiben. Das war genau in dem Moment, als Marit nach ihrer letzten Nacht auf unsicheren Beinen die Treppe heruntergekommen war, Marit, die doch eigentlich seit Stunden schon tot gewesen sein musste. Marit setzte sich auf eine Treppe und begann zu weinen. Sicher werden Sie sich erinnern an Marit, wie sie auf der Treppe sitzt und weint, weil sie wusste, dass sie eine weitere letzte Nacht vor sich haben würde. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pause gemacht, weil ich erschüttert war, weil das Gift nicht gewirkt hatte. Ich saß vor meinem Schreibtisch und überlegte, ob auch sie, James Salter, erschüttert waren, als Marit langsam, auf unsicheren Beinen die Treppe herunterkam. Und während ich an Sie und Ihre Schreibmaschine dachte, beobachtete ich die Spinne, die mittels ihrer winzigen Beine, den Faden, an dem sie hing, betastete. Ist das nicht ein Wunder, eine Spinne wie diese Spinne? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es nicht möglich ist, mit einer elektrischen Schreibmaschine zwei Buchstaben zur gleichen Zeit, also übereinander, auf das Papier oder den Bildschirm zu schreiben? Immer ist einer vor, niemals unter dem anderen. Mit herzlichen Grüßen Louis.
hello!
natalie sarraute
echo : 22.55 — Während ich einen Text über Hände und Finger notierte, beobachtete ich meine eigenen, arbeitenden Hände und Finger, wie sie die Tastatur der Maschine bedienten, ohne dass ich ihnen bewusst Anweisung erteilte. Einmal konnte ich nicht weiter, deshalb machte ich eine kleine Pause und betrachtete zunächst meine linke, dann meine rechte Hand. Sie ruhten Seite an Seite auf der Tastatur der Maschine und warteten. Sie warteten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktieren würde, was aufzuschreiben ist. Ich könnte jetzt vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warteten, mein Gedächtnis entlasten zu dürfen, weil ich alle Sätze, die ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, nie lernen, nie speichern muss, weil ich bereits vor der Niederschrift weiß, dass ich bald wiederkommen und lesen könnte, was ich notiere und notierte. Ich betrachtete also meine Hände, und weil ich sehr lange Zeit nicht weiterwusste in meinem Text, habe ich in Nathalie Sarrautes wunderbarem Buch Kindheit gelesen. Nach einer Stunde schaltete sich mein Computer aus und ich konnte auf dem Bildschirm folgende Zeile lesen: no signal. going to sleep. — stop
schlafhauszeit
sierra : 20.21 — Einmal nach einer Methode suchen, für einen Menschen, das heißt, anstelle eines anderen Menschen, schlafen zu können. Man würde fortan Traumzeit rangieren, man würde sagen, heute und morgen, während Du arbeitest, um fertig werden zu können mit Deiner Arbeit, weil Du fertig werden, sofort fertig werden musst, lege ich mich auf mein Sofa und schlafe vierundzwanzig Stunden für Dich und mich. Und kommende Woche dann, wenn ich nach Finnland reisen werde, wo’s im Sommer niemals dunkel wird, schläfst Du Tage oder Wochen anstatt meiner, weil im Herbst todsicher wieder viel wilde Arbeit über Dich herfallen wird. Vielleicht sollten einmal Schläfer existieren, Menschen, die schlafen, das könnte sein, Menschen, die vornehmlich schlafen, um sich ernähren zu können, sobald sie für kurze Zeit wach geworden sind, Schlafsäle vielleicht, oder Schlafwaben für Schläfer, wohltemperierte Träumergehäuse. Wie könnte geschlafene Zeit, die Wirkung dieser Zeit, gespeichert und von Kopf zu Kopf geschrieben sein? — stop
minutenzeit
india : 15.05 — Versuche, die Zeit vorzustellen, das heißt, die Zeit einer Minute zu messen oder zu fühlen oder zu denken, ohne eine Uhr zu Hilfe zu nehmen. Das ist natürlich nicht ganz richtig formuliert, weil ich die Genauigkeit meiner geistigen Messung prüfe, in dem ich nach Ablauf einer Minute, einer vorgestellten Minute, die tatsächlich verstrichene Zeit vom Zifferblatt einer kleinen Stoppuhr lese, die ich in dem Moment mit einer Handbewegung in Gang setze, da ich denke, jetzt, genau jetzt ist die Zeit einer Minute angebrochen. Nein, ich zähle nie bis sechzig, auch nicht bis dreißig! Und die Arbeit der Uhr, die in meiner Hand der Minutenzeit eine gültige Gestalt verleiht, ist nicht zu spüren, nicht zu hören. Ich habe festgestellt, dass die Minutenzeit des Morgens kürzer ist als die Minutenzeit des Abends an derselben Stelle. Seltsame Geschichte! — stop
peking
tango : 6.05 — In Diktaturen verschwinden Menschen und ihre Telefonnummern zur selben Stunde.
time
südwand
india : 6.15 — In der Arbeit des Erfindens wie in der Arbeit des Kletterns in einer Bergwand, ist jede nächste Aufgabe die Wichtigste. James Salter nachgedacht. -
XZH-78
olimambo : 0.01 — Eine lebende Tapete, ein summendes Wesen aus Millionen zartester Mollusken, die einander verbunden sind und doch jede für sich alleine existieren könnten. Diese sehr kleinen Tiere nun sind so eingestellt, dass sie Stäube, Sporen, Pilze, aber auch Bakterien und Viren aus der Raumluft entnehmen. Und weil sie alle derart aneinander befestigt sind, dass ihre Ausscheidungsorgane sich nach außen richten, könnte man also von einer Wand sprechen, von einer lebenden Haut oder einem außerordentlich wirksamen Filter in einer Personengestalt. Sobald eine Molluske gestorben ist, wird sie von umgebenden Mollusken vertilgt, eine Prozedur, die nicht sehr häufig vorkommen wird, weil die Mollusken, so wie ich sie wünsche, ein hohes Alter erreichen, sagen wir, sie werden zweihundert Jahre alt oder um weitere Jahre älter. Einmal am Tag ist im Molluskenzimmer ein Brausen zu vernehmen, ein sehr tiefer, warmer Ton, der in einer Welle durch das Staatstier wandert. Das ist die Minute, da Molluske für Molluske je ihren Bauch entleert. — stop
betäubung
alpha : 10.25 — Meldungen, die den Tod oder die Verwundung von Menschen verzeichnen, werden zur Unsichtbarkeit hin betäubt durch Beschleunigung der Sprache: title / 2 LN children WIA = title / 2 local national children wounded in action. /aus geheimen Feldberichten der US-Armee zum Irak-Krieg, veröffentlicht auf der Plattform Wikileaks
verschwinden
sierra : 18.01 — Vor Kurzem, am frühen Abend genauer, ist mir eine merkwürdige Geschichte mit mir selbst passiert. Ich saß gerade vor dem Computerbildschirm und beobachtete, wie ein Server Zeile um Zeile meldete, welche Datei einer digitalen Arbeit gerade aus der lesbaren Welt in eine nicht lesbare Welt befördert wird, als ich bemerkte, dass mir das Löschen gefällt, dass auch das Verschwinden, Zeile für Zeile, reizvoll sein kann. Für einen kurzen Moment hatte ich die Idee, dass der Server, nachdem er meine Geschichte zu Ende gelöscht haben würde, auf mich selbst zugreifen könnte, also die Person des Autors zu sich holen und löschen, wie kurz zuvor die Gedankenarbeit zweier Tage. Womit, fragte ich, würde er beginnen? Mit einer meiner Hände eventuell, oder mit meinen Augen oder mit meinen Ohren? Wie würde sich dieses Verschwinden bemerkbar machen? Würde ich den Eindruck haben, leichter zu werden, oder würde ich vielleicht vergeblich nach einem Bleistift greifen, weil meine zupackende Hand lichtdurchlässig geworden ist? – stop
code-schirme
echo : 20.55 - title / 2 LN children WIA beschleunigt title / 2 local national children wounded in action. stop. Jeder Wörtercode ein Mantel. stop. Haben verwundete Kinder ihr Gesicht, ihr Augenlicht, Arme oder Beine verloren? stop. Ein Buchstabe noch unterscheidet für sich Leben von Tod: title / 2 LN children KIA beschleunigt title / 2 local national children killed in action. stop /aus geheimen Feldberichten der US-Armee zum Irak-Krieg, veröffentlicht auf der Plattform Wikileaks
taschenspielzeug
romeo : 2.01 — Träumte, obwohl ich New York besuchen wollte, nahe Montauk gelandet zu sein. Hatte meinen Impfpass vergessen und man sagte mir noch an Bord des Flugzeuges, dass ich ohne Impfpass niemals nach New York hineingelassen werden würde. Man landete also rasch an nächster Küste und setzte mich dort ab. Die Stadt Montauk nun bestand aus flachen Hütten. Seltsame Menschen lebten in diesen Hütten. Sobald ich mich einer Hütte näherte, traten sie zu mir auf die Straße und erzählten, wie ich den Flughafen wieder finden könnte, weil ich mich in der Stadt sofort verirrt hatte. Als sie hörten, dass ich ohne Impfpass sei, sagten sie: Vergessen Sie New York. Alle diese freundlichen Menschen, denen ich auf der Straße vor ihren hölzernen Häusern begegnete, führten eine Plastiktasche mit sich, die sie an einem Lederriemen nahe der Achselhöhle befestigt hatten. In dieser Tasche lebten ihre Kinder in einer weiteren Stadt, die den Namen Montauk trug. Die Stadt musste jeweils sehr leicht gewesen sein, weil die Menschen weder gebückt gingen, noch ihre Taschen auf den Boden stellten, um sich mit mir über meine vergebliche Reise nach New York zu unterhalten. Manchmal, wenn es leise wurde, wenn die Wellen des nahen atlantischen Meeres gerade einmal Pause machten, konnte ich sehr feine, helle Stimmen vernehmen, Automobilhupen und Flugzeuge, Geräusche direkt von der nächsten Tasche her. — stop
nabous zunge
echo : 5.12 — Nabou*, ja, Nabou, Frau aus dem Süden, wie sie nachts vor einer Tasse Kaffee am Flughafen in großzügigen Sprüngen durch die Zeit erzählt. Das Barfußmädchen Nabou, für Minuten ist sie wieder zum Flüchtlingskind geworden, erinnert, finsteres Gesicht, einen sudanesischen Herrscher, jenen Herrn, der Bars einer Stadt räumen und den Alkohol in den Nil schütten ließ. In der selben Stadt, nur wenige Stunden später, wurden im Namen des selben Mannes, Hände von Armen geschlagen für dies oder das zur Strafe. Das Feuer in den Augen der Erzählerin, wie sie berichtet von einer Zeit, da muslimische und christliche Kinder noch gemeinsam die Schule besuchten und heirateten kreuz und quer. Undenkbar heute, undenkbar, raschelt Nabou mit ihrer seltsam rauen Stimme, alle Menschen, wo auch immer, rücken nach rechts. Dann dieser verdammte Abend als Nabou eine bosnische Freundin besucht. Man sitzt mit Familie in Mitteleuropa um einen Tisch, es ist kurz vor Weihnachten. Die Attacke auf den christlichen Glauben kommt ohne Vorbereitung während der Nachspeise. Als Nabou sich als Christin zu erkennen gibt, das Staunen der Freundin: Aber Ihr habt doch ein Glas Wasser neben der Schüssel im Bad, und Du, Nabou, sprichst die arabische Sprache! Wie von diesem Moment an das Gespräch zu Ende war. Verknotete Zungen, sagt Nabou, nach all den trauten Jahren, verknotete Zungen.
* Name geändert
time
charlie : 2.01 — Seltsame Stunde. Noch bevor es 3 werden kann, springt die Uhr auf 2 zurück. Die heitere Vorstellung, das würde sich geräuschlos genau so fortsetzen. Es würde nicht hell werden. Niemand im Haus würde erwachen. Ich könnte rasch einmal, ehe die Zeit nach fünf Jahren gegen 4 Uhr zu weiterfahren wird, die arabische Sprache erlernen. — stop
moskitoeintagsfliegen
ulysses : 5.24 — Bald einmal menschliche Wesen von 20000 Jahren Lebenserwartung gestalten, Hüter der Plutoniumwerke, memorierende Beobachter, flüsternde Sprecher durch Räume der Zeit, die bisher nicht vorstellbar sind, weil wir sie weder fühlen noch träumen, weil unsere Herzen durch die Atomzeit rasend schlagen wie die Herzen der Moskitoeintagsfliegen. — stop
turbine
delta : 0.32 — Windradmaschinen, sagen wir, filigrane Propellerapparaturen. Wir könnten sie vor jeden Menschenmund montieren, die Winde des Atmens und die Stürme des Sprechens, des Lachens, der Lust für unsere sauberen Ströme einzufangen. — stop
bette davis
alpha : 0.01 — Growing old is not for sissies. Bette Davis. — stop
lichtschirm
echo : 7.10 — Aufbewahren für alle Zeit. Ich hatte diesen Satz vor langer Zeit in russischer Sprache auf dem Umschlag der Autobiografie Lew Kopelews entdeckt. Ein Stempel, rote Farbe. Erzählung vom Verschwinden der Menschen im Gulaglagersystem Sibiriens. In den vergangenen Tagen war mir dieser Satz immer wieder in den Sinn gekommen. Und San Suu Kyi. Ihr zartes, ihr kaum gealtertes Gesicht auf dem Bildschirm, wie sle nach sieben Jahren zum ersten Mal unmittelbar zu Menschen spricht. Die Methode der Inhaftierung im eigenen Haus, hinter dem Lichtschirm, hinter dem Sprechschirm, eine Versuchung des Erinnerungsvermögens. — stop
virtuelle befragung
tango : 6.35 — Vor einem Jahr zuletzt die Frage: Wie mutig wäre ich im Widerstand gegen den geheimdienstlichen Zugriff einer Diktatur auf meine Person? Wie genau würde ich mich verhalten, wenn man versuchte, mich für Spionagearbeit unter Freunden zu gewinnen? Bin in der Suche nach einer Antwort noch keinen Schritt vorangekommen. Stattdessen weitere Fragen. Welcher Art könnten die Werkzeuge sein, Druck auf mich auszuüben? Würde mir Tortur angekündigt oder nahestehende Menschen mit dem Tod bedroht? Existieren Orte meiner Persönlichkeit, die sich als so schwach erweisen, dass man dort Zugang finden könnte? Habe ich einen geheimen Preis? Meine Schreibmaschine? Meinen Reisepass? Ist es sinnvoll, diese Fragen in einem virtuellen Raum zu stellen? — stop
⊇⊆
whiskey : 1.02 — i n n e n o h r f e d e r
feuergarten
sierra : 22.05 — Träumte glimmende Feuerblumengärten warum?
coney island
alpha : 5.05 — Das Gewicht einer Erfindung. Wie ich mit Innenaugen einen elektrischen Vogel beobachte, der sinkend reglos auf meiner elektrischen Handfläche ruht. Einmal folge ich in dieser Weise Gene Hackman. Wir gehen zu Fuß unter der Hochbahn, Stillway Avenue, Richtung atlantischer Küste. Coney Island, rot glühendes Neonlicht klappernder Buden, Gestank von ranzigem Fisch, Regen, Tangwind, mein Photoapparat, der den Polizisten erfolglos zu belichten sucht. Stattdessen Erscheinung der Tropfen, Bälle aus großer Höhe, erstaunlich. — Unbedingter Durchstiegswille. — stop
flügel
tango : 6.15 — Im Zug saß ein Mann, der sich mit einer Frau in der Handzeichensprache der gehörlosen Menschen unterhielt. Obwohl ich die Hände der zwei Sprechenden eingehend betrachtete, ließen sie sich nicht stören, vermutlich weil sie ahnten oder wussten, dass ich ihre Sprache nicht verstehen konnte. Der Eindruck, dass die beiden weitere Körperzeichen verwendeten, um die Sprache ihrer Hände zu ergänzen. Als wären sie Flügel eines Vogels, der sich Wasser aus dem Gefieder schüttelt, flatterten ihre Augenlider. Kaum den Zug verlassen, versuchte ich vergeblich diese erstaunliche Bewegung ihrer Augen nachzuahmen. Und auch heute Morgen, nach einer ruhigen Nacht, bin ich nicht in der Lage, meine Lider in der beschriebenen Weise erzittern zu lassen. So unerreichbar sind sie wie meine Ohren, die nie gehorchen wollen, wenn ich mir mit ihrer Hilfe Luft zufächeln möchte. Vielleicht werd ich’s am Abend noch einmal probieren. Nehme an, sie haben Töne erzeugt, singende Töne, mit ihren Augen im Zug. — stop
nebelkammer
echo : 6.28 — Das Stimmgeräusch in meinem Kopf. Ob sich der Klang meiner denkenden Stimme in der verstreichenden Lebenszeit änderte? Habe ich als Kind mittels der Stimme eines Kindes gedacht? Was ist das doch für eine kuriose Bewegung, nicht mehr Stille, noch nicht Ton. Radarbild, flüchtig. — stop
panther
lima : 1.42 – Etwas Merkwürdiges muss geschehen sein, während ich schlief. Als ich erwachte, konnte ich nicht sagen, ob ich eine Frau bin oder ein Mann. Ich öffnete die Augen und bemerkte einen Panther, der vor meinem Bett auf und ab spazierte. Das war ein merkwürdiger Panther gewesen, der vor meinem Bett spazierte. Der Panther war schwarz wie alle Panther, wenn sie wirkliche Panther sind. Dieser wirkliche Panther nun aber trug Menschenhaut und hatte grüne, anstatt gelbe Augen. Wenn ich mich bewegte, fauchte der Panther und machte einen Satz auf mich zu, sodass ich mich entschloss abzuwarten, vielleicht weil ich hoffte, er würde bald schlafen oder ganz aus meinen Zimmern verschwinden. — Es ist jetzt wieder Nacht geworden. Noch immer habe ich mein Bett nicht verlassen. Der Panther ruht vor mir auf dem Boden. Weiterhin genieße ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nicholas Bakers Buch der Streichhölzer, das ich in der Nähe auf dem Boden gefunden hatte und gerade noch unter meiner Decke verstecken konnte, ist kreuz und quer zu Ende gelesen. Ich spüre ein leises Hungergefühl in mir aufsteigen, der quälende Durst der Wüstenwanderer klebt schon seit Stunden an meinem Gaumen. Sollte, sobald in fünf Stunden die Dämmerung einsetzen wird, zum Angriff übergehen. Ich muss, kein Ausweg, die Küche, das heißt, die nächste Wasserstelle erreichen. Vielleicht sind diese Zeilen, die ich in wenigen Minuten über mein Funknetz absetzen werde, die letzten Zeilen, die ich als lebender Mensch notierte. — stop
time
foxtrott : 0.28 — Merkwürdig, die Wahrnehmung der Zeit. Wenn ich keine Zeit habe, kann ich die vergehende Zeit nicht bemerken, weil ich mich so schnell bewegen muss von einem Ort zum anderen, von Gespräch zu Gespräch, von Aufgabe zu Aufgabe, dass ich etwas später vielleicht meinen möchte, ich hätte nicht existiert. Auch dann, wenn ich trauere, habe ich keine Zeit, sagen wir, keine wirkliche Zeit, weil ich aus meinem üblichen Leben heraus gefallen bin. Ich stehe zum Beispiel in einer U‑Bahn und unterhalte mich, ich lache, ich stelle Fragen, und doch bin ich an einem ganz anderen Ort, spreche mit der Vergangenheit, vielleicht mit einem Menschen, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wieder berühren werde, von dem ich hoffe, dass er noch irgendetwas zu hören vermag, indem ich mich zu ihm sprechend an ihn erinnere. Ich verweile also in dieser seltsamen Zeit der Vergangenheit, einer suchenden Zeit, die deshalb zeitlos ist, weil sie sich wiederholen will, weil sie keinen Fortgang kennt. Manchmal sitze ich in einem Café, einer Bibliothek, im Zug, im Kino oder einem Theater herum, ich schau auf die Uhr. Ich sage: Beweg Dich! — stop
tuttle
echo : 20.08 — Besuch von Mr. Tuttle zur unmöglichsten Zeit gegen 10 Uhr vormittags. Saß, müde Augen, vor dem Bildschirm und hörte, wie der Monteur mit Pumpenmaschinen, Schraubenschlüsseln, Rohrzangen an meinen Wasserleitungen in der Küche hantierte. Das waren Geräusche eines Kampfes, nicht Geräusche einer Rekonstruktion, Bohrungen wurden ins Erdinnere vorangetrieben, Wände zu benachbarten Wohnungen eingerissen, hartes Wasser strahlte Bilderrahmen in alle Winde. Einmal kam Mr. Tuttle in das Zimmer, in dem ich das Ende seines Besuches erwartete. Zaghaftes Klopfen, seine erstaunlich helle Stimme, ob er mich sprechen könne, stand bald neben meinen Papieren, mit erhitztem Gesicht, staubig, ein Hüne, er müsse jetzt an die Heizung. Dann wieder Hiebe von sonorem Klang, überlegte, was in meiner nächsten Nähe geschah, welche Arbeit präzise die Erschütterung meiner Schreibmaschine, meiner ganzen Person bewirken könnte. Ein Löschzug passierte die Straße vor dem Fenster. Vom Dach des Hauses gegenüber stürzte ein Schneebrett in die Tiefe. Irgendetwas flatterte pfeifend um meinen Kopf herum. Ein Punkt verharrte über der Bodenlinie. — stop
auster
echo : 16.32 — Nach zwei Jahren der Beobachtung vermag ich noch immer nicht zu sagen, ob ich im Zustand des Träumens über einen Geruchsinn verfüge oder nicht. — stop
hydra
nordpol : 17.58 — Hörte im Radio vor wenigen Minuten eine merkwürdige Geschichte. Man erzählte, durch New Jersey sollen seit Wochen Vorortzüge mit Abteilen von Stille in Richtung Manhattan fahren: Telefone und Spieldosen jeder Art verboten. Das könnte Gerücht, Erfindung, von Wünschen geträumt gewesen sein. Mit eigenen Augen dagegen habe ich beobachtet, wie im Supermarkt gleich um die Ecke, Zwergkakteen Mützen von rotem Stoff aufgesetzt worden sind. Bärte rauschen, weiße Bärte, mittels Nadeln sind sie an den Leib der Pflanzen genagelt. Auch dass es regnet, hier in meiner nächsten Nähe, das ist ganz sicher der Fall, so sicher der Fall wie das Wachstum einer weiteren elektrischen Hydra im Prozess der Selbstbehauptung. Gestern Abend, mitteleuropäische Zeit, verfügte sie über 208, kurz nach Mitternacht über 355 und weitere 12 Stunden später über 507 einander gleichende Köpfe. — Da war noch dieser alte Mann auf einem Basar zu Marrakesch. Wie er vor einer 40 Jahre alten Schreibmaschine sitzt und Liebesbriefe notiert gegen eine kleine Gebühr für Menschen, die nie gelernt haben, zu schreiben, zu lesen. — stop
holly
delta : 6.58 — Im Traum mit Jürg Federspiel auf Fährschiffen zwischen Manhattan und Staten Island hin und her unterwegs. Sobald wir eines der beiden Ufer erreichten, verließen wir unser Schiff, um sofort das nächste Schiff in die Gegenrichtung zu besteigen. Wir machten das so selbstverständlich, als hätten wir nie etwas anderes an diesem Ort getan. Jedes Mal mussten wir eine Schleuse passieren, wir zogen dann unsere Schuhe und unsere Gürtel aus und setzten bedeutungsvolle Gesichter auf, indem wir an schwer bewaffneten Polizisten vorübergingen. Bald schon standen wir wieder Nasen im Fahrtwind, Schulter an Schulter, und Herr Federspiel wiederholte seine Lieblingsgeschichte, eine kurze Erzählung, die von den Augen der Freiheitsstatue berichtete. Das seien ohne Zweifel die Augen jener Menschen, die übers Meer gekommen waren, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Riesige Möwenmaschinen begleiteten das Schiff, sie jagten nach Fotoapparaten und anderen glitzernden Dingen. Kaum hatten wir ein Ufer erreicht, war der Dichter zu Ende gekommen und die Geschichte vergessen, weswegen sie unverzüglich erinnert werden musste. Und so fuhren wir weiter und immer weiter Hin und Her. Auch Holly war da. Ich konnte ihren Rücken sehen und ihren Hut, der sich auf dem Kopf langsam drehte. — stop
karusellfahrt
zoulou : 6.12 — Seit Jahren bereits wünsch ich mir ein besonderes Buch, eines, das meine Gedanken verzeichnen würde, sobald ich spazieren gehe. Handlich müsst es sein und leicht und geräuschlos schreiben. Vielleicht wäre es möglich, diese kleine Gedankenschreibmaschine so zu programmieren, dass sie jene Gedanken, die neue Gedanken sind, zu unterscheiden vermag von allen weiteren Gedanken, von Gedanken, die sich wieder und wieder denken wollen, von kreisenden Gedanken, von Karussellfahrtgedanken. Derart ausgestattet, würde die Notizmaschine ein Verzeichnis anlegen einerseits für die Versammlung neuester, sagen wir, ursprünglicher Gedanken, und bald ein zweites Verzeichnis, in dem Gedanken und ihre Wiederholung archiviert sein würden. Eine höchst interessante Affäre, zu beobachten, wie sich das Wachstum, das Größenverhältnis der Verzeichnisse zu einander benehmen würde in der vergehenden Zeit. — stop
=
echo : 7.02 — l u f t h u n g e r b a l l o n e
schwebende
delta : 18.30 — Abend. stop. Schneewehen klettern an Fenstern. stop. Denkbar ist, dass in Polarregionen Menschen existieren, deren Füße niemals den Boden der Erde berührten. — stop
schneeloop
echo : 20.08 — Die Vertrautheit seltener Geräusche. stop. Der Schnee knurrt, knustert, gurpt, lurpt, gurrt, gnurzt, murrt, drumbt unter den Schuhen. stop. Und Nachts. stop. Der Schnee girrt, lirpt, knirrt, knirzt, knittert, knattert, knistert unter den Schuhen. — stop
herr auf bahnsteig
echo : 6.28 — Ein älterer Herr abends spät auf dem Bahnsteig einer Metrostation. Der Mann ist offensichtlich glücklich. Gerade noch, vor wenigen Minuten, passierte er mit einem Koffer in der linken Hand eine Bildschirmwand, las im langsamen Gehen einen Text, der eine halbe Minute zuvor dort erschien. Dieser Text, eine Meldung, berichtet von Forschungsergebnissen eines nordamerikanischen Institutes, man habe nämlich herausgefunden, dass die Intensität der Gefühle mit dem wachsenden Alter eines Menschen steigen würde, man könne sich mit 60 Jahren am besten in eine andere Person hineinversetzen, gleichwohl schwierigen Zeiten etwas Gutes abgewinnen. Wie er diesen Text nun liest, wird der alte Mann langsamer, hält schließlich an, wendet sich dem Licht des Bildschirmes zu, setzt den Koffer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, ein Schatten, eine Silhouette, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nachricht, die von der Natur, vom elektrischen Wesen des alten Mannes persönlich erzählt, verschwindet und stattdessen ein Wetterbericht (Eis und Schnee), eine Reiseempfehlung (Ägypten), sowie aktuelle Devisenkurse (Dollar steigend) erscheinen. Der alte Mann wartet, er wartet zwei oder drei Minuten, bis der Text, den er studierte, wiederkehrt. Weitere Minuten vergehen, dann nimmt der alte Mann seinen Koffer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz herum, sieht mich an, er lächelt und geht weiter. Eine Frau nähert sich in diesem Moment, da ich notiere, dem Luftraum vor dem Bildschirm. Sie trägt einen länglichen Pappkarton, in dem sich, einer Zeichnung folgend, ein Weihnachtsbaum (Tanne) befinden soll. Aber das ist schon eine ganz andere Geschichte. Guten Morgen! — stop
salamander
echo : 16.22 — Das erfindende Schreiben scheint ein Vorgang des Wartens zu sein. Immer wieder fällt etwas zu mir herein, ohne dass ich sagen könnte, warum gerade dieses und warum gerade jetzt. Merkwürdige Verschiebungen der Sprache in der Nähe anatomischer Arbeit, indem ich, beispielsweise, von innerer Schönheit spreche. stop. Nachmittag. stop. Leichter Schneefall. — stop
man on wire
nordpol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Philippe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem windigen Tag heimlich zwischen den Türmen des Worldtrade Centers gespannt worden war, mit Balancierstange in Händen auf den Rücken legt. Keine Filmaufnahmen existieren von jenem Moment aus nächster Nähe, aber Fotografien, die im Wissen des Windes und der Tiefe einen dehnenden, einen zerrenden Schmerz in meinem Körper erzeugen. Der Seiltänzer wurde festgenommen und einem Psychiater vorgeführt. stop. Schnee in Zeitlupe. stop. Ruhe. stop. Der Luftraum, in dem sich Philippe Petit bewegte, existiert weiter fort. — stop
manhattan : eine frau verschwindet und kehrt wieder
nordpol : 7.05 — Gestern Abend folgte ich mittels der Google-Earthmaschine einer besonderen Route durch das südliche Manhattan. Ich kannte diese Strecke, war dort im Spätsommer des vergangenen Jahres auf eigenen Füßen spaziert, war Malcolm Lowry auf der Spur gewesen, seinen enger und enger werdenden Kreisen, die den Schriftsteller ein halbes Jahrhundert zuvor in das Bellevue Hospital führten, wo er sich, in höchster Not befindlich, vom Schmerzmantel des Alkohols zu befreien suchte. Immer wieder hatte ich damals jene Gegend nahe des East River aufgesucht, sodass ich eine beinahe vertraute Umgebung in digitaler Weise berührte. Gegen Mitternacht dann, ich hatte die Third Avenue gekreuzt, bog ich nach Norden ab, erreichte 30 Minuten später die 70th Straße. Da war an einer Ecke ein kleiner Laden, an den ich mich erinnerte. Versuchte ihm näherzukommen, zoomte heran, aber dann überquerte ich im Sprung die Straße mittels einer zarten Bewegung der Mouse, bewegte mich im Kreis und bemerkte in diesem Augenblick, dass eine Frau mit Hund, die gerade noch die Straße in nächster Nähe überquert hatte, verschwunden war, indem ich die Kreuzung von Osten her betrachtete. Auch war die Straße dunkler geworden, als wäre kurz zuvor Regen gefallen oder die Dämmerung des Abends eingetroffen. Um ein paar weitere Meter gedreht, war die Frau dann wieder da gewesen und ihr Hund, den Schwanz erhoben, und die Straße trocken. Eine Kreuzung, so mein Eindruck, gefalteter Zeit. Ich muss das beobachten. — stop
libelle
tango : 0.02 — Wie zerbrechlich unsere Leben sind. Der Hauch einer Ader, verschlossen, geborsten im Kopf, und schon ist Ende oder die Welt eine andere geworden. stop. Das Geschenk eines glücklichen, eines gelebten Tages. — stop
kaktusauge
sierra : 0.05 — Die Beobachtung, dass ich einen Gedanken, ehe der Gedanke zu einem Ende gekommen ist, in meinem Kopf nur dann anzuhalten vermag, sobald ich den Gedanken Wort für Wort vollziehe, also bereits so langsam denke, dass ich mitzuschreiben in der Lage bin. stop. Sprießende Blüten der Kakteen, die sich Schneckenfühleraugen ähnlich verhalten. — stop
im halbschlaf
echo : 0.02 — Oder der Moment des Erwachens, ein Bild, das ich erinnern, das ich buchstabieren kann, jedes Geräusch in diesem Bild, das Licht, einen duftenden Wind oder Atem, eine Berührung, eine Stimme, einen ersten Gedanken, eine während der Nacht notierte Sorge. Aber der Moment, da ich zu schlafen beginne, ein stummer, ein weißer Ort, ein verborgenes Bild, das vorausgegangene Halbschlafbilder träumend zu verzehren scheint. — stop
gehen und sitzen
nordpol : 22.15 — Habe schon viel nachgedacht und viel vergessen, während ich ging. Sobald ich spaziere, kommen Gedanken scheinbar aus der Luft. Wenn ich dann sitze auf einem Stuhl vor meiner Schreibmaschine, springen Gedanken aus den Händen, als ob jeder Finger über ein kleines Gehirn für sich verfügte. — stop
welle
delta : 10.10 — Wie lange Zeit bereits verfüge ich über Augen? Wann präzise ist die Wahrnehmung des Lichts für mich möglich geworden? — stop
silence
romeo : 22.58 — Da waren einmal meine kleinen Augen gewesen, meine kleinen Füße, meine kleine Nase, mein kleiner Mund. Bisweilen, wenn ich ausruhe, wenn ich auf einem Stuhl sitze ohne einen Gedanken, der aufgeschrieben werden müsste, betrachte ich meine Hände. Meine linke Hand ruht dann an der Innenseite meiner rechten Hand. Sie scheinen sich zu kennen. Ich vermag meine Hände zu betrachten, als wären sie nicht meine Hände, sondern die Hände einer anderen Person. Wie würde ich heute gestaltet sein, wenn ich eines Tages nicht aufgehört haben würde zu wachsen? — stop
tapetum cellulosum lucidum /// IED EXPLOSION IN BAGHDAD (ZONE X) 2004-01-14 18:40:00 ///
sierra : 22.01 — Knisternde Kälte. Dompfaffen, Rotkehlchen, Grünfinken hängen, zwitschernde Trauben, an Futterbällen im Garten über Schnee. Ich hatte, in dem ich sie beobachtete, die Idee, dass mir selbst bald einmal reflektierende Zellschichten in den Augenhöhlen wachsen könnten, tapetum cellulosum lucidum, hinter den Glaskörpern hinter den Pupillen, Katzenaugenhäute, nicht von der Beobachtung der Natur da draußen im Garten, sondern vom Lesen der Wikileaks – Irak — Protokolle : IED EXPLOSION IN BAGHDAD (ZONE X) 2004-01-14 18:40:00 — IP X REPORTED THAT A GREY X EXPLODED IN A RESIDENTIAL AREA. IPS AND X ELEMENTS WENT TO THE SITE AND FOUND THE EXPLODED CAR. X BROTHERS AND THEIR X CLAIMED THAT SOMEONE ELSE MUST HAVE PUT THE EXPLOSIVES IN THEIR CAR. IZ EOD BELIEVES AN IED WENT OFF PREMATURELY. — UPDATE: DETAINED THE X BROTHERS AND HAVE COORDINATED TO HAVE THE BOMB DOGS GO TO THE HOUSE LATER TODAY. IED TRACKING NUMBER IS X. stop. stop. 390136 Dokumente. stop. Nehmen wir einmal an, ich versuchte Tag für Tag 100 dieser Texte zu lesen und nachzufühlen, was sie bedeuten könnten, Particles, die von Bombenanschlägen, Scharfschützen, Enthauptungen, Feuergefechten, Entführungen berichten, dann würde ich längere als zehn Jahre Zeit in dieser Arbeit verbringen. Inwiefern würde sich bald die Gestalt meines Gehirnes verändert haben, meine Sprache, welcherart wären die Geschichten, die ich noch erzählte? — stop
auf einmal
apha : 15.18 — Letzte Bilder, ich stellte mir letzte Bilder vor eines Lebensfilms, Bilder ohne im Diesseits noch formulierbare Gedanken. Eine Fliege an einer Hospitaldecke vielleicht, die Iris eines Geliebten, schon von Trauer durchkammert. Zwielicht. Oder doch nur ein Geräusch. Weder hell noch dunkel. Eine Tür, die sich öffnet. Ein Atemzugwind. Flüstern. Schnee. — stop
stehschläfer
sierra : 2.24 — Stehschläfer, wie man vielleicht meinen möchte, sind keine Vögel, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer sind Menschen, Menschen nämlich, die sich genau so verhalten, wie das Wort, das sie bezeichnet, sie schlafen im Stehen. Das ganz Besondere, das Seltsame ist, dass diese Art der Stehschläfer in meinem Leben bisher nicht vorgekommen ist, noch vor einer halben Stunde hatte ich nicht die leiseste Ahnung ihrer Existenz, aber dann war da plötzlich dieses Wort Stehschläfer in meinem Kopf, in dem ich nach Mitternacht durch die Hallen des Flughafens wanderte, müde vom Lesen, müde auch vom Denken. Dieser Frieden, der hier zu finden ist, die Ruhe der Liegenden, der Sitzenden, bald werden sie davonfliegen nach Übersee vielleicht, oder nach Moskau, wo man sterben kann in den Spuren eines versteckten Krieges, der bisweilen Menschenleben zerstörende Funken nordwärts schleudert. Dort, in diesem Frieden einer Flughafenhalle bei Nacht, muss jemand im Stehen geschlafen haben. Ich habe ihn vielleicht aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen, eine nicht bewusste Sekundenbetrachtung, die genügte, das Wort Stehschläfer hervorzurufen. Oder ich habe das Wort Stehschläfer gedacht, und kurz darauf einen Mann gesehen, der niemals existierte. — stop
kairobildschirm
sierra : 7.12 — Acht Uhr, Freitagabend. stop. Am Schreibtisch. stop. Von Livebildern des Nachrichtensenders Al Jazeera her sind Gewehrschüsse zu hören. Seit Stunden bereits bewegen sich diese Bilder von der Größe einer Postkarte auf dem Schirm meiner Computermaschine. Jugendliche Menschen flüchten vor Wolken von Pfeffergas. Betende Männer knien vor einer Polizeikette, schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Hemden, schwarze Helme. Gebäude glühen in der aufkommenden Dunkelheit. Ein Mannschaftswagen der Polizei schlingert brennend durch eine Menschenmenge, überrollt Personen, die sich in den Weg stellen. Schlägertrupps in ziviler Kleidung verprügeln Frauen, verprügeln Männer. Kolonnen gepanzerter Militärfahrzeuge rücken in das Zentrum Kairos vor, sie werden von jubelnden Bürgern der Stadt begrüßt. Man spricht davon, das National Museum werde von einem Schild menschlicher Körper geschützt. Gasgranaten segeln über einen Platz, schreiben Spuren hellgrauen Rauchs in die Luft. Auf den Straßen der Stadt Suez sollen fünf Menschen ihr Leben verloren haben. In Washington erklärt ein Sprecher der US-Regierung, die Situation sei fluid. In Kairo überreichen junge Menschen einer Reporterin den Körper einer Polizeitränengasgranate, auf dem sie den Schriftzug Made in USA entdeckten. stop. stop. Was ist das für eine Wirklichkeit, die mich in Bildern von Postkartengröße erreicht? Wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Was geschieht mit mir, was mit der Wirklichkeit der Bilder, sobald ich meinen Computerbildschirm ausschalte? — stop
kurzwelle
olimambo : 2.02 — Mitteleuropa. stop. Kurz nach Mitternacht. stop. Nachrichten aus Kairo. stop. Frauen und Männer stehen um ein Transistorradio versammelt. Man lauscht Kurzwellenfunksignalen, die im Raum zur Ionosphäre hin pendelnd um den Globus wandern. Ein Mann mittleren Alters befindet sich unter den Radiohörern. Viel kann ich über diesen Mann nicht sagen. Ich weiß, dass er deutscher Staatsbürger ist, Moslem, in einer peripheren Gegend Kairos geboren. Sein Name ist Belem und seine Stimme hell. Mit dieser seltsam hellen Stimme äußerte Belem unlängst während einer unserer zufälligen Begegnungen, wie wichtig es sei, dass Menschen sich respektvoll verständigen. Belem war mit einer deutschen Frau verheiratet gewesen, ihre gemeinsame Geschichte endete, weil seine Frau ihm nicht dienen wollte. Aber das ist schon lange Zeit her, Belem lebt jetzt allein. Er hinkt, wenn er geht, kaum merklich, weshalb ich mich einmal erkundigte, ob er vielleicht Schmerzen habe. Wie dieser freundliche Mann zögerte, daran erinnere ich mich gut, und wie er dann sein Hemd nach oben zog, um die Narbe einer Schusswunde zu zeigen, eine helle Stelle in der dunklen Haut nahe seines Nabels, eine Wirbelspirale nach innen gerichtet, mit einem sehnigen Knoten in der Tiefe zum Abschluss. Belem war von einer Polizeikugel getroffen worden, seither ist das eine Bein etwas langsamer als das andere Bein. Und das ist schon alles, viel oder wenig, was ich von Belem zu erzählen weiß in dieser Stunde kurz nach Mitternacht, vor einem Radiowellengerät stehend. Der kleine Kasten kracht und pfeift und knarzt und scheppert. — stop
step by step
charlie : 0.02 — Meine Freude über kleine Dinge in diesen Tagen. Ich war Spazieren, ich habe mein Atmen gehört. Da war der Klang der Schritte in der Stille so nah, als würde ich im eigenen Körper laufen. — stop
kairobildschirm
echo : 5.38 — Ich erinnere mich, dass ich im Schlaf zu mir sagte: Das will ich nicht weiter träumen. Unverzüglich wurde ich wach. – Schnee ist gefallen, ein weißes Tuch liegt auf den Bürgersteigen. Das Kairofenster flimmert seit bald vierzehn Stunden auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Kamelreiter prügeln auf Demonstrierende ein, Steine fliegen durch die Luft, Kühlschränke von Hausdächern, um Menschen zu töten. Mit der Dämmerung kommen Barrikaden, Ölfeuerflaschen, taumeln hin und her, brennende Autos, der hellgraue Rauch der Panzermotoren, die Stimmen der Kommentatoren, die Zahlen verletzter und getöteter Menschen melden. Auf dem Platz der Befreiung wird nach Steinen gegraben. Millimeter hohe Menschenfiguren schleifen liegende Millimeter hohe Menschenfiguren über den Boden. Reine Mordlust scheint ausgebrochen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minuten. Seit drei Stunden wird scharf geschossen. Niemand weiß, woher die Schüsse kommen. Eine junge Frau, 24, die sich auf dem Platz befindet, erzählt weinend von Menschen, die soeben getötet wurden. Wie das möglich sein könne, dass die Welt nicht eingreife, dass keine Hilfe komme. We will not leaving this place. Sie nennt ihren Namen. — stop
kairobildschirm
nordpol : 16.15 — Die Welt der großen Koffer, die Welt der grundsätzlichen Diskurse kommt in Bewegung. Das Vermögen, lesen und schreiben zu können, die Freiheit des Denkens, Sprechens, Glaubens, Brot und Zuckerpreise, Korruption, Selbstbestimmung, die Glaubwürdigkeit westlicher Politik, westlicher Kultur. Auf dem Tahrir-Platz wird getanzt, man betet, man feiert Hochzeit, man reicht Wasser, versorgt Wunden, bewacht den Schlaf der Schlafenden. Bedeutendes geschieht. stop. Eine Welle. stop. Zuhören. stop. Lernen. — stop