lima : 12.15 UTC — Ich stelle mir einen Film vor, ein mediales Arche Noah Prinzip, jedes Lebewesen unseres Planeten wäre darauf verzeichnet, jede Pflanze, auch das mikroskopisch Kleinste, Mikroben, Bakterien, Viren. In kürzeste Schnittfolgen müsste dieser Film zerlegt sein, um in menschlicher Lebenszeit je betrachtet werden zu können. Welches Lebewesen könnte auf dem letzten verfügbaren Bild des Filmes zu sehen sein? — stop
Sammlung
licht
papa : 15.16 UTC — Es ist Sonntag. Auf dem Bildschirm einer Schreibmaschine ist die digitale Darstellung einer Druckfahne zu erkennen. Letzte Minuten einer letzten Stunde sind gekommen, da der Autor noch eine Korrektur seines Textes unternehmen könnte. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort durchstöbert er sein Werk. Wenn man nun die Fenster des Zimmers verdunkeln würde, könnte man bemerken, dass sich die Augen des Autors in zart leuchtende Lampen verwandelt haben. — stop
amsterdam
himalaya : 15.16 UTC — Vor wenigen Wochen erwartete ich in einem Café an der Zentralstadion die Ankunft eines Zuges aus Amsterdam. Um die Zeit zu vertreiben, suchte ich in den Archiven meiner Schreibmaschine nach einem Bild, an das ich mich aus irgendeinem Grund erinnert hatte. Ich wusste noch, dass dieses erinnerte Bild im eigentlichen Sinne kein Bild ist, unbeweglich, sondern eine Gruppe von Fotografien, die in vorbestimmter Reihenfolge rhythmisch zur Aufführung kommen. Es handelt sich in etwa um eine Serie gefangener Bilder, die einen oder vier Männer zeigen, der oder die sich in akrobatischer Weise durch vier Zimmer eines Hauses bewegen. Kurz nachdem ich das animierte Bild gefunden hatte, schaute mir ein Mädchen von vielleicht sechs Jahren neugierig über die Schulter. Sie sagte: Das ist aber lustig! — Findest Du, fragte ich zurück. Das ist doch aber sehr anstrengend, was die Männer da tun! — Das Mädchen schaute mich an und verdrehte die Augen: Die Männer sind nicht echt. — stop
von gedankenlichtern
bamako : 22.01 UTC — Vor wenigen Tagen spazierte ich an einem späten Nachmittag in einem Garten. Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Während ich sehr langsam Schritt für Schritt vorwärts, seitwärts oder rückwärts ging, begann ich zu erzählen, Geschichten wie Blüten in meinem kleinen Kopf. Kaum hatte ich eine Geschichte zu Ende erzählt, waren weitere Geschichten aus den Wörtern bereits gewachsen, die sich öffneten, die erzählt werden wollten, helle oder dunklere Geschichten wie Lebewesen, und ich dachte noch, wie das so geht, wie die Geschichten kommen und gehen, Erinnerungen, als wollte sich plötzlich mein halbes Leben erzählen. So, im Erzählen im langsamen Gehen, habe ich die Zeit vergessen. Der Flug der Taubenschatten vor dem Abendhimmel, die vom Luftglück der Vögel erzählten. Ich hörte von Gedankenlichtern, von glimmenden Tastaturen. Seit zwei Tagen sitze ich immer wieder einmal ganz still und versuche mir Gedanken vorzustellen, die parallele Gedanken sind, Gedanken zur selben Zeit. Ich befinde mich sozusagen auf der Suche nach Gedanken, die vielleicht stimmlos, aber voll Licht sind, Gedanken wie Bilder, die sich in derselben Zeit bewegen? Jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
vom drohnenvögelchen
echo : 17.18 UTC — Er fliegt nicht, sagte die kleine S. am Telefon. Es ist früher Abend, die helle Stimme am Telefon klang ängstlich. — Wer fliegt nicht, wollte ich wissen? — Na, der Vogel, den Du mir geschenkt hast, er sitzt auf dem Boden und bewegt sich nicht. S. war beunruhigt, sie sagte, der Vogel sei gerade noch durch die Küche geflogen, dann sei er vor dem Küchentisch gelandet, jetzt sitze er reglos auf dem Boden. Sind denn seine Lichter noch an, erkundigte ich mich. Nein, sagte S., auch die Lichter brennen nicht, und er sagt nichts, keinen Pieps. — Ich überlegte kurz, wechselte den Hörer meines Telefons vom linken an mein rechtes Ohr: Ich glaube, ich weiß, warum Dein Vogel gerade nicht fliegt. Hör zu, ich werde mich ein wenig umhören, dann rufe ich Dich wieder an! — Vielleicht sollte ich an dieser Stelle schnell erzählen, dass ich meiner Nichte S. im vergangenen Jahr zu Weihnachten eine fingerlange Drohne für Kinder schenkte, die wunderbar blinken kann in blauen und roten Farben. Bisweilen gibt sie Geräusche von sich, als wäre sie eine Lokomotive. Dieses Wesen, dem Vernehmen nach weltweit die einzige Lokomotivengattung, die zu fliegen vermag, lässt sich über eine handliche Funksteuerung manövrieren. Ich habe das selbst ausprobiert, das ist nicht ganz einfach für Kinder, und auch für erwachsene Personen eine Herausforderung. Ich vermutete nun, dass die Stromversorgung der Drohne möglicherweise ausgefallen sein könnte. Kurz nachdem ich herausgefunden hatte, wie man die Batterien der Lokomotive auswechseln könnte, rief ich meine Nichte wieder an. Ihre Mutter kam ans Telefon, Sekunden später S., die fröhlich erzählte, der Vogel sei wieder in der Luft, sie könne im Moment nicht reden, sie müsse aufpassen, dass der Vogel sich nicht wieder auf den Boden setzt. Ein leises Surren war zu hören, dann Schritte, dann eine helle Stimme, die bereits zum Vogel sprach: Komm, wir fliegen jetzt ins Wohnzimmer. — stop
nachtzug nach douala
tango : 7.15 UTC — Akossiwa, die ihr junges Leben überwiegend in der Stadt Yaoundé verbrachte, erklärte während eines Gespräches im Zug, Tiere, die ich als wilde Kreaturen bezeichnete, Affen, sagen wir, Löwen, Antilopen, würden in ihrem Heimatland im zentralen Zoo der Hauptstadt leben. Man könne sie dort besuchen, man müsse sich nicht fürchten, allerdings würde der Besuch Eintritt kosten. Erst einmal musst Du überhaupt nach Kamerun fliegen. Du fliegst, sagt Akossiwa, am besten über Paris oder Amsterdam nach Yaoundé, das ist überhaupt kein Problem. Ich hatte Akossiwa eine dramatische Vorstellung ihres Landes skizziert, in der vermutlich wirkliche wilde Tiere natürlicherweise auch jenseits der Naturreservate existieren. Kurz darauf entwickelte sich ein aufregendes Gespräch über Wahrnehmung, Wirklichkeit und Projektion einerseits, andererseits über die Existenz wiederum der niederbayrischen Auerhähne in meinem persönlichen Leben. Eine Zugfahrt von Ngaoundéré nach Douala sei reizvoll, berichtete Akossiwa, es existiere auch eine Nachtzugverbindung, die würde sie aber nicht empfehlen: Weil Du nichts siehst! — stop
eine frau
delta : 12.22 UTC — Eine Frau sitzt neben einem Tisch auf einem harten Stuhl. Ihr rechter Arm liegt auf dem Tisch, eine Ärztin misst den Blutdruck. Es ist still in dem Zimmer in diesem Augenblick. Nur das Motorengeräusch des Messgerätes, das Luft in eine Manschette pumpt, die um den Arm der Frau gelegt wurde, brummt als hockte ein große träumende Fliege unter dem Tisch. Dann ist die Fliege plötzlich still und die Ärztin notiert einige Zahlen und nickt mir zu, ohne etwas zu sagen. Als ich mich zu der Frau setze, weicht sie auf dem Stuhl kaum merklich zurück. Ich frage: Wollen Sie vielleicht Tee? — Die Frau schüttelt den Kopf und lächelt. Darf ich Ihnen ein oder zwei Fragen stellen? — Wieder lächelt die Frau. Sie ist scheu. Aber sie will nicht zeigen, dass sie scheu ist, so könnte das sein. Ein seltsamer Moment, alles im Zimmer scheint zu schweben, der Tisch, die Stühle, die Menschen. Ich weiß, dass die Frau, deren Blutdruck gemessen wurde, aus der Ferne gekommen ist, so fern ist das Land, von dem sie gekommen ist, dass ein Jahr vergehen würde, ehe man dieses Land zu Fuß erreichte. Es ist ein Wunder, dass sie meine Sprache versteht, immer wieder denke ich, wie gut, dass Menschen in der Lage sind, die Sprachen anderer Menschen zu erlernen. Und wie sie jetzt lächelt, ich meine, noch nie zuvor ein derart mutiges Lächeln gesehen zu haben, während die Ärztin etwas getrocknetes Blut von ihrem Hals tupft. Behutsam wird eine kleine Wunde versorgt, die unter dichtem Haar im Verborgenen liegt. Die Ärztin nimmt sich viel Zeit, sie geht hinter der verletzten Frau in die Hocke und beginnt leise zu sprechen. Sie sagt: Das ist merkwürdig! Und noch einmal sagt sie: Das ist merkwürdig. Wie sie sich wieder aufrichtet, macht sie ein sehr ernstes Gesicht. Bald kniet sie vor der verletzten Frau auf dem Boden, nimmt eine Hand der Frau und drückt sie fest: Machen sie sich keine Sorgen, das ist nur eine kleine Wunde, die Blutung ist längst gestillt. Die Ärztin, die etwas schwitzt, sieht der mutig lächelnden Frau in die Augen. Plötzlich fragt sie: Sind Sie geschlagen worden? Sofort nickt die Frau, ihr Gesicht scheint zu leuchten, und noch einmal nickt sie und sagt mit heller Stimme: Ja. Und die Ärztin fragt: Sie wissen, von wem sie geschlagen wurden? — Ja, antwortet die Frau ein zweites Mal, das weiß ich. Die Ärztin erhebt und wendet sich wieder dem Ort zu, da die Frau am Kopf verletzt wurde. Erneut geht sie in die Hocke und betrachtet die Verletzung auf das Genaueste. Behutsam fährt sie der Frau über das Haar, sie scheint eine weiterführende Untersuchung vorzunehmen. Und wie sie so arbeitet, schließt die verletzte Frau ihre Augen, als wollte sie vielleicht verbergen, was sie fühlte. So, mit geschlossenen Augen, sagt sie plötzlich mit fester Stimme: Ich würde doch gerne einen Tee trinken! — Das ist gut, antworte ich und stehe auf. Die Ärztin ist indessen mit ihrer Untersuchung zu Ende gekommen, sie setzt sich auf den freigewordenen Stuhl und stellt mit nüchterner Stimme fest: Sie sind nicht zum ersten Mal geschlagen worden! — Die Frau nickt wortlos. Und die Ärztin sagt: Sie sind oft geschlagen worden! Immer wurden Sie auf den Kopf geschlagen, kann das sein? — Wieder nickt die Frau und beginnt zu weinen. — stop
morgenstaubgeschichte
ulysses : 12.22 UTC — Was für ein schöner Sonntag. Das noch tief stehende Licht der Sonne, die am frühen Morgen in den Zentralbahnhof leuchtet, als würde sie immer dort in genau dieser Höhe von Osten her durch die Fenster scheinen. Eine Sonne nur für diesen Ort. Da ist feiner Rauchstaub, der aus einem Laden heraus durch die Halle schwebt. Die Raucher rauchen, indessen sie neue Rauchwaren besorgen. Bitter schmeckende Holzpapierluft. So muss das geduftet haben, genau so oder so ähnlich, ohne moderne Parfüme, wenn unter den Hafenhimmeln des 16. Jahrhunderts, nach langer Fahrt, die Bäuche der Handelsschiffe geöffnet wurden. Die Entzündung des getrockneten, des weit gereisten Materials vor der Mundöffnung eines Europäers führte zu einem Vorgang, den man zunächst als die Sauferei des Nebels bezeichnete, als Rauch- oder Tabaktrinken. Ja, was für ein schöner Sonntag. Ich gehe zu ungewohnter Zeit mit Tagaugen durch meine Stadt, als würde ich durch Brooklyn spazieren. — stop
nuriye gülmen
romeo : 0.01 UTC — Ich kenne Jasus, der eigentlich ganz anders heißt, seit einigen Monaten flüchtig. Wir begegnen uns von Zeit zu Zeit am Bahnhof oder im Zug. Einmal kamen wir auf seine Heimatstadt Istanbul zu sprechen. Er sagte, dass er sich freuen würde, wenn ich Istanbul gerade jetzt in dieser schwierigen Zeit besuchen würde. Jasus ist glühender Verehrer des türkischen Präsidenten, der habe sein Land modernisiert, er könne endlich stolz sein auf die Türkei. Ich erwähnte, dass ich Orhan Pamuk sehr gerne lesen würde, da wurde Jasus vorsichtig, der Pamuk wäre ihm nicht geheuer, der soll kritisch über die Türkei geschrieben haben, obwohl er doch selbst Türke sei. Nun saßen wir kürzlich auf einer Bank im Flughafenterminal 1. Ich fragte Jasus, ob er bereit wäre, einen Film der Deutschen Welle anzusehen, den ich auf meinem Notebook gespeichert mit mir führte. Der Film berichtet von einer Dozentin der Literaturwissenschaften, die seit vielen Monaten in Ankara öffentlich darum kämpft, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu dürfen. Sie wurde deshalb jeden Tag verhaftet und erst nach je 5 Stunden wieder freigelassen. Von Nuriye Gülmen hatte Jasus noch nie gehört, aber er wollte den Film betrachten. Ich stellte mein Notebook also zwischen uns ab, und Jasus verfolgte den Film wortlos von der ersten bis zur letzten Minute. Ich meinte zu bemerken, dass ihm der Film nahezugehen schien. Als der Film zu Ende war, wollte er wissen, warum ich ihm die Aufnahme gezeigt habe. Ich sagte: Ich finde, diese Frau hat recht, sie kämpft um ihre Existenz, sie kämpft für Gerechtigkeit und Freiheit, sie ist ungeheuer mutig. Ja, antwortete Jasus, sie ist mutig und sie ist verrückt. Er machte eine Pause. Er schien zu überlegen. Dann fragte er, was mich denn eigentlich diese ganze Geschichte angehen würde? Diese Geschichte gehe nur ihn und seine Landsleute etwas an. — Ein Funke Hoffnung! — Seit vier Wochen befindet sich Nuriye Gülmen im Hungerstreik. — stop
modern
charlie : 8.01 UTC — Die seltsame Sprache der modernen Welt im alltäglichen Gebrauch. Einer sagt, nachdem er sich verliebt hatte, er werde mutig in Gefühle investieren. Ein anderer trifft sich mit Freunden und spricht am Telefon davon, sich gerade in einem Meeting zu befinden. Vor zwei Tagen wurde ich von einer Freundin gebrieft, sie habe sich von ihrem Mann getrennt. Ein Cluster von Komplikationen verhinderte die Zulassung seines Sohnes zur Prüfung am MIT, berichtet ein alter Bekannter. Er schreibe ein Memo, verspricht ein Nachbar, ich weiß nicht worüber. Unlängst war ich versucht, Folgendes zu sagen: Ich arbeite in der erzählenden Informationsverarbeitung. Ich sagte dann: Ich schreibe Geschichten. — stop
bildschirmlicht
himalaya : 7.30 UTC — Erster Twitterfilm: Ein Mädchen, das in Aleppo lebt, sagt: Vielleicht ist es das letzte Mal, dass Sie mich lebend sehen! Das Mädchen scheint in einem Keller zu sitzen. Sie ist zum Zeitpunkt dieser Aufnahme vielleicht acht Jahre alt, vermutlich ist Abend. Der Angriff der syrischen Armee auf die Stadt wird für die kommende Nacht erwartet. — Ein zweiter Twitterfilm: Auf einer Bahre in einem Krankenhaus liegt eine Frau, fahle Haut, sie sieht in die Kamera und sagt: Bitte helfen Sie uns! Im Hintergrund sind Detonationen zu hören. — Ein dritter Twitterfilm: Der junge Mann, der erzählt, dass die Kämpfe in der Stadt wieder zugenommen haben, sieht sich immer wieder um. Er müsse jetzt von der Straße, hier sei es zu gefährlich. Es wird sogleich dunkel auf dem Bildschirm, indem der junge Mann die Linse seiner Kamera mit einer Hand bedeckt. — Ich denke in diesem Moment, dass das Licht der handlichen Filmmaschinen immer näher an mein Leben herankommt, jederzeit mögliches Licht, das auf Servern der Welt auf mich wartet. Ich spreche darüber mit einem Freund, dessen Aufgabe ist, Filme aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet zu analysieren. Ja, soviel mögliches Licht ist in der Welt, sagt N., dass man sich die Seele an diesem Licht schwer verbrennen kann. Er habe vor einem Jahr einen Ruhetag pro Woche definiert, da er seine Computermaschine nicht anschalte. Was machst Du an diesen Tagen, fragte ich. Ich lese, ich gehe mit meiner Lebensgefährtin spazieren, ich liege im Sommer stundenlang neben ihr in einer Wiese und schaue den Wolken zu. Dann wird Nacht und ich sitze morgens wieder vor meinen Bildschirmen und rufe Filmlicht auf, das neu hinzugekommen ist. Da sind zwei Männer, sie halten den Splitter eines Geschosses vor die Kamera ihres Mobiltelefons. Ich stoppe den Film, notiere Schriftzeichen in gelber Farbe, Rudimente, betrachte die Umgebung der Männer, versuche herauszufinden, wo sie sich vielleicht befinden, ob sie sich wirklich dort befinden, wo sie zu sein behaupten, welche Tageszeit. Ich habe Algorithmen entwickelt, der Filmbefragung. Ich werde dadurch schneller. — stop
ein mann des lichts
bamako : 0.01 UTC — Im Alter schwindet seine Sehkraft. Es bleiben ihm noch Hörbücher. Dieser würdevolle, feine Mann. Wie er leise und langsam von meinem Fernsehbildschirm aus spricht: Dadurch kompensiere ich … damit (mit den Hörbüchern) eigentlich meine … Verzweiflung. Der große Kameramann Michael Ballhaus ist gestorben. — stop
vom suchen und finden
zoulou : 15.01 UTC — Das Suchen nach Gegenständen in Gärten, oder das Suchen nach Menschen in Wäldern oder Parklandschaften, wo sie sich freiwillig versteckten, Vergnügen, Freude, Glück, wie das Suchen nach Büchern oder Zitaten in Antiquariaten, die zum Zeitpunkt der Suche noch nicht digitalisiert worden waren. Einmal hörte ich eine Freundin an ihrem 85. Geburtstag, wie sie sich nach ihrer Brille erkundigte. Ich wusste genau, wo sich die Brille in dem Moment ihrer Frage aufgehalten hatte, aber meine alte Freundin schimpfte, während sie nach ihrer Brille suchte, so freundlich vor sich hin, und erzählte Geschichten, die sie entdeckte, obwohl sie doch nach ihrer Brille suchte, dass ich mir ein wenig Zeit ließ, um ihr zu sagen, wo sie ihre Brille sofort finden könnte. Ich erinnere mich, wie ich als Kind einen Wald durchsuchte, in dem ein weiterer, etwas kleinerer Wald enthalten war, ein Efeudschungel nämlich, es war ein feuchtwarmer Tag und die Luft duftete nach Löwenmäulchen. Anstatt der erwarteten Schneckengehäuse, fand ich eine Herde goldbrauner Frösche vor, die sich vermutlich über mein Erscheinen wunderten. Vor drei Tagen bemühte ich mich längere Zeit um die Erfindung einer Telefonnummer, die in der Stadt Chicago vorkommen könnte, aber garantiert nicht existiert. Und noch heute, vor drei Stunden, suchte ich nach einer größeren oder kleineren Stadt, in der folgende Adresse existiert: im Schnee 10. Obwohl ich zahlreiche, auch spezielle Suchmaschinen verwendete, war ich nicht erfolgreich gewesen. Ich sollte vielleicht sagen, dass manchmal wunderbar ist, nicht zu finden, was man sucht, es könnte dann reine Erfindung sein. — stop
anjuta
ulysses : 5.25 UTC — Es ist Montag, früher Morgen, und die Vögel pfeifen. Ich bin noch nicht ganz wach, ich habe gut geschlafen, ich hatte einen lustigen Traum: In diesem Traum war ich versucht, Anton Tschechow einen Brief zu schreiben. Tatsächlich habe ich mich im Traum an meine Schreibmaschine gesetzt und notiert: Lieber Mr. Tschechow, gestern las ich eine traurige Geschichte, die Sie einmal aufgeschrieben haben. Sie erinnern sich vielleicht an Anjuta? Sie lebte in der Pension Lissabon mit einem Studenten der Medizin in einem schmutzigen Chaos. Eigentlich wollte ich nachlesen, wie Sie vom anatomischen Studium berichten, vom Lernen oder Pauken, eine Ärztin hatte mich auf ihre Geschichte aufmerksam gemacht. Was mich dann sehr berührte, war das Mädchen Anjuta selbst, ihre Geduld oder Duldsamkeit, wie traurig, wie sie als menschlicher Gegenstand angesehen und behandelt wurde, eine gute Geschichte! Es ist noch etwas Weiteres geschehen, ich erinnerte mich im Traum einmal, vor einigen Jahren, Ihre gesammelten Erzählungen, Novellen, Theaterstücke, Essays in digitaler Spur aus dem Internet geladen zu haben, 19657 Positionen. Ich bemerkte damals, dass es tatsächlich möglich ist, für den Preis einer Pistazieneiskugel Joseph Roths Gesammelte Werke auf ein Paperwhite – Lesegerät zu holen. James Joyces Ulysses kostet soviel wie keine Eiskugel. Virginia Woolfes Mrs. Dalloway eine halbe Kugel. Ihre, Anton Pawlowitsch Tschechows Kurzgeschichten, Novellen, Dramen wiederum eine vollständige Kugel / Downloadreisezeit : 5,2 Sekunden. Sehr beunruhigend, wie ich finde. Gleich werde ich aufwachen, ich werde einen Cappuccino trinken, und dann werde ich Ihnen diesen Brief, den ich träumte, notieren an einem frühen Morgen bald, wenn Montag sein wird bei leichtem Regen, und die Vögel pfeifen. — stop
kamelschnellbahngeschichte
marimba : 6.28 UTC — Der junge Mann, der mir eine Geschichte von Kamelen erzählt, ist 22 Jahre alt. Er trägt ein leuchtend blaues Hemd, das sieht gut aus, weil seine Hautfarbe dunkel ist, weil er ein Mann ist, der tatsächlich aus Afrika kommt, der aus Afrika geflüchtet ist, obwohl er ganz sicher nicht aus Afrika flüchten wollte. Wäre er nicht aus der Not heraus geflüchtet, mit Zügen und Bussen und zwei Flugzeugen, dann wäre er jetzt tot. Weil er nicht tot ist, sitzt er mit mir in einer Schnellbahn und wir sprechen kurz über sein Land, das ich unbedingt einmal besuchen werde, wenn es dort so sein wird, dass man mich nicht sofort umbringen wird. Der junge Mann kommt aus Somalia, sein Großvater hütete Kamele. In seiner Kindheit trank er immer viel Kamelmilch. Es gibt, sagt er, nichts Gesünderes auf der Welt als Kamelmilch. Sie schillert nicht wie die Milch der Kühe, sie ist etwas bitter und süß zur gleichen Zeit. Er sagt noch, dass er gerade sein Geld zähle, er wolle nach Afrika reisen. In Afrika angekommen werde er so viel Kamelmilch trinken, wie in seinen kleinen Bauch überhaupt jemals hinein passen wird. Und jetzt ist die Schnellbahn am Ziel, und der junge Mann steigt aus. Ich sehe noch seine Hand, wie sie mir winkt über die Köpfe der Pendlermenschen hin. — stop
beckett
charlie : 6.32 UTC — In dem kleinen Café, das den Namen Sahara trägt, wird Menschen, die am Flughafen arbeiten, Rabatt gewährt. Iclal ist müde, sie kommt gerade von der Arbeit. Außerdem schneit es in einer Weise, als wäre Winter. Sie zieht ihren Mantel aus und die Handschuhe, legt sie auf den Tisch vor sich hin und sagt: Ich will über die Abstimmung in der Türkei nicht sprechen. Sprechen wir über meine nächste Reise, ich weiß nicht, wohin ich reisen soll, ich bin seit ich denken kann, immer in die Türkei gereist, dieses Mal werde ich nicht in die Türkei reisen. — Ist es zu gefährlich, frage ich. — Nein, antwortet Iclal, es ist nicht gefährlich für mich, ich will nicht. Wohin könnte ich nur reisen im Sommer? — Ich sage: Venedig ist schön, aber eher im späten Herbst, vielleicht magst Du in die Berge gehen, Du könntest auf einer Hütte im Karwendelgebirge wohnen und wandern, das ist ganz wunderbar dort. In diesem Moment entdecke ich einen Schriftzug von weißer Farbe, der Iclal’s rosafarbenes T‑Shirt bedeckt: Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better. Das sind wunderbare Worte, sage ich, Samuel Beckett hat sie geschrieben. — Ja, wirklich, antwortet Iclal, wer ist das? Sie sieht an sich herab. Ich habe nicht darauf geachtet, was da steht, das ist Englisch, ich kann kein Englisch, was steht da, das Beckett geschrieben hat? — Ich überlege, wie ich Becketts Sätze korrekt übersetzen könnte. Ich überlege lange. Das ist offensichtlich schwierig, sagt Iclal. Nein, sage ich, das ist Poesie, da muss man sehr behutsam mit den Wörtern umgehen, man muss sehr genau sein. Kurz darauf werde ich mit meiner Übersetzung fertig. Iclal hört zu. Iclal beginnt zu lachen. Bald bekommt sie kaum noch Luft wie so lacht, und ich dachte noch, wie gerne ich ihr Lachen in diesem Moment auf Tonband aufgenommen hätte — stop
von rechenkernen
lima : 18.12 UTC — Apfelkern. Mandelkern. Rechenkern. — Ich stellte mir vor, wie ich mit feinsten Werkzeugen einen Kirschkern öffne, wie ich in der Kirschkernhöhle ein gefaltetes Blatt Papier ablege, auf dem mit kleinsten Schriftzeichen ein Gedicht verzeichnet wurde. Wie ich nun den Kern verschließe, wie ich ihn zurücklege in seine Frucht, wie ich jetzt zufrieden und glücklich bin. — Oder die Vorstellung der Rechenkerne eines Prozessors. Wie ein oder zwei Romanentwürfe möglicherweise heimlich in ihren Registerwerken versteckt sein könnten, kuriose Idee. Das habe ich mir ausgedacht, weil ich gestern Abend hörte, dass Rechenkerne für mathematisch-logische Spracheindrücke zu jeder Zeit empfänglich sind. Darüber sollte unbedingt weiter nachgedacht werden. — stop
landau
ulysses : 16.05 UTC – Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiß, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Gidhsti, die in Eritrea groß geworden ist, sagte: Was für eine seltsame Frage! Wir hatten nichts zu binden, wir sind barfuß gewesen oder trugen Sandalen. Ich war ungefähr 20 Jahre alt, als ich lernte, meine Schuhe zu binden. Darauf muss man erst einmal kommen, an einem Sonntagnachmittag. — stop
nachtfaltung
sierra : 20.22 UTC – Etwas Merkwürdiges hat sich ereignet. Ich will das schnell erzählen. Es ist nämlich so, dass ich einer Figur, die in einem Textgeschehen existiert, vor Monaten einmal, ich glaube im November bereits, einen Namen gegeben habe, welcher dunkel leuchtet, ein mächtiger, unheimlicher Name. Es handelt sich um die Zeichenfolge Mandrill. Immer wieder einmal erzählte ich in der langsamen Entwicklung des Textes von einem Mann dieses Namens. Als Mandrill gestern unvermittelt in einer Weise handelte, die ich nicht erwartet hatte, zart und einfühlsam, schmerzte der Name, als hätte ich meiner Figur Unrecht getan. Heute Morgen war die wilde Verwerfung, die ich gestern noch spürte, wieder schön gefaltet. Ich trat ans Fenster im ersten Licht der Sonne, der Himmel war voll Wasserdampfspuren, welche Nachtfernflüge an den Himmel zeichneten. Kein Mensch auf der Straße, aber zwei Eichhörnchen, die auf einem Briefkasten saßen. Das habe ich noch nie so gesehen, gestern noch hätte ich behauptet, Eichhörnchen würden niemals auf Briefkästen sitzen. Deniz Yücel weiterhin in Haft. — stop
2 engel
sierra : 16.15 UTC — Ein Freund zeigte eine Mappe, die er stets mit sich nimmt, um zur Arbeit zu fahren. Schau, sagte er, bei diesem Fach hier handelt es sich um ein operatives Fach, in welchem sich vier weitere Fächer befinden, dort ruhen Schlüssel, Portemonnaie, Codekarten, Handytelefon. Das zweite größere Fach linker Hand birgt Abteile für meine Reisebücher für die Straßenbahn, 1 Kühlfach für Schokolade, 1 Fach, in welchem 2 fingerlange Engel hausen, das öffnen wir lieber nicht, und in diesem Fach hier nun befinden sich weitere sehr wesentliche Dinge, Blütensamen beispielsweise, 1 Streichholzschachtel, 1 Kompass und 1 Wanderkarte, 1 Kaffeethermoskanne, 1 Fotoapparat, 28 Beutel Trinkwasser des Jahres 1988, 16 Portionen Fertignahrung, 3 Kilogramm Trockenbrot, 36 Tabletten gegen Seekrankheit, 1 schwimmfähiges Messer, 5 Signalfackeln in Rot, 2 Signalfackeln in Gelb, 1 Signalflöte, 1 Schöpfgefäß, 1 Rettungswesten, 1 Wurfring mit Leine, 1 wasserdichte Taschenlampe, 14 Batterien, 1 Gasfeuerzeug, 5 Fettstifte, 1 Überlebenshandbuch in finnischer Sprache, 1 Funkschreibmaschine mit Handkurbel. — Seltsame Geschichte. — stop
iphepha
ulysses : 17.35 UTC — Ich stelle mir vor, jeder Gedanke jedes einzelnen Menschen dieser Welt würde für eine Minute zu Wörtern auf Papier. Wie viel Papier? — stop
kaktusblüte
nordpol : 18.52 UTC — Ein Zufall führte mich in einem Moment zu Herrn K., als er gerade zum ersten Mal sein neues Bürozimmer betrat. Er führte einen Karton mit sich, nicht größer als eine Schuhschachtel. Aus diesem Behältnis hob er eine Notebookschreibmaschine, ein Mäppchen mit Bleistiften, eine farbige Fotografie sowie einen Kaktus, der blühte. Herr K. prüfte die Schubladen des Schreibtisches, der zu dem kleinen Zimmer mit Ausblick auf einen Park gehörte, sie waren leer. Seinen Kaktus stellte er auf die Fensterbank, die Fotografie neben ein Telefon, das sich bereits im Zimmer befunden hatte, ehe Herr K. eingetreten war. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte: Wissen Sie, mehr brauche ich nicht. Das sollten Sie immer bedenken, nur niemals heimisch werden, nur nicht glauben, dass Ihnen dieses Büro gehört. Im Gegenteil, Sie selbst gehören diesem Zimmer wie jeder andere, der nach Ihnen an dieser Stelle arbeiten wird. Wer in und von diesem Zimmer aus operiert, muss sich bewusst sein, dass er jederzeit ebenso plötzlich wie er gekommen ist, auch wieder gehen wird. In dieser Postion, die Sie hier oben bekleiden, haben Sie Erfolg oder sie haben keinen Erfolg. Binden Sie sich also nicht, arbeiten Sie konzentriert und genießen Sie die Aussicht, aber, um Himmels willen, fühlen Sie hier niemals zu Hause! — Diese Geschichte ereignete tatsächlich an einem Freitag im Juli des vergangenen Jahres. — stop
ein mädchen
alpha : 17.15 UTC — Auf dem Heimweg begegnete ich in der Nähe einer Kreuzung einem Mädchen namens Lara, das ich sofort wiedererkannte. Lara stand auf der Straße und zeichnete mittels eines Putzgerätes Herzen von Seife auf die Frontscheiben schnurrender Automobile. Vermutlich versuchte sie in dieser Weise einen Kontakt zu Personen herzustellen, die in den Limousinen warteten, um einen Auftrag zur Säuberung der Fahrzeugscheiben insgesamt zu erhalten. Lara war nicht sehr erfolgreich, aber ebenso entschlossen und charmant, wie vor Jahren noch, als sie versucht hatte, im Bahnhof mein Portemonnaie zu rauben. Eigentlich sollte Lara um diese Uhrzeit in der Schule sein. Plötzlich bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, sie lächelte zunächst, blickte dann aber äußerst grimmig in meine Richtung, nicht etwa, weil sie in mir unmittelbar eines ihrer früheren Opfer erkannte, sondern vermutlich deshalb, weil sie in meinem Blick etwas entdeckte, das sie an frühere Tätigkeitsfelder erinnerte. Also flüchtete sie mittels eleganter Sprünge über zwei Motorhauben hinweg zur gegenüberliegenden Straßenseite hin. Dort drehte sie sich um und lächelte. — stop
eine telefongeschichte
himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten, wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja, sagte B., da habe ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
lions writers inc.
alpha : 17.25 UTC — Eine Notiz der Lions Writers Support Services. Inc., die ich an dieser Stelle mit großer Freude übersetzt wiedergebe, berichtet von Mr. und Mrs. Shapiro: > AUF NACH CONEY ISLAND. Als Mr. Sini Shapiro, wohnhaft zu New York (Park Avenue 720), im vergangenen Jahr den dringenden Wunsch äußerste, endlich einmal seine Wohnung verlassen zu dürfen, um sich in der Stadt seiner Geburt umzusehen, waren wir mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Wie könnte es möglich werden, fragten wir, einem Kiemenmenschen, der zeit seines Lebens ein hoch spezialisiertes Wasserhabitat in Manhattan bewohnt, einen Zugang zur Stadt zu ermöglichen, ohne ihn umzubringen. Bald folgten wir einer konkreten Spur. Aus der nautischen Sammlung der Familie Landau, die auf Long Island lebt, erwarben wir einen Tiefseetaucheranzug, welcher zuletzt in den 40er-Jahren der unterseeischen Minenräumung diente. Der Anzug selbst wog 240, Mr. Shapiro, ein zartes Wesen, 32 Kilogramm, die Maße stimmten, und der Anzug, wenn man ihn mit Wasser füllte, erwies sich als vollständig dicht über viele Tage hin. Am 5. Juni des Jahres 2016 unternahmen wir mit Mr. Shapiro einen ersten Versuch unter wirklichkeitsnahen Bedingungen. Getestet wurde in der Wohnung der Shapiros zunächst unter Wasser, ob Mr. Shapiros Leib sich in den Anzug fügte und ob er sich geborgen fühlen konnte. In einer zweiten Phase des Testes versuchten wir einen Eindruck von der Beweglichkeit des Anzugs zu gewinnen, immerhin war das Gefäß nun vollständig mit Wasser gefüllt. Der Taucheranzug, Mr. Shapiro plus Wasserfüllung, sowie angeschlossene technische Weiterungen, Filter und Pumpen, eine Fotokamera sowie zwei Funkkommunikationsmodule, wogen insgesamt 352 Kilogramm. Am 22. Juli dann in den frühen Morgenstunden von sorgenvollen Blicken seiner Frau begleitet, wagte Mr. Shapiro sich zum ersten Mal in das Leben jenseits der Schleusentüren seiner Wohnung hinaus. Der alte Mann wurde in sitzender Position über Aufzüge des Hauses vorsichtig zu einem Subaru – Sambar – Automobil transportiert, das sich, von einem Polizeifahrzeug eskortiert, bald langsam über die Manhattan Bridge, kurz darauf über die Coney Island Avenue südwärts bewegte. Mr. Shapiro wollte das Meer mit eigenen Augen betrachten. Brooklyn, äußerte er später, gefalle ihm. / — stop New York City. May 3 2017 by Miu Gallane
ϱ
bamako : 0.05 UTC — Was präzise geschieht, wenn zwei Personen, die an oder in demselben Dokument arbeiten, innerhalb eines gemeinsamen Datentransferzeitraums simultan notieren. Die Verwirrung der Versionen vielleicht, rauschende Zeichen? ローマのロta — stop
late late blues
echo : 18.30 UTC — Samstag. Kaum auf den Beinen beschließe ich, ein Experiment zu wagen, an dem ich mich vor Jahren schon einmal versuchte. Ich wünschte, einen Gedanken genau so zu denken, als wäre dieser Gedanke der letzte meiner Gedanken. Die Beobachtung, dass sich bereits die Wahrnehmung eines letzten Gedankens in einer Zeit weit nach dem letzten Gedanken zu befinden scheint, als ob jedem Gedanken sofort ein Echo folgte. Vielleicht wird überhaupt jeder Gedanke niemals als Gedanke im Moment seiner Verfertigung, sondern immer nur in seiner Echospur für mich verfügbar sein. — Noch zu tun: Nachdenken über den Sandmann. — stop
die geschwindigkeit der wörter
tango : 22.30 UTC — Wie flink vermag ich mit einem Finger auf einem Bildschirm zu schreiben, wie schnell mit einem Sensorstift? Am schnellsten schreibe ich, wenn ich mittels Wörtern denke? Ich schreibe dann, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen, schreibe eine denkende Spur, die erinnert oder sofort vergessen werden könnte, wie jener Mann, der in einer Erzählung Patricia Highsmith’s einen Roman nach dem anderen Roman im Kopf notiert. Das Schreiben per Hand auf Papier oder mittels einer Tastatur auf einem Bildschirm bewirkt vermutlich ohne Ausnahme eine Verlangsamung des Denkens, eine Präzisierung. Das sprechende, erzählende Denken scheint der Luft, den Vögeln verbunden, das schreibende Denken dem Wasser, den Fischen. Ich stelle mir vor, Menschen, die mich einmal schweigsam wahrgenommen haben, eine in sich gekehrte Person, werden diese Gedanken in einer vollkommen anderen Weise wahrnehmen, als jene Menschen, die einen sprudelnd erzählenden, Wörter sprühenden Mann erlebten. — stop
hrabal
ulysses : 0.12 UTC — Ein gutes Heft ist, würde Hrabal, wenn er noch lebte, vielleicht sagen, gut für die Ohren, etwas zu denken, aber von dem Gedachten nichts zu äußern. — stop
sekundenglück
romeo : 17.10 UTC — Adele, die in Südafrika geboren wurde, in Johannesburg, genauer, in Soveto, sitzt auf einer Bank der Zentralstadion. Sie sollte eigentlich längst auf dem Weg zur Arbeit sein, es ist kurz nach zehn Uhr, stattdessen sitzt sie hier unter weiteren Menschen auf einer Bank und weint. Sie sagt, sie habe ihre Brille vergessen, ohne Brille könne sie nicht arbeiten, wenn sie heute nicht arbeiten würde, werde das sehr schlimme Folgen haben, man würde ihren Vertrag nicht verlängern, ohne Arbeit sei ihre Aufenthaltsgenehmigung bald verwirkt, sie müsse dann zurück nach Südafrika, ich könnte mir gar nicht vorstellen, was das für sie bedeuten würde, deshalb weine sie, deshalb sei sie ganz am Ende, nein, dass Lesebrillen existieren, die nicht einmal so viel kosten wie eine Wochenzeitung, das wusste sie nicht, das ist jetzt doch eine wunderbare Überraschung. Brillen gleich hier um die Ecke, Brillen, die stark sind, nein wirklich! Wie sie jetzt aufspringt, wie sie zunächst auf die Uhr blickt, dann auf die kleine Skizze, die sie aus den Wörtern pflückte, die ich ihr erzählte, wie sie auf knallroten Turnschuhen losrennt, wie sie mit einem Lächeln zurück in der Menschenmenge verschwindet, so viel Glück, dass die Luft zu knistern beginnt, soviel Glück. — stop
von der stille
himalaya : 20.12 UTC — Einmal spazierte ich durch New York an einem warmen Tag im April. Ich ging einige Stunden lang ohne ein Ziel nur so herum, manchmal blieb ich stehen und beobachtete dies oder das. Ich dachte, New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, um zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehen, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nachtmensch oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann von Zeit zu Zeit ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und für einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, was Menschen, die mir begegneten, erzählten. So ging ich damals dahin, ich glaube, ich spazierte im Kreis herum, berührte da und dort die Küste eines Flusses, und als es Abend wurde, besuchte ich Marina Abramović, die seit Monaten bereits in einem Saal des Museums für moderne Kunst auf einem Stuhl saß. Wie sie Menschen erwartete, um mit ihnen gemeinsam zu schweigen, berührende Stunden, und ich dachte und notierte, wie ich heute wieder notiere, es geht darum, in der Begegnung mit Menschen Zeit zu teilen, es geht darum, die Zeit zu synchronisieren, in meinem Falle geht es darum, langsamer zu werden, um Menschen in der Wirklichkeit nahekommen zu können, es geht darum in dieser rasenden Welt von Stillstand, so langsam zu werden, und wenn es nur für wenige Stunden ist, dass ein Gespräch, eine Berührung, überhaupt möglich sein kann. Daran wieder erinnern, Tag für Tag. — Heute bin ich nicht in New York. Wo ich bin, schwebt ein dunkler, schlafender Zeppelin am Horizont, der möglicherweise bald aufwachen und blitzen wird. Ein schöner, nachdenklicher Tag, weitere schöne Tage werden folgen. Ich werde langsam lesen und langsam sprechen, und denken werde ich so langsam wie nie zuvor. Ich werde die Empfindung der Zeit zur Geschmeidigkeit überreden, ja, das ist vorstellbar, weiche, warme Stunden. — stop
chicago
india : 16.28 UTC — Einmal, ich habe vor zwei Jahren bereits davon erzählt, arbeitete ich im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie loswerden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclair’s Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gerne zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiere in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
in der schnellbahn
zoulou : 10.12 UTC — Gestern in der Schnellbahn las ich in meinem elektrischen Notizbuch folgenden Hinweis: Geschichte vom Papiersegler. Ich habe diesen Vermerk einer Geschichte, die sich in meinem Kopf befinden muss, im August des vergangenen Jahres festgehalten, vermutlich in einer Schnellbahn fahrend. Auch in diesem Moment, wieder sitze ich in einer Schnellbahn, komme ich an meine Geschichte nicht heran. Sie kennen das vielleicht. Wie man nach einem Wort sucht oder einer Telefonnummer, in dieser Art und Weise suchte ich vor wenigen Minuten nach meiner Geschichte. Ich schloss also meine Augen oder öffnete sie, um vorüberziehende Waldlandschaft zu betrachten, der eigentliche suchende Blick aber war nach Innen gerichtet. Auch meine Gedächtnisohren waren indessen äußerst aufmerksam gewesen. Vielerlei Geräusche, aber nicht ein einziges Geräusch, das mich zu meiner Geschichte führte. Ich ahne, dass ich Geschichten oder Wörter, sobald ich sie gefunden habe, zunächst höre, mit meinem Kopf, erst dann vermag ich sie zu lesen. Ich will das weiter beobachten. Jetzt muss ich aussteigen. — stop
ein papiersegler
ulysses : 17.52 UTC — Wie viele Geschichten habe ich in meinem Leben bereits vergessen? Es ist denkbar, dass ich, wenn ich mich an vergessene Geschichten erinnere, meine, sie seien umfassend neue Geschichten. — stop
am telefon
marimba : 17.55 UTC — Plötzlich kracht es. Sie muss während unseres Gespräches in etwas Unbekanntes gebissen haben. Ja, sagt sie, ich habe furchtbaren Hunger, war den ganzen Tag in irgendwelchen Sitzungen, ich muss etwas essen, ich habe gerade in einen Apfel gebissen. — Das war wohl ein sehr fester Apfel, bemerke ich. Willst Du mal eine Banane hören, fragt sie? Das Meer vor Thessaloniki sei unruhig an diesem Tag, die Nächte sind wärmer geworden, auf den Straßen und Plätzen, in den Parks campierten noch immer tausende Flüchtlinge. Ich stelle mir vor, wie L. mit lächelndem und doch ernstem Gesicht Obst verteilt, Brote, Tee, dann wieder in irgendwelche Sitzungen eilt, um hungrig zu werden. Bananen, das weiß ich nun mit Sicherheit zu sagen, sind kaum zu hören über eine Telefonverbindung hin. Was man von einer Banane in dieser Situation zu hören vermag, ist allein die Vorstellung, dass soeben in größerer Entfernung ein Mensch in eine Banane beißt. Ich höre demzufolge ein vorgestelltes Geräusch, weshalb ich sagen kann, dass die Vorstellungskraft wirkungsvoll sein kann wie ein Mikrofon oder wie eine Lupe. — Das war gestern. Heute ist es kurz vor sechs Uhr. Die Luft ist warm und feucht. Noch zu tun: Lektüre. Italo Calvino Herr Palomar. Nichts weiter. — stop
glück
charlie : 20.52 UTC — Am Ufer eines kleinen Sees auf einer Bank in einem Park kurz vor der Dämmerung. Da und dort Karpfenschnäbel, die etwas von der regen frischen Luft zu trinken scheinen. Drei Ameisen hasten gleich neben mir hin und her über warmes, verwittertes Holz. Und da ist ein Falter. Er tastet mit seinen Fühlern nach Wortzeichen auf meinem Bildschirm, vielleicht deshalb, weil das strahlende Weiß des Bildschirmhintergrundes Luft, Zeichen hingegen ein Etwas bedeuten, einen Schatten, mit dem kommuniziert werden kann. — Ich habe wieder einmal beobachtet, dass ich, wenn ich mit meinen Ohren nach Geräuschen suche, die nicht hörbar sind, meine Augen öffne so weit ich kann. Der Wunsch, einmal in meinem Leben, für eine halbe Stunde nur, über das Vermögen zu verfügen, den Sonarhupen der Abendsegler lauschen zu können. — stop
früher morgen
lima : 7.30 UTC — Vor einiger Zeit einmal wachte ich auf und dachte: Heute wirst Du einen Text notieren, der reinen Unsinn erzählt. Ich trank einen Kaffee, aß einen Apfel, öffnete das Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Dort bewegten sich Menschen. Ich beobachte, wie sie aus Straßenbahnen stiegen, wie sie die Straße überquerten, manche rauchten noch schnell eine Zigarette, andere telefonierten, manche durchsuchten ihre Taschen oder schauten in die Bäume, alle aber bewegten sich fast senkrecht vorwärts. Als ich ihnen so zuschaute, ahnte ich, dass es nicht einfach sein würde, einen Text zu schreiben, der reinen Unsinn erzählt. — stop
jonny
ulysses : 6.25 UTC — Was für ein schöner Morgen unter Kastanienbäumen. Sommerfäden treiben durch die warme Luft. Atemzüge der Spinnen, der Falter, der Käfer, sanft streifen sie durch Blütenstaubwolken. In diesem Moment, da ich mir ein Baummikroskop erfinde, höre ich aus dem Radio, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika habe versucht, Ermittlungen des FBI zu behindern. Das ist eine ziemlich interessante Geschichte. Das Kurzwort FBI war schon immer ein leuchtendes Wort. Wenn ich mich nicht irre, ist das so, dass ich in meinem wirklichen Leben noch nie einem FBI – Beamten begegnet bin. Vielleicht habe ich einmal in einer U‑Bahn, die in Richtung Coney Island fuhr, neben einem FBI – Beamten Platz genommen, das ist möglich, ich habe ihn nicht bemerkt. Mit dem Wort FBI ist in meiner Erinnerung zunächst ein heftiges Gespräch verbunden, welches ich einmal in meiner Kindheit mit einem Jungen namens Jonny führte, der war uniformiert und bewaffnet gewesen, zur Karnevalszeit. Ich sagte: Du, Jonny, Du bist Polizist! Er sagte: Nein, ich bin vom FBI, und zückte seine Waffe. Seit etwa einer halben Stunde trage ich die Formulierung Summer of Sam wie einen Stempel in meinem Kopf. Warum? — stop
von kakteen
ulysses : 19.35 UTC — Einmal wollte ich einen Text notieren, der möglichst noch nie zuvor aufgeschrieben wurde. Ich wollte diesen Text in das Magazin einer Servermaschine transferieren, versehen mit einer allgemeinen Anweisung für Suchmaschinen, diesen Text nicht zu beachten. Ich plante demzufolge mittels einer Verlockung (Textköder) sowie einer Anweisung für entsprechende Verzeichnisse (.htaccess noindex) zu erproben, ob Suchmaschinen meinen Wunsch wahrnehmen und akzeptieren, oder ob sie meinen Wunsch wahrnehmen und sich ihm widersetzen werden. Ich notierte: marimba : 8.02 – Palmengarten. stop. Wüstenhaus. stop. Das feine Geräusch der Kakteen, sobald ich ihr Stachelhorn mit einem Pinsel, einem Mikadostäbchen, einem Finger berühre. Hell. stop. Federnd. stop. Propellernd. stop. Klänge, für die in meinem suchenden Wortgehör noch keine eigene Zeichenfolge zu finden ist. stop. stop. Die Stille beim Durchblättern eines feuchten Buches in der Mangrovenabteilung. stop. stop. Zweiter Versuch. — Ich könnte vom heutigen Tage an Suchmaschinen als Lebewesen betrachten, die über Wille, Lust und Laune gebieten. — stop
lappo
nordpol : 12.30 UTC — Ein anderes Mal beobachtete ich einen Filmbericht, der von Menschen erzählte, die auf der Insel Lappo in Meeresnähe sehnsüchtig den Winter wie einen Besucher erwarten, dass das Meer endlich gefriert, dass sie bis nach Turku über das Wasser laufen können. Eine Frau sagt, sie liebe die Stille im Ohr. Diese Stille sei wie ein Geräusch für sich. Man könne der Stille zuhören. Manchmal knistere das Eis, im Sommer summten Insektentiere durch Luft und Stille. — Eben fällt mir ein, dass ich vor längerer Zeit bereits den Auftrag formulierte, Schneelibellen zu erfinden. Fangen wir an. — stop
ein koffer
delta : 16.12 UTC — Ich weiß nicht, wohin die Vögel schlafen gehen, stellt Hilde Domin einmal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem geliebten Mann begegnete, dass sie wunderbare Gespräche führten, dass sie sicher ein Jahr brauchten, um sich zum ersten Mal zu küssen. Wir waren sehr förmlich. In der 45. Minute des wundervollen Films Ich will Dich — Begegnungen mit Hilde Domin von Anna Ditges will die junge Filmemacherin wissen, ob Hilde Domin’s Ehemann ein guter Liebhaber gewesen sei. Hilde Domin antwortet mit trockener Stimme: Ich hatte keinen anderen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich find, ja. Sie macht eine längere Pause. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm niemanden geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurückhaltend war wie ich. Meine Freundinnen waren alle anders. Anna Ditges: Er war der einzige Mann, den Du je gekannt hast? Hilde Domin antwortet: Ja! Anna Ditges: Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist? — Hilde Domin: Jedenfalls habe ich keine andere. Weißt Du, der lebendige Mensch ist der lebendige Mensch. Und der Mensch, der nur noch in meiner Vorstellung ist, das ist nicht dasselbe. — In diesem Augenblick erinnere ich mich an eine Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Später wurde mir warm, wenn ich das Bild betrachtete. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit fürchtete. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrte wochenlang zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. Sie geht noch immer, Jahre sind vergangen, so umher. – stop
von wasserläufern
nordpol : 20.25 UTC — Heute Nachmittag habe ich eine lustige Geschichte mit mir selbst erlebt. Ich sass vor einem See in einem Garten und beobachtete sehr kleine Tiere, wie sie sich nahe oder auf der Oberfläche des Wassers bewegten. Da waren unter anderem Fliegen, die im Wasser des Sees badeten, und Schatten der Libellenlarven, die sich den badenden Fliegen nährten, auch Wasserläufer, die einander jagten im Spiel. Plötzlich fragte ich mich, ob ich eventuell in der Lage wäre, das Verhalten der Wasserläufer vorherzusagen, ob sich ein bestimmter Wasserläufer eher in östliche oder eher in westliche Richtung fortbewegen würde. Eine Weile folgte ich dem von mir gewählten Tier mit meinen Augen, dann zeichnete ich seinen Weg auf ein Blatt Papier. Wolken spiegelten sich im Wasser, der Himmel hier unten war grün, er schimmerte. Eine Unterwasserschnecke passierte mein Beobachtungsfeld sehr langsam, und ich notiere: Schnecke. In diesem Augenblick bemerkte ich fünf Goldfische, die sich in einem Halbkreis im Wasser vor mir versammelt hatten. Sie bewegten sich kaum merklich und ich hatte plötzlich den Eindruck, sie würden mich betrachten. Tatsächlich fühlte ich mich von einer Sekunde zur anderen Sekunde selbst beobachtet. Das war ein merkwürdiger Augenblick gewesen, ein Moment auch von Verlegenheit, weshalb ich mich wieder einem Gespräch auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine zuwendete, das ich mit einem Computerprogramm namens ELIZA in englischer Sprache vor langer Zeit einmal geführt und kurz darauf in die deutsche Sprache übersetzt hatte. Ich, der ich Louis gewesen war, fragte Eliza: guten abend! wie geht es dir, eliza? Eliza : > gut! und dir? Louis : prächtig. Eliza : > schön zu hören. wo liegt dann das problem? Louis : ich habe heute abend kein problem, eliza! Eliza : > wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! Louis : darf ich dir eine frage stellen? Eliza : > sicher! Louis : was bedeutet das wort liebe? Eliza : > hast du schmetterlinge im bauch? Louis : eliza! bitte! was bedeutet das wort liebe! Eliza : > lass uns das eine weile zurückstellen. Louis : warum, eliza? Eliza : > du musst mich nicht mit namen rufen, ich bin immer bei dir. Louis : das ist beruhigend, eliza! Eliza : > erzähl weiter! Louis : eliza! liebe? Eliza : > hast du schon andere gefragt? Louis: aber natürlich! Eliza : > schön zu hören. wo liegt dann dein problem? Louis : ich habe heute abend kein problem, eliza! Eliza : > wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! Louis : warum? Eliza : > ich sehe, du bist ein schwieriger fall. Louis : warum bin ich ein schwieriger fall, eliza? Eliza : > scherz beiseite, kommen wir zur sache. — stop
in zeitlupe
nordpol : 15.12 UTC — Einmal beobachtete ich, wie mir ein schwarzes Kästchen gesammelter digitaler Information aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Eine Bewegung wie in Zeitlupe, eine Bewegung, ohne die Möglichkeit einzugreifen, da ich mich selbst in dem Fenster meiner Wahrnehmung wie in Zeitlupe bewegte. Ich hob das Kästchen vom Boden auf. Als ich mich mit einem Ohr näherte, hörte ich ein seltsames, leises Ticken. Jene Schreib- und Lesemaschine, die in dem Kästchen geborgen war, war blind geworden. Kurz darauf kaufte ich ein weiteres Kästchen und dachte tagelang darüber nach, wie ich von nun Daten, Spuren, Zeichen, Verzeichnisse meiner Arbeit bewahren könnte. — Zwei Jahre vergehen. ‑Heute wanderte ich einige Stunden durch einen wilden Wald, ohne vermutlich irgendeine digitale Spur zu hinterlassen, nicht 1 Byte. Sehr merkwürdig. Noch zu tun: Lektüre Nicholson Baker Eine Schachtel Streichhölzer. — stop
nasa
kilimandscharo : 20.52 UTC — Ob vielleicht Mondbriefe existieren, Briefe, gestempelt, beschriftet, mit einer Briefmarke versehen, die bereits tatsächlich einmal zum Mond hin und vom Mond her wieder zurückgeflogen sind? — stop
nikolai wassiljewitsch
marimba : 0.12 UTC — Eigentlich sollte ich niemals das Ende eines Traumes erzählen, Traumenden befinden sich nicht selten bereits mit einem Bein im neuen Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirklichkeit nennen, ich bin dann schon wach geworden auf einem Bein, habe die Fenster geöffnet, es regnet zum Beispiel, auf der Straße weit unter mir bewegen sich Regenschirme, Menschen sind keine zu erkennen, aber ein paar nasse Tauben, die sich, von der Schwere ihres Gefieders in die Tiefe gezogen, kaum noch in der Luft zu halten vermögen. Eine Exkursion zur Kaffeemaschine hin nütze ich, um mein Mikroskop vom Tisch zu holen. Tatsächlich erkenne ich jetzt eine Herde goldgrüner Frösche, die sich an der Hauswand gegenüber westwärts bewegen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, prasselt auf die Blätter der Bäume, tropft von den Regenrinnen auf blecherne Fenstersimse, was für ein wunderschöner Morgen, schon habe ich den Traum, den ich träumte, beinahe vergessen. Wie gut die Luft heute riecht, das denke ich noch, und erkenne in diesem Augenblick zwei menschliche Nasen, die dicht nebeneinander auf dem Rücken einer Straßenlampe sitzen, sie sind sicher aus einem Buch gehüpft, das ich nicht lesen kann, weil es in russischer Sprache aufgeschrieben wurde, ich erinnere mich, Gogol, nicht wahr, ich sollte bald Gogols Nase lesen, auch sollte ich ein wenig der russischen Sprache lauschen, um bald wieder glücklich einzuschlafen. — stop
ich war im flur spazieren
tango : 15.06 UTC — Über einen langen Flur eines Schiffes wandernd, begegneten mir zwei Männer, ein junger und ein etwas älterer Mann. Wie sie näher kamen und ihre Stimmen in meinen Ohren deshalb lauter wurden, hörte ich, dass sie sich über ein Büro unterhielten, in welches einer der beiden Männer vor wenigen Tagen erst eingezogen war. Es ging in dem Gespräch außerdem um Möbel. Die Männer waren sich, so mein Eindruck, nicht ganz einig gewesen. Sie diskutierten, ein lautes, lachendes, ein lebendiges Gespräch, weshalb ich umdrehte und den Männern in dezentem Abstand folgte, ich wollte Ihnen heimlich zuhören, was vermutlich nicht ganz höflich gewesen war. Ich glaube, die zwei Männer bemerkten mich glücklicherweise nicht. Warum ist dein neues Büro so leer? Wollte der eine Mann, er war wirklich noch sehr jung gewesen, von dem anderen, dem älteren Mann wissen? Das ist so, antwortete der alte Mann dem jungen Mann, hör zu, ich will unabhängig leben von meinem Büro, ich will nicht mit ihm verwachsen sein. Wenn ich von meinem Büro einmal getrennt werden sollte, ist der Schmerz dann nicht so groß, wenn ich aber mit meinem Büro verwachsen sein würde, könnte man mir Schmerzen zufügen, man könnte sagen, Sie dürfen bleiben, wenn sie folgsam sind, man könnte mich erpressen, verstehst Du, man könnte mich mit leichter Hand fertig machen. Deshalb sind in meinem Büro nur ein Stuhl und ein Tisch und Papiere, ein Obstkorb, eine besondere Tafel, die beschriftet werden kann und wieder gereinigt von Farbe, eine Zeichnung weiterhin, die einen Mann zeigt, der sein Fahrrad zerlegte, außerdem sind da noch, eine Kaffeetasse, drei Stühle für Gäste, ein kleiner Kühlschrank, ein Regal mit 176 Büchern, ein Teppich, welchen ich auf einer Reise nach Marokko entdeckte, eine Stehlampe, die sich gleich hinter meinem Schreibtisch befindet, ein wunderbar warmes Licht strömt von dort, eine zweite Lampe auf dem Schreibtisch, die im Winter zusätzlich Licht spenden wird, ein kleines Sofa, Bleistifte in einem Bleistiftgefäß, ein Telefon, zwei Kakteen, fünf Orchideen auf der Fensterbank, ein Käfig mit einem Zeisigpärchen, drei Schreibmaschinen, eine Fotografie, die meine Geliebte zeigt, wie sie lächelt, ist das nicht wunderbar. — stop
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ein millionstel gramm wort
sierra : 15.38 UTC — Ich verfüge jetzt über eine weitere Schreibmaschine. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn meine neue Schreibmaschine in der Hitze der Tag- oder Abendluft atmet, um sich zu kühlen, ist von ihren Atemgeräuschen nichts zu hören. Selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäuse lege: Stille. Ich könnte sie unter meinem Hemd verbergen, weil sie so flach ist, niemand würde sie bemerken. Einmal notierte ich: Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Schreibmaschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? S i e r r a. Wie viele Male wird das Wort S i e r r a heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen werden, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort S i e r r a , das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. — stop
beobachtung
ulysses : 18.10 UTC — Ob vielleicht Bewegungen existieren, Gesten menschlicher Hände, die bald aussterben werden? Die Geste einer Hand, beispielsweise, in der Betrachtung eines Dias, oder die Geste einer Hand, die einen Bleistift führt über ein Blatt Papier. Ich werde eine Sammlung aussterbender Bewegungen anlegen. Sofort fange ich damit an. Es ist später Abend geworden. Gewitter nähern sich von Westen. Nichts weiter. — stop
sisulu
delta : 6.15 UTC — In der vergangenen Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich war in der Dämmerung mit meinem Trompetenkäfer abends spazieren im Palmengarten. Die Luft duftete nach Flieder, obwohl schon Juni geworden war. Der Käfer, dem ich kurz nach seiner Entwicklung den Namen Sisulu 8 gegeben hatte, hockte auf meiner rechten Schulter, weswegen ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen Fuß setzte, weil ich natürlicherweise von der Flugunfähigkeit des kleinen Wesens wusste, er war nicht zum Fliegen ausgedacht, sondern zum Trompetenspielen. Ich ging also ganz langsam nordwärts vorbei an einer wunderbaren Sommerwiese, die von den Schlafgeräuschen der Heuschrecken leise knisterte, erreichte dann nach zwei Stunden langsamen Gehens eine hölzerne Bank am Rande einer weiten Steppenlandschaft, es war schon Nacht geworden. Ich nahm Platz auf der Bank, überschlug die Beine und setzte den kleinen Käfer auf mein rechtes Knie. Unverzüglich begann Sisulu 8 zu spielen in einer Weise, wie ich es vor langer Zeit schon einmal zu beschreiben versuchte. Bald war ich eingeschlafen, ich weiß nicht genau, wie lange Zeit ich geschlafen hatte, als ich erwachte, saß Maceo Parker neben mir auf der Bank. Er hatte sich mit seinem rechten Ohr meinem Knie genähert, ich wagte in diesem Augenblick kaum zu atmen, das muss man sich einmal vorstellen, Maceo Parker auf einer Nachtbank neben mir sitzend, wie er meinem Käferfreund Sisulu lauscht. Es ist jetzt schon bald Morgendämmerung, meine Güte, und ich bin noch immer nicht wirklich wach geworden. — stop
im aquarium
india : 20.01 UTC — Einmal beobachtete ich in der Unterwasserabteilung eines zoologischen Gartens Medusen und Haifische, auch Buntbarsche und Seesterne. Es war dort beinahe dunkel gewesen, Besucher flüsterten, wohl weil man im Schattenlicht leise spricht. Als ich mich gerade umdrehen wollte, um nach einem Ausgang zu suchen, entdeckte ich einen kleineren Behälter, der auf einem Sockel inmitten des Saales ruhte. Da schwebte ein Wesen in dem Behälter, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich dachte, tatsächlich existieren Unterwasserengel, Persönlichkeiten, die sich ein Maler ausgedacht haben könnte. Einige Minuten lang wartete ich darauf, doch endlich wach zu werden, indessen der Unterwasserengel mich seinerseits zu beobachten schien. Kurz darauf näherte sich ein Mitarbeiter des Aquariums, er strich mit einem Finger über die Scheibe hin, der Fisch folgte dem Finger, als ob er mit ihm befreundet sei. Ich sagte, das ist ein seltsamer Fisch, eine Art Unterwasserengel. Nein, antwortete der Mitarbeiter, das ist ein Fetzenfisch. Das kann nicht sein, erwiderte ich, eine seltsame Bezeichnung für ein so wundervolles Wesen. Eine Weile diskutierten wir über das Recht oder Unrecht, Namen an Tiere oder Pflanzen zu vergeben. In dieser Zeit beobachtete uns der Fisch aufmerksam. Plötzlich drehte er sich um und verschwand in einer Höhle, so als habe er die Entscheidung getroffen, genau in diesem Moment seinen Arbeitstag als Fetzenfisch zu beenden. — stop
samarkand
echo : 0.28 UTC — Am Telefon erzählte unlängst eine Freundin, die 32 Jahre länger lebt als ich selbst, sie höre mir gern zu, auch dann, sagte sie, wenn du schnell sprichst. Sie gehe manchmal kurz in die Küche und mache sich einen Tee oder lese in einem Buch über die Stadt Samarkand. Hin und wieder stehe sie auf dem Balkon und betrachte den Abendhimmel, das Telefon ruhe indessen stets in Hörweite auf dem Wohnzimmertisch. Ich vernehme Dich also, lieber Louis, ich mag deine Stimme, aber Du solltest lernen, Pausen zu machen, langsamer zu werden. Ich antwortete: Ja, das ist gut, ich bin schon seit einigen Wochen in der Übung langsamer zu werden. Es ist sehr angenehm, langsam zu gehen und langsam oder gar nicht zu sprechen. Fortan werde ich, das ist ein Versprechen, immer wieder einmal zu Hause oder unterwegs eine Pause einlegen. Dann fragte ich: Was macht man denn so in einer Pause? — Es ist sehr schön wie meine Freundin lacht. Sie reist viel herum, nach Amerika, nach Paris, nach Jerusalem. — stop
tokiozug
charlie : 22.25 UTC — Vor wenigen Minuten noch habe ich mit einem Bleistift in meiner rechten Hand versucht, den Namen Dostojewski’s in mein Notizbuch einzutragen. Das ist vielleicht tatsächlich eine kleine Meldung wert. Der letzte Eintrag in mein Notizbuch ist nämlich mit dem Monat April verbunden, das war, ich erinnere mich, an einem Sonntag gewesen, ein stürmischer und regnerischer Tag, die Papiere meines Notizbuches waren feucht geworden, wellten sich, wellen sich noch immer. Ich habe damals die Frage notiert, ob Fledermäuse auch bei Regen fliegen. Nun ging es heute um etwas ganz anderes, ich wollte eine Notiz zum Roman Der Spieler verzeichnen. Leider fuhr ich in diesem Augenblick meines Wunsches in einem Zug voller Menschen, die sich dicht aneinander drängten, weswegen ich meine Schreibmaschine nicht erreichen konnte. Also suchte in der linken Hosentasche nach meinem Notizbuch für Notfälle. Dieses Buch ist, wie ich erwähnte, von Papier, wurde mehrfach gefaltet, ebenso mehrfach feucht und wieder getrocknet, ein Heftchen, in welchem ich beizeiten mit wilder, ungeübter Schrift notiere, sodass ich manchmal nur noch erahnen kann, was ich vermerken wollte. So habe ich heute also aus der Erinnerung Variationen eines berühmten Namens notiert, mehrfach habe ich angesetzt, dann wieder nachgedacht. Ich frage mich, was würde Fjodor M. Dostojewski vielleicht gedacht haben, hätte er mich beobachtet in diesen aufregenden Minuten einer kurzen Zugreise? — Heute ist Dienstag, es ist warm, es ist Sumatra. — stop
vom unsichtbaren
lima : 23.59 UTC — Ich war noch ein Kind gewesen, als ich von meinem Vater in einen unter der Erde liegenden Saal des Kernforschungszentrums CERN geführt wurde. Ich lernte dort die Unsichtbarkeit kennen. Es war inmitten einer Nacht, der Saal grell beleuchtet, Dioden blinkten, orangefarbene Warnleuchten drehten sich langsam. Und da war das Rauschen der Luft, die kühl durch den Saal strich, ein beständiger Wind, weswegen in einer Hochsommernacht doch alle Menschen, die in dem Saal zu beobachten waren, warme Kleidung trugen. Mein Vater und ich standen auf einer Brücke, die über einen Korridor führte, der vollständig leer zu sein schien. Aber das war natürlich ein Irrtum, dort gleich unter uns schoss nämlich ein Strahl hochenergetischer Teilchen durch die Luft, der jeden Menschen sofort getötet hätte, wenn er dort unten hindurchspaziert wäre. Mein Vater deutete hinab und versuchte mir das Unsichtbare zu erklären. Nicht sichtbar, weil zu schnell, sagte mein Vater, und zu klein. Ich war so berührt von der möglichen Wirkung des Unsichtbaren, dass ich immer wieder dorthin zurückkehren wollte, um das Unsichtbare zu besuchen. Überhaupt ist das Unsichtbare, das aber doch der Fall ist, ein wundervolles Phänomen. Oder jenes gemeinsame Wesen, das nur den Liebenden sichtbar wird. — Mit dieser Minute endet Louis’ 20646 Lebenstag. — stop
sumatra petit
india : 21.05 UTC — Es ist der 22. Juni, Abend. 30 °C Wärme im Arbeitszimmer, 88 Prozent Luftfeuchte, meine Schreibmaschine, die so eben noch von einem Schirmsammler erzählte, schnauft vor sich hin, jeder weitere Satz scheint ihr Prozessorherz aufzuregen. Ich selbst habe längst aufgehört zu atmen, habe meine Kiemenschächte, die links und rechts hinter meinen kleinen Ohren im Verborgenen liegen, geöffnet, nun bin ich ganz auf der sicheren Seite. Mein Telefonhörer ruht neben Lutz Seiler Zeitwaage, ein Buch, das ich zur Stunde kaum wage anzufassen, es konnte zerfallen. Überhaupt bin ich heute ein wenig langsam in der Aufnahme der Wörter, ich lese sozusagen Buchstabe um Buchstabe voran. Über meinem Sofa haben sich drei Wolkentürme gebildet, die bald blitzen werden, ich kenne das schon, es blitzt und dann wird es regnen, diesen wunderbaren Regen aus meinen Zimmerwolken, der nach Veilchen duftet, ich weiß noch immer nicht warum. Auf dem Fensterbrett ein Zeisig, es ist kurz nach neun Uhr, Miles Davis So What, wir tauchen. — stop
im aufzug
sierra : 22.01 UTC — Stellen Sie sich vor, ich war in einem Aufzug gewesen, der nicht weiterfuhr, weder nach oben noch nach unten, keinerlei Bewegung, eine eigentlich harmlose Geschichte, aber ich war nicht allein in dem Aufzug, wir waren zu fünft, zum Glück nur zu fünft, nicht etwa zu siebt oder zu acht, dann wäre wirklich Ernst geworden. Da waren also ich und vier weitere Personen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, Personen von der Art, von welchen man sagen könnte, dass sie nicht gerade freundliche Menschen sind. Ich würde sogar sagen, sie waren in ihrem Auftreten unhöfliche Wesen, ich kann das beurteilen, ich war der erste in dem Aufzug gewesen, alle weiteren vier Personen kamen etwas später hinzu, traten in die Aufzugkabine herein, ohne zu grüßen. Den ersten Herrn grüßte ich noch, aber bei dem zweiten Herrn war ich schon vorsichtig gewesen, ich grüßte ihn nicht, vielleicht wird der vierte Besucher des Aufzuges demzufolge gedacht haben, was sind das nur für unfreundliche Menschen an diesem Ort, weil wir drei, die vor ihm im Aufzug gewesen waren, uns bereits ärgerten, deshalb entsprechende Gesichter zeigten. Wir hatten kein Glück, so könnte man das vielleicht sagen, auch die Besucher vier und fünf waren keine Frohnaturen, sie traten herein, beobachteten, was da für Menschen sich im Aufzug befanden, und sagten sich vermutlich, wir werden schweigen, weil alle schweigen. Dann blieb der Aufzug also stehen, ohne dass sich eine Tür geöffnet haben würde, das Licht ging aus, auch die Anzeigen der Stockwerke, wir standen im Dunkeln. Unverzüglich holten wir unsere Diensttelefone aus den Taschen, es wurde Licht, fünf Gesichter, die beleuchtet waren, ängstliche Gesichter, weil wir ahnten, dass wir uns nicht mochten, dass wir unfreundliche Menschen waren, die vermuteten, dass sofort oder in Kürze etwas Schreckliches geschehen könnte. — stop
gespräch mit einem seemann
tango : 20.10 UTC — Im Schnellzug heute Morgen beobachtete mich ein Mann von vielleicht achtzig Jahren, wie ich auf meiner flachen Bildschirmschreibmaschine einen Text notierte. Ich hatte die Schreibmaschine quer auf meine Knie abgelegt und schrieb mit fünf oder sechs Fingern recht flink auf einer virtuellen Tastatur. Das war ein fast lautloser Vorgang gewesen, vielleicht deshalb sagte der Mann plötzlich: Früher waren die Schreibmaschinen sehr laut gewesen! Ich hob meinen Blick und lächelte den Mann an. Er fragte sofort weiter: Das ist doch eine Schreibmaschine? Ich nickte. Ja, sagte ich, das ist eine Schreibmaschine und zugleich auch ein Gerät, mit dem ich Texte senden kann und Nachrichten empfangen, sogar morsen könnte ich. — Ich habe früher auch gemorst, sagte der Mann, ich bin auf einem Segelschiff zur See gefahren, da war ich sehr jung gewesen. Er schwieg für einen Moment, dann sagte er: Sie brauchen gar kein Papier, nicht wahr? Ich antwortete: Das ist richtig, im Grunde brauche ich kein Papier. — Was schreiben sie denn? Wollte der Mann wissen. Ich schreibe eine Geschichte, sagte ich. Ist das denn gut, dass sie eine Geschichte ohne Papier schreiben? fragte der Mann. Ich sagte: Darüber muss ich nachdenken. Der Mann lachte: Sie ist wirklich nicht groß, diese Schreibmaschine. Sagen sie, wie viele Geschichten passen denn in diese Schreibmaschine hinein? Ich antwortete: Ich glaube, sehr viele Geschichten, ja, vermutlich unvorstellbar viele Geschichten. — Das ist gut, sagte der Mann, so viele Geschichten, dass sie im Zug sitzen und schreiben können, so lange sie wollen, ohne je aussteigen und eine neue Schreibmaschine kaufen zu müssen. Vorübergehend schaute er zum Fenster hinaus. — stop
vom schlafen
delta : 4.38 UTC — Ich saß an Deinem Bett, liebe schlafende Mutter, Stunde um Stunde. Immer wieder dachte ich, wie schwer es doch ist, zu einem Menschen zu sprechen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Vielleicht sollte ich summen? Oder doch weiter sprechen? Ich suchte nach einem Text, den ich einmal für Dich geschrieben hatte. Ich dachte, ich werde Dir diesen kleinen Text vorlesen, und wenn ich an seinem Ende angekommen sein werde, werde ich von vorn beginnen. Es geht vermutlich darum, dass Du meine Stimme hörst, nicht darum, was genau ich lese an diesem Morgen, als es noch dunkel war im Haus. Was hörte, was höre ich? Ich höre ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch nähert sich, es kommt über die Treppe abwärts heran. Zunächst ist nichts zu sehen, dann aber eine Deiner drei Brillen, liebe Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen durch die Luft zu bewegen, durch Räume oder den Garten. Deine Brille kommt näher, durchquert das Wohnzimmer, kreist einmal um meinen Kopf, landet schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem Du hoffentlich einmal wieder Platz nehmen wirst. Über drei Brillen verfügst Du, liebe Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wird im Dachgeschoss stationieren, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte Deiner Brillen, liebe Mutter, zu ebener Erde. Wie sie zu blinken beginnen, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels unhörbarer Funksignale orientieren. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut, Du darfst erwachen. – stop
vom erzählen
alpha : 15.08 UTC — Menschen, die in erlebender Art und Weise erzählen, oder aber Menschen, die reflektierend erzählen, distanziert, vorsichtig. Erlebend erzählende Menschen sind sehr häufig schnell und eher wild sprechende Personen. Das Erlebnis verwirklicht sich in der Sekunde, da Wörter in der Luft erscheinen, auch Gesten, Augenblicke. Wie ich mich wunderte, dass erlebte Geschichten sich vor meinen Ohren, wie Lebewesen verhalten, sie werden schneller oder langsamer, wachsen, manche trocknen aus, scheinen zu verhungern, blühen wieder auf. — Einmal, vor genau 10 Jahren, notierte ich das Wort Kurzstreckenerzähler. Woran habe ich gedacht? — stop
wörter
foxtrott : 0.05 UTC — Alle Wörter, sobald ich sie in Gedanken anhalte, um sie Zeichen für Zeichen zu wiederholen, werden zu einem Geräusch: S e h b a h n – stop
im gebirge
delta : 7.55 UTC — Ich träumte von einer Frau, wie sie in einem Haus im Gebirge, dicht an der Sommerschneegrenze, mit geschlossenen Augen auf einem Fahrrad sitzt. Das Fahrrad kann nicht davonfahren, weil sich sein hinteres Rad in der Luft dreht. Die Frau ist von hohem Alter, sie tritt mit zarter Kraft in die Pedale. Indem ich mich nähere, erkenne ich einen Trafo, der Strom erzeugt. Im Zimmer gleich neben der Fahrradstube ruht ein alter Mann auf einem Sofa. Er notiert auf einer elektrischen Schreibmaschine. Neben seinem Sofa steht eine weitere Maschine, sie ist verschraubt mit uralten Dielen, Bienen fliegen durch Astlöcher der Dielen ein und aus. Die Maschine pumpt Luft in die Lungen des alten Mannes. Diodenlichter blinken in blauer und roter Farbe. Kühe schauen durch Fenster in das kleine Zimmer hinein. Glocken läuten. Der alte Mann winkt, ich solle näherkommen, ich wache auf. — stop
tibet
alpha : 8.02 UTC — In einem feinen Gespräch über das Schreiben tauchte plötzlich Dürrenmatt auf, seine Geschichte vom Winterkrieg in Tibet, dort ein einarmiger Söldner, der in einem Tunnelsystem im Rollstuhl sitzend entlang feuchter Wände vor- und rückwärts fährt. Er ritzt einen Textfaden von mehreren Kilometern Länge in die Felswand eines Bergmassives. Ich erzählte von dieser Geschichte, wenige Stunden später war ich mir nicht sicher, ob meine Erinnerung präzise gewesen war. Sofort suchte ich nach dem Buch in meiner Bibliothek, dann erinnerte ich mich, das Buch verliehen zu haben, aber nicht an wen. Wenn ich versuche, mich zu erinnern, gehe ich gern auf und ab. Ich gehe so lange, bis ich ahne, dass ich mich nicht erinnern werde. Kurz darauf sitze ich auf einem Stuhl und plane an etwas anderes zu denken. Es regnet, ein Gewitter, oder es regnet nicht. — stop
kinder
sierra : 10.02 UTC — Im Schnellzug plötzlich präzise wie eine Fotografie vor Augen: Türen in einem Treppenhaus, dort tiefliegende Türspione. Ein Haus einsamer Kinder. Warum? — stop
zweite nachricht von den vasentieren
xylophon : 12.08 UTC — Vasentiere verfügen am Rande ihrer Behälterwanne über zwei Augen einerseits, ein System filigraner Röhren zum Atmen andererseits. Beine haben sie nicht, weil sie stationäre, im Idealfall schwebende Lebewesen sind. Wenn man mich nun fragte, warum Vasentiere in meinem Geist überhaupt existieren, würde ich vielleicht sagen: Nun, weil ich bereits vor längerer Zeit an Vasentiere dachte, auch weil sie sehr nützlich sind, weil sie über das Vermögen verfügen, kleinste Mengen Wassers noch aus trockenster Luft zu gewinnen, weswegen sie sehr gefragt sind, man möchte sie besitzen, um nach Ursachen ihrer erstaunlichen Begabung zu forschen, die vermutlich Bestimmung ist. Indessen wurden Vasentiere in ihrer natürlichen Umgebung auch in großen Höhen angetroffen. Sie sind dort winzig, in Regenwäldern hingegen von erheblicher Größe. Sprechen im Übrigen können Sie nicht, aber denken und hören, weil sie in je spezifischer Weise ihre Augen bewegen, sobald man sie mit Sprache konfrontiert. — stop
11 Uhr 12
auf hoher see
bamako : 15.08 UTC — Ich hörte von einem adoptierten Jungen, der gerne den Nachnamen seiner Nachbarn annehmen möchte. Seine neuen Eltern heißen nämlich Simbarski — Kohleberg, oder so ähnlich, seine Nachbarn Weber. Er selbst heißt Tobias, mit Vornamen, sein ursprünglicher somalischer Name ist unbekannt, er habe ihn, sagt er, vergessen, er wisse nicht warum, sein Name sei irgendwo auf der Flucht verloren gegangen. Später einmal will er Flussschiffkapitän werden. Der Junge meint eines dieser großen Boote, die Passagiere befördern, er will eine weiße Uniform tragen und auf seinem eigenen Schiff zur See fahren. Zurzeit arbeitet er noch als Briefträger, er ist gerade 20 Jahre alt geworden. Er berichtet, dass er in der ersten Stadt, in der er in Europa wohnte, nicht verstanden habe, was Fahrradwege sind, er habe sie für Flüchtlingswege gehalten, während die Einheimischen auf Bürgersteigen spazieren. — stop
sturm
romeo : 15.01 UTC — Im Zug saßen zwei alte Damen, es war Herbst, sie waren unterwegs an die Nordsee, erzählten von Spaziergängen am Strand, von wandernden Dünen, vom Wind, der sehr heftig werden sollte in den Tagen, die sie am Meer verbringen würden. Du bist leicht, sagte die eine Dame zur anderen Dame. — Ja, ich habe noch ein wenig abgenommen. — Vielleicht wirst du davonfliegen? — Ja, ich werde vielleicht vom Sturm erfasst, Du musst mich dann festhalten. — Dann fliegen wir beide davon. Wir sollten unsere Sturmschuhe tragen. — Ja, wir sollten unsere Sturmschuhe tragen. - Während sie sprachen, hielt eine der beiden Damen einen kleinen Hut fest, den sie auf dem Kopf trug, als ob schon ein Wind gehen würde im Abteil. Eine Weile sahen sie aus dem Fenster. Na so was, sagte die Dame mit dem Hut. Wieder sahen sie aus dem Fenster. Wiesen zogen vorüber, es war etwas nebelig draußen. — stop
gespräch
tango : 17.01 UTC — Ich will schnell erzählen, wie ich unlängst mit einer Maschine, während sie meinen Cappuccino zubereitete, gesprochen habe. Ich sagte: Hey, einen Cappuccino bitte. Und die Maschine antwortete: Hey, wird gemacht! Also wartete ich. Indem ich wartete, hörte ich der Maschine zu. Ich vernahm einige plausible Geräusche aus dem Inneren des Gehäuses, außerdem einige Geräusche, die nicht sehr plausibel waren. Das waren Geräusche des Pfeifens oder Singens, Geräusche, die entweder meiner Unterhaltung dienten oder weil sich die Maschine tatsächlich selbst, während sie arbeitete, eine Freude machte. Ich habe schon oft genau so wartend vor genau dieser Maschine gestanden, ich vermute, dass mich die Maschine inzwischen kennt, vielleicht sogar Zeitpunkte, da ich zu ihr kommen werde, also Gewohnheiten meines Lebens. Einmal, als ich den Standort der Maschine erreichte, war mein Cappuccino bereits fertig gewesen. Das ist schon seltsam, nicht wahr, ich begann über Fähigkeiten der Maschine nachzudenken. Kann diese Maschine vielleicht sehen oder vermag sie meinen Duft wahrzunehmen? Dass sie über einen Hörsinn oder über eine spezielle Art eines hörenden Sensors verfügt, steht für mich schon lange fest, weil sie mich begrüßt. Manchmal erkundigt sie sich nach meinen Wünschen. Mein lieber Louis, will sie wissen, einen Cappuccino oder doch etwas anderes Heißes zur Feier des Tages? An diesem Morgen, von dem ich eigentlich erzählen will, ist aber doch etwas sehr Seltsames geschehen. Vielleicht war es der Wind, jedenfalls fiel eine Papptasse aus dem Bauch der Maschine auf einen Vorsatz unter einem Hahn, aus dem bald heißer Kaffee kommen sollte. Die Tasse landete etwas schräg und verharrte in dieser Position. Die Maschine sagte zu mir: Becher bitte setzen. Mein Gott, das war seltsam! Ich dachte, wer nur hat diese Sprache erfunden, möglicherweise die Maschine selbst? Ich streckte meine Hand nach dem Becher aus. In dem Moment, da ich den Becher anheben wollte, spritzte heißer Kaffee auf den Rücken meiner Hand, weswegen ich mit leiser Stimme protestierte. Ich sagte: Verdammt! Die Maschine antwortete: Verzeihung. — stop
licht
alpha : 22.01 UTC — Im Freiluftkino abends jagen Fledermäuse durchs Bild, werden für Sekundenbruchteile vom Filmlicht erfasst, federlose Vögel, hellbraun, rosa, aber blitzende Zähnchen, die ich mir hinzudichte, es geht alles so schnell, dass ich allein Erinnerung wahrnehme, die gestaltet werden kann. Auf der Leinwand uralte riesige Eichen, von welchen Louisiana Moose wehen, wie gefroren. Ein Mädchen sitzt auf einem Ast in großer Höhe, sie trägt ein weißes, knöchellanges Kleid. Auf dem Fluss hinter der Leinwand zieht ein Dampfer vorüber, buntes Glühbirnenlicht, Menschen, die Salsa tanzen. — stop
südlich von marsala
ulysses : 22.08 UTC — Ob vielleicht Unterwasserfernrohre existieren, die Fernrohren der Luft ähnlich sind? Was würden wir sehen? — stop
eine weitere frage
ginkgo : 21.15 UTC — Ein Mensch, der ein Leben lang kopfüber existiert aus anatomischen Gründen. Welche anatómischen Gründe präzise sind zu formulieren? — stop
nasengeschichte
echo : 22.56 UTC — Auf meiner Nase wurde zufällig ein Haar entdeckt, ein Haar für sich, ein einzelnes Haar, kein Bewuchs in dem Sinne von Wald, aber doch eben ein Haar wie ein Baum. Kurz nachdem ich die Meldung von der Entdeckung des Haares entgegengenommen hatte, habe ich das Haar entfernt, kein Schmerz, aber Verwunderung, weil ich doch sehr lange Zeit ohne Haar auf meiner Nase lebte. Ich fragte mich, wie ich dieses Haar übersehen konnte, es soll sich um ein durchaus gut sichtbares Haar gehandelt haben, ein silbergraues Gewächs. Nun also morgens fortan der kontrollierende Blick zu meiner Nasenspitze hin. Eigentlich wollte ich eine ganz andere Geschichte erzählen an einem Tag, da die Börsenkurse stürzen, weil sich der 49. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in einer Weise äußerte, dass man für möglich hält, er könnte Atomwaffen zünden. — stop
regenzeit
alpha : 20.15 UTC — Tiefseetauchbücher, von der NASA zur Prüfung astronautisch Reisender entwickelt, werden ab sofort als Regenbücher gehandelt. Sie sollen sich in tropischen Gegenden gut verkaufen. Haben Sie schon einmal mit E.E.Cummings Selected Poems gebadet, mit Hemingways Fiesta oder Dorothy Parkers The portable? Weitere Werke werden folgen: Homer, Beckett, Carson McCullers. — stop
ein aquarium
tango : 22.02 UTC — Bob erzählt von einem Aquarium, keinem gewöhnlichen Aquarium, vielmehr einem Aquarium, das ihm einerseits gehören, andererseits sehr weit entfernt sein soll, nämlich beinahe auf der anderen Seite der Welt, in Thailand in einem Vorort der Stadt Bangkok in einem Café neben einer Tankstelle mit Garten, in welchem Orchideen auf Bäumen wachsen. Auch Vögel sollen dort im Garten zahlreich leben, und Kinder spielen, weil sich in der Nähe eine Schule befindet. Er selbst, erzählt Bob, sei in diese Schule gegangen, habe Englisch gelernt und Mathematik, gerade in Mathematik soll er gut gewesen sein. Jetzt lebt er also in Europa und besucht eine Universität, um die Sprache der Computermaschinen zu studieren. Das Café, das meiner Mutter gehört, und auch ein wenig mir selbst, läuft gut, sagt Bob, wir können von unseren Einkünften gut leben. Ich brauche ja nicht viel Geld hier, kleines Zimmer. Er holt sein Telefon aus der Hosentasche, tippt ein wenig auf dem Bildschirm herum, dann reicht er mir das kleine, flache Gerät über den Tisch. Schau, sagt er, das ist mein Café, das ist meine Mutter in Echtzeit, es ist gerade früher Morgen, sie bereitet sich auf erste Gäste vor, die kommen bald. Tatsächlich erkenne ich auf dem Bildschirm eine ältere Frau, die auf einem Brett von Holz irgendwelche Pflanzen zerteilt. Bob nimmt mir das Telefon kurz aus der Hand, tippt noch einmal auf den Bildschirm. Nun sind Fische anstatt seiner Mutter zu sehen. Das ist mein Aquarium, sagt Bob, leider nur in schwarz-weißer Farbe. Sie sind ziemlich bunt. Zwei von ihnen habe ich selbst gefangen im vergangenen Winter. Es ist ein Salzwasseraquarium. Gleich wird meine Mutter die Fische füttern. Solange können wir warten. — stop
von taubenschwänzchen
echo : 23.55 UTC — Existiert vielleicht eine Poetik gutmütiger Drohnen? Das sind freundliche Wesen, unbewaffnet, leise, flink, von der Größe der Taubenschwänzchen. Sie verfügen über Atomherzen, begleiten Menschen rund um die Uhr, immer nur eine Person, verzeichnen das Leben dieser Person, ihre Routen, Gewohnheiten, Abenteuer, filmen und schreiben in menschlicher Sprache. 5.12 UTC: Samuel träumt. Going to sleep. — stop
korken
delta : 0.15 UTC — Das waren Zeiten, als wir noch Kinder waren, die unter freiem Himmel mit Flugdrachen spielten. Wie wir durch die Wälder krochen, um Knochen zu sammeln. Ein Bild zeigt mich in kurzen Hosen, wie ich einen Erdapfel über offenes Feuer halte, ich sammelte Briefmarken, Schmetterlinge, Steine und Kronkorken, ließ Seilbahnen über Bindfäden fahren von Haus zu Haus. Heute sammele ich gerne Geschichten von Kiemenmenschen, hölzerne Elefanten oder Marienkäfer, die nachts schlafend an warmen Lampenschirmen sitzen. — stop
leere seite
sierra : 10.22 UTC — Einmal beobachte ich einen Mann, der anhand der Gestalt von Schriftzeichen, die auf Briefumschlägen zu finden sind, Diagnosen erstellt. Er mache das seit vielen Jahren. Zur Betrachtung wird also ein Brief, der zu untersuchen ist, aus einer Box gehoben, um ihn unter das Licht einer starken Lampe zu legen. Der Mann sagt: Die Person, die diesen Brief nach London sendete, war im Moment, da sie ihren Brief adressierte, betrunken. Er nimmt einen weiteren Brief aus der Box: Dieser Brief nach Zürich wurde von einer Frau notiert, die glaubte, ihre Zeit sei abgelaufen. Das hier ist ein ganz seltsames Exemplar, nicht wahr, warum überhaupt jedes Schriftzeichen auf dem Briefumschlag vergessen wurde, können wir erst dann mit Sicherheit sagen, wenn wir den Brief geöffnet haben Erden, schöne Briefmarke. Hier haben wir einen Brief, dessen Adresse nur scheinbar von Hand gesetzt worden ist, bei genauer Ansicht ist Folgendes deutlich zu erkennen: Die Anschrift „To Lady Charlotte Ridlinger, NY, 210 Lexington Avenue“ wurde von einer Maschine gestempelt. — stop
souiga
ginkgo : 6.58 UTC — Lieselotte, die eigentlich ganz anders heißt, erzählte mir gestern im Schnellzug eine berührende Geschichte. Sie sagte, sie habe in ihrem Leben sehr viel Alkohol getrunken, das habe schon zur Kinderzeit angefangen. Sie habe ungefähr vierzig Jahre ihres Lebens in leichten oder schweren Rauschzuständen verbracht. Es existieren Zeiträume, die seien vollständig dunkel, ohne Erinnerung, die kenne sie nur von Erzählungen anderer her, sie habe in diesen dunklen Zeiträumen je keine gute Figur gemacht. Sie besuche nun, da sie abstinent lebe, manchmal Orte, an welchen sie betrunken gewesen war, das Münchener Oktoberfest, beispielsweise, oder die Stadt Souiga an der südlichen Küste Kretas, Manhattan im Mai, Turku. Sie reise herum, um nachzusehen, wie es wirklich ist. Oder die Wieskirche. — stop
swann
tango : 20.10 UTC — Milena erzählt, sie begleite nahe der Stadt Cesena ihre alte Mutter schon seit langer Zeit. Ihre Mutter sei gestürzt, sie habe sich den Kopf schwer gestoßen, habe dann bewusstlos 16 Stunden in ihrem Wohnzimmer gelegen, ehe sie gefunden wurde. Ihre Mutter werde nun über eine Magensonde ernährt, sie werde nie richtig wach, nur immer ein wenig wach, ein blinzelndes Erwachen, ein klarer Blick für einige Minuten, der ihr, Milena, zeige, dass ihre Mutter sie vermutlich nicht erkennt. Dann schlafe die alte Dame wieder ein. Nachdem eine Ärztin ihr empfohlen hatte, mit ihrer alten schlafenden Mutter zu sprechen, habe sie das Sprechen versucht, habe dann aber bald bemerkt, dass das Sprechen mit einer oder zu einer Schlafenden hin, sehr schwierig sei. Sie habe sich wiederholt. Deshalb habe sie in der Bibliothek der Seniorenresidenz nach einem Buch gesucht, das sie ihrer Mutter und vielleicht auch sich selbst vorlesen könne. Da sei sie auf Marcel Proust’s ersten Band der Suche nach der verlorenen Zeit gestoßen. Sie sei im Nachhinein sehr glücklich deshalb, sie lese sehr langsam, sie lese so langsam und so leise wie möglich. Jedes Wort, das auf den Papieren des Buches zu finden sei, werde ausgesprochen. Ihre Mutter schlafe indessen tief, oder aber sie höre zu, das könne niemand so genau sagen. — stop
erwärmung
olimambo : 22.06 UTC — In der 38 Minute des faszinierenden Films Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte erzählt Peter Handke: Heutzutage scheint mir, dass man wirklich nur nachstellt, was eh schon durch Filme, durch Fernsehen und Zeitung eh schon sozusagen ausgespuckt ist. Es muss erfunden werden. Und eine Erfindung ist ganz was Seltenes. Erfinden zu dürfen, zu können, zu sollen, das ist nicht normal. Es ist eine Art von Vision. Ohne Vision gehts nicht. / Der Ludwig Hohl, der Schweizer Schriftsteller, hat gesagt: Fantasie ist nicht Gaukelei, sondern ist die Erwärmung, ich füge vielleicht hinzu — die herzliche Erwärmung des Vorhandenen, dessen, was vorhanden ist. Das ist Fantasie. Und nicht das Storytelling. — — stop / Und Bosnien? Wie ist das gewesen? Wie erzählt und wie nicht erzählt? Ich muss wieder das Lesen lernen und üben. Anmerkung 15.10.2019
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traumgeschichte
foxtrott : 22.02 UTC — In der vergangenen Nacht träumte ich von einem seltsamen Kind, das war nämlich so im Traum, dass das Gehirn des Kindes zu wachsen schien, das Gehirn war in den Ohrmuscheln sichtbar geworden, von einem dünnen Häutchen geschützt, das beinahe durchsichtig gewesen war. Es kitzelt in meinen Ohren, sagte das Kind. Wir saßen in einer Straßenbahn. Ich erwachte. Es war ziemlich heiß am Morgen, als ich erwachte. — stop
zwergseerose no 2
nordpol : 0.02 UTC — Als ich heute Morgen erwachte, knisterte mein linkes Ohr. Das war vermutlich darum gewesen, weil ich auf meinem linken Ohr mehrere Stunden lang träumend ruhte. Für einen Moment dachte ich, meine Ohrmuschel wäre von Papier gemacht. Während ich so lag und lauschte, erinnerte mich an eine Geschichte, die ich in einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West in New York vor längerer Zeit erlebte. Ich erzählte bereits von dem alten Mann, der hinter einem Tresen auf Kunden wartete. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, doch eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. – stop
schirokko
nordpol : 22.08 UTC — Das andauernde Notieren, das bald zum Verschwinden des Notierten führt, fangen, festhalten, besitzen, vergessen. — stop
herbst
marimba : 8.12 UTC — Ich gehe spazieren, wo die alten Menschen wohnen, über Flure, wo die alten Menschen sitzen vor den Türen, hinter welchen uralte Menschen liegen, die in ihren letzten Betten schlafen. Eine alte Dame zieht sich im Rollstuhl sitzend Stunde um Stunde am hölzernen Wandgeländer voran. Wie viele Kilometer ist sie so schon unterwegs gewesen? Ich hörte, sie sei 88 Jahre alt. Wenn sie mir begegnet, lächelt sie wie ein junges Mädchen, fragt, warum sie hier sei, antwortet sofort: Wohl, weil ich alt bin. Auf einem Tisch, um den herum weitere schlafende Menschen sitzen, steht ein Telefon von grauer Farbe mit einer Ziffernwählscheibe. Der Hörer des Telefons schwebt an einer mageren Hand neben einem Ohr, das lauscht. Eine weitere magere Hand wählt Nummer für Nummer Stunde um Stunde. Draußen vor den Fenstern kühler, herbstlicher Regen. Und hier, gleich komme ich an ihm vorüber, das Zimmer der alten Claudine Tulla, sie schläft schon seit zehn Jahren in ihrem letzten Bett. Wie doch die Zeit vergeht. — stop
luftpapiere
alpha : 15.32 UTC — Überall schweben im Sommer Fäden in der Luft herum, Spinnengewebe, auf welchem Romane notiert sein könnten mittels winziger Zeichen. Eine Frau sitzt an einem Tisch und notiert Ovids Metamorphosen auf eine Papierluftschlange. Wie behutsam sie vorgeht, um das Papier nicht zu zerreißen. Kaum ist sie mit der Beschriftung einer der papierenen Strecken zu Ende gekommen, verbindet sie mit einem Tröpfchen Klebstoff eine weitere noch unbeschriftete Schlange. Kurz darauf notiert sie weiter. Sehr feiner Pinsel. Das ist keine erfundene Geschichte. — stop
irrarm
nordpol : 15.38 UTC — Eine alte, ärmlich gekleidete, stets verwirrt wirkende Frau, die mir in meinem Quartier jahrelang immer wieder begegnete, nie hörte ich ein Wort aus ihrem Mund. Als ich sie einmal anspreche, um ihr etwas Geld zu geben, antwortet sie mit heller, kindlich klingender Stimme: Danke! Warum tun Sie das. Warum geben Sie mir Geld? — Ich gehe weiter. Ich drehe mich um, auch die alte Frau dreht sich um, sieht mir nach. In diesem Moment denke ich: Du könntest meine Mutter sein, wärst von der Armut verschont geblieben. — stop
loop
sierra : 22.01 UTC — Flughafen Terminal 1. Ich höre eine sanfte Frauenstimme. Sie sagt: Diese Durchsage dient der Lautsprecherprobe. Zwei Minuten lang wiederholt sie immer wieder diesen einen Satz. Von Mal zu Mal versuche ich Abweichungen in Stimme und ihrem Ausdruck einzufangen. Plötzlich schlafe ich ein, ohne mich an die erste Sekunde, da ich nicht mehr wach war, erinnern zu können. — Was träumst Du, Mutter? — stop
nahe warrenstreet
alpha : 22.28 UTC — Louis erzählte mir eine heitere Geschichte, die er nicht erfunden, vielmehr von Monroe erzählt bekommen haben will, Monroe, die in Brooklyn in der Baltic Street seit fünf Jahren lebt. Sie habe, erzählte Monroe, ihre Freundin Lilly besucht in der Warrenstreet an einem fürchterlich heißen Tag im August. Sie habe Lillys Wohnung betreten und sofort gespürt, dass etwas seltsam ist. Das linke Augenlid Lillys flatterte nämlich wie ein wild gewordener Falter über ihrem Augapfel herum. Dieses Flattern habe nicht aufgehört, sagte Lilly, seit in der Nacht vor drei Tagen über ihrem Bett ein Feueralarmmelder angesprungen sei, ein äußerst strenger heller Ton, der so komponiert worden sei, dass man unbedingt wach werden müsse, weswegen sie sogleich senkrecht im Bett hockte und nach Feuer suchte, aber keinerlei Feuer gefunden habe. Sie habe dann etwas abgewartet, aber das Wesen an der Decke wollte sich nicht beruhigen, da sei sie dann auf einen Stuhl gestiegen und habe das pfeifende, blinkende Tier flugs abgeschraubt, habe versucht, das Tier zu beruhigen, habe Schalter und Knöpfe gedrückt, dann das Tier in einen Pullover gewickelt, eine Decke darüber gelegt, und noch eine Decke, schließlich habe sie ihre Handtasche geöffnet, sei auf die Straße getreten, um zu Fuß in Richtung der Brooklyn Bridge zu marschieren. Indessen flatterte ihr Augenlid noch immer herum wie ein gefangener Falter, weswegen sie sich sehr konzentrieren musste im wilden Straßenverkehr. Das Tier, das in einer Weise in der Handtasche pfiff, dass Seemöwen Lillys Gegenwart flüchteten, habe sie dann in den East River geworfen, was ihrem Auge ganz offensichtlich nicht sofort geholfen habe. — stop
verzeichnen
tango : 2.12 UTC — Ein Gedanke, den ich notiere, der eine Spur von Zeichen hinterlässt. Oder ein Gedanke, den ich gerne behalten, das heißt, festhalten würde, aber nicht notieren kann, weil Notieren nicht möglich, weil es vielleicht dunkel ist, geht verloren oder hinterlässt einen noch tieferen Eindruck, als würde ich ihn auf ein Blatt Papier oder in digitale Verzeichnisse eingetragen haben. Ein Käfer von dunkler, von roter, von gelber, von blauer Menschenhaut, warum? — stop
dilip
ulysses : 15.08 UTC — Ein Brief erreichte mich, der in Kalkutta abgeschickt worden war vor zwei oder drei Wochen. Folgende Zeilen: Sehr geehrter Herr Louis, es hat gedauert, dass ich antworte, weil ich noch sehr klein bin, ich bin erst 12 Jahre alt, ich wohne an der Jessore Road. Dort habe ich einen Brief gefunden, unter einem Feigenbaum bei der Busstation. Der Brief war nicht an mich geschrieben, sondern an Lilifer Mindi. Ich kenne Lilifer Mindi nicht, ich habe die schönen Briefmarken auf dem Brief entdeckt und habe mir gedacht, es ist nicht so weit zu der Adresse wo Lilifer Mindi wohnt, und ich bin mit meinem Fahrrad dorthin gefahren, aber das Haus gibt es nicht, wo Lilifer Mindi wohnt oder nicht wohnt, sie müssen sich geirrt haben. Auch in dem Haus neben dem Haus, das nicht existiert, wohnt Lilifer Mindi nicht, das ist sicher, weil ich gefragt habe. Ich sende Ihnen den Brief zurück, ich habe ihn nicht geöffnet, ich heiße Dilip, vielleicht schreiben Sie einmal einen Brief an mich, weil ich in einem Haus wohne, das es wirklich gibt. Vor meinem Haus wachsen zwei Feigenbäume, hinter dem Haus kann ich Ball spielen, hinten ist das Haus grün, und vorn ist das Haus rot. Wir haben einen Balkon, meine Schwester ist sehr krank, sie sitzt oft auf dem Balkon, weil sie nicht zur Schule geht. Bestimmt können Sie Englisch lesen. Dein Dilip — stop
laufen
delta : 15.12 UTC — Ich mag Menschen, die Verzeichnisse anlegen, die Verzeichnisse beschriften nach geheimen oder nach Regeln, die sofort erkennbar sind. Mein Vater führte Verzeichnisse seiner Wetterbeobachtungen, auch welche Vögel er im Garten beobachtet hatte, wurde akkurat mit Bleistift in Listen eingetragen, Amseln, Meisen, Sperlinge, Zaunkönige und Dompfaffen und Rotkehlchen. Daran erinnerte ich mich gestern, als ich einen Film beobachtete, der von den Vogelbeobachterinnen und Vogelbeobachtern des Central Parks erzählt. Eine alte Dame legt dort ähnliche Verzeichnisse an, wie mein Vater, als er noch lebte. Ich selbst notiere nicht selten, welche Filme ich betrachte, während ich auf einer Laufmaschine laufe, wenn es regnet oder nicht. Unlängst lief ich mit Kopfhörern, folgte Gene Hackman in dem Film French Connection. Zuletzt wurde ich immer schneller in meinen Bewegungen. Anstatt 10 Kilometern, die ich bereits notiert hatte, lief ich 14 Kilometer. Ich radierte im Notizbuch. Es war an einem Samstag gewesen. — stop
shenzhen
nordpol : 15.12 UTC — An diesem heutigen Tag beginne ich zu beobachten, welche und wie viele Informationen meine Schreibmaschine verlassen oder in sie hineingeholt werden, von deren Kommen und Gehen ich nichts bemerke. Das ist nämlich eine sehr seltsame Sache, gestern, während ich im Regen spazierte, wurden von meiner Schreibmaschine 187 Millionen Byte Information lautlos aus der Luft entgegengenommen, ich weiß nicht, woher präzise und warum. Tatsächlich lebe ich in einer beinahe geräuschlosen Schreibmaschinenzeit, auch das Notieren auf gläserner Tastatur ist kaum noch zu hören. Geräusche, zur Erzeugung von Information auf meiner Schreibmaschine notwendig geworden, werden nur in großer Entfernung hörbar gewesen sein, das Rauschen oder Brausen der Server irgendwo an geheimen Orten. Oder das helle Sausen und Heulen der Turbinen in Kraftwerken, die Strom für das Herz meiner Schreibmaschine erzeugen. Das Murmeln einer schlaflosen Arbeiterin nahe Shenzhen. — stop
nach dem zug
echo : 22.02 UTC — Menschen, die glückliche Menschen sind, gehen im Grunde zunächst davon aus, dass sie von anderen Menschen verstanden, präzise, dass sie nicht missverstanden werden, ich meine in dem Sinne, dass Verständigung möglich ist, entweder sofort, auf der Stelle noch, oder mittels einer Nachfrage konstruktive Verständigung letztlich gelingt, sagen wir Zivilisation, die nun auch in Mitteleuropa bedroht wird von Personen, die auf ihr Land stolz sein wollen in einer Weise, die Menschen fremder Sprachen herabsetzt. — Am Marienplatz verließ ich den Zug. Ich stand unter Wartenden, wartete selbst, beobachtete den Bahnsteig, auf dem wartende Menschen sich drängten. Sie standen sehr nahe an der Bahnsteigkante. Als der Zug einfuhr, dachte ich, wäre ich ein Lokführer, würde ich in dieser Situation meine Augen schließen. — stop
echo
whiskey : 22.58 UTC — Wie schwer es ist, Menschen, die sich im Tiefschlaf befinden, vorzulesen oder mit tiefschlafenden Menschen zu sprechen. Kein Zeichen eines Erwachens. In dem Moment, da ich bemerke, dass ich nicht weiß, ob sie mich hören, wird mein Versuch, Gehör zu finden, zu einem Selbstgespräch, das schmerzt, einsame Stimme. — stop
von kevin und liesl im zug
tango : 22.52 UTC — Ich hörte, er heiße Kevin. Er sagte, er sei ohne Dach über dem Kopf. Auch im Sommer oder im Herbst sei das Leben nicht leicht, im Sommer habe er viel Durst, im Herbst fürchte er sich vor dem Winter. Er würde gern seine Geschichte erzählen, warum er so arm geworden sei, dass er keine Wohnung habe und nichts zu essen. Wenn Kevin spricht, ist seine Stimme wunderschön anzuhören. Es ist eine Stimme, die gut singen könnte, ein Tenor vielleicht. Nur das mit Kevins Geschichte ist so eine Sache, ich höre Kevins Lebensgeschichte seit Anfang des Jahres im Morgenschnellzug zum Flughafen immer wieder. Ich sollte sagen, Kevin erzählt täglich eine andere Geschichte, er ist im Grunde ein guter Erzähler, und auch ein guter Erfinder. Im Winter erzählt er Wintergeschichten, im Sommer Sommergeschichten. Gestern wurde Kevin von einer jungen, mageren Frau begleitet. Sie war sehr schmutzig. Kevin erzählte ihr, dass ich ihm manchmal etwas Geld geben würde oder eine Brezel, auch dass ich aufschreiben würde, was er berichte. Sie setzten sich neben mich. Die junge Frau sagte: Wenn man träumt, ist man im Inneren wach und warm. Am Flughafen stiegen beide mit mir aus. Wir sprachen eine halbe Stunde. Der Bahnhof war wieder einmal undicht. Regen kam von der Decke. Das Licht war teilweise ausgefallen, an den Wänden saßen ein paar dicke Kröten. Sie schnappten mit armlangen Zungen nach Tauben, die über den Bahnsteig segelten. Ich hörte, das Knochengespenst an Kevins Seite soll Lieselotte heißen, sehr seltsam dieser Name für eine recht junge Person. Ich erfuhr, dass sie Literaturwissenschaften in London studierte, sie mag gern lesen, aber sie komme nicht dazu, weil sie das Bild ihres Vaters in sich trage, der immerzu betrunken war, ein schmerzendes Bild, das hell vor ihr leuchte. Ich weiß jetzt, Bilder eines betrunkenen Vaters zu verdunkeln, erfordert ungeheure Kraft und Ausdauer. Lieselotte kann deshalb seit einem Jahrzehnt nicht schlafen. Sie mag Kevin, der so schöne Geschichten erzählt, dass sie beide von seinen Geschichten ein wenig weiterleben können. Es ist jetzt Abend. — stop
schaukel
marimba : 20.16 — Ohrenkäfer, das sind Käfer, die ohne Ausnahme in den Kronen der Ohrenbäume leben, weswegen die Existenz der Ohrenbäume von diesem Moment an äußerst wahrscheinlich geworden ist. stop. Leichter Regen. stop. Was ist nun zu tun? — stop
ein name fern und nah
echo : 18.55 — Im Schnellzug saß eine junge Frau. Als der Zug längere Zeit halten musste, kamen wir ins Gespräch. Die junge Frau sagte, dass sie bewundere, wie schnell ich auf meiner Schreibmaschine mit den Fingern tippen könne. Sie erwähnte, dass sie in Sri Lanka geboren worden sei, aber schon lange in Europa lebe. Tatsächlich hörte ich kaum einen Akzent in ihrer Stimme. Ich fragte sie nach ihrem Namen. Welchen ihrer Namen ich wissen wolle, erkundigte sie sich, ihren europäischen, den Namen ihres Mannes, der sich mit einem Bruchteil ihres Geburtsnamens verbunden habe, oder eben den Namen ihrer Kindheit? Mit einer scheuen Handbewegung rief sie meine kleine flache Schreibmaschine zu sich herüber, nahm sie in ihre linke Hand und begann mit ihrer rechten Hand Zeichen um Zeichen zu tippen. Sie sagte: Ich schreibe ihnen, wie ich in Sri Lanka als unverheiratete Frau gerufen wurde. Vorsichtig berührte sie mit einer Fingerspitze die Tastatur auf dem Bildschirm, es dauerte lange Zeit, ehe sie fertig geworden war. Immer wieder schien sie ihren Namen zu prüfen, ob auch alles stimmte. Kurz darauf las sie mir ihren Namen vor, ein schönes Geräusch in meinen Ohren. Dann gab sie mir meine Schreibmaschine zurück und ich buchstabierte meinerseits Folgendes vorsichtig nach: Malvala Sri Brahmana Rinnayaka Tannkoan Mydiuanselage Langt Mahehika Tannkoan Sanatonga. Es war an einem Donnerstag gewesen, gegen 18 Uhr. — stop
wörter verschwinden
marimba : 15.03 — Ich weiß nicht, ob wahr ist, was Martha erzählte, dass sie sich nämlich sehr sorgfältig vorbereiten müsse, um ein Buch oder in einem Buch zu lesen. Sie habe nämlich bemerkt, dass sie Bücher, Texte, nicht zwei Male zu lesen vermag. Sie könne, sagt sie, Zusammenhänge eines Textes während einer zweiten Lesung nicht wieder erkennen, nur einzelne Wörter oder Satzteile. Auch Texte, die selbst notierte, seien verloren. In dem Moment, da sie einen Text notiere, würde sie bereits ahnen, dass sie selbst diesen Text nie wieder verstehen wird. Sie schreibe also niemals für sich selbst, es sei denn, sie schreibe mit geschlossenen Augen. — Das ist doch sehr merkwürdig. — stop
tagwesen
nordpol : 16.15 — Es ist tatsächlich vermutlich so: Nachtmenschen kommen morgens die Tage wie erwachende Lebewesen entgegen, manchmal als geschmeidige, leise, rücksichtsvolle Persönlichkeiten, ein anderes Mal als Bestien, schrill, glühend, tosend. — Nichts weiter. — stop
schlafende
sierra : 15.02 — Ich hörte, sobald Menschen zu schlafen beginnen, sobald sie sich in Langzeitschläfer verwandeln, verschwinden schrittweise jene Menschen aus ihrem Leben jenseits der Träume, die nur selten schlafen, nur für Stunden nachts. Oder aber die Schlaflosen kehren an die Betten der Schlafenden zurück, weil sie hier in den Schläferzimmern sitzend zur Ruhe kommen. Manchmal schlafen selbst die Ruhelosen unter ihnen an den Betten der alten Menschen ein. Wie wunderbar die Herbstbaumlampen leuchten. — stop
nachtwärts
charlie : 11.08 — Im Schnellzug hörte ich vor Wochen, wie eine Frau von der geistigen Umnachtung ihrer Freundin erzählte. Sie sprach von Zeitlosigkeit, es sei dort in ihrer Wahrnehmung, in der Wahrnehmung der Freundin, immer dieselbe Zeit, gleich ob Tag ist oder Nacht. Sie sagte noch, ihre Freundin spreche kein Wort. Wollte ich fragen, wie sie ob der Stummheit ihrer Freundin derart genau Bescheid wissen konnte, aber da war sie schon ausgestiegen am Sportfeld. Seither kehrt das Wort Umnachtung immer wieder zu mir zurück. stop. So nimmt man für den ausdruck der trauer, der inneren verwüstung, der umnachtung des geistes die farbe der nacht. Hegel w. (1832) — stop
dreiundzwanzigste etage winter
ginkgo : 8.28 — Ich träumte, nachts auf dem Balkon eines Hotels über der Eighth Avenue zu spazieren. Es war Winter, weit unter 0 °C in New York. Heftiger Wind wehte harte Schneekristalle über den Boden des Balkons. Ich war leicht bekleidet, war ohne Schuhe, war aus einem Fenster gestiegen, wollte kurz Aussicht nehmen auf den Hudson River. Da fiel das Fenster hinter mir geräuschvoll ins Schloss. Ich gab keinen Laut von mir, wusste, dass mich niemand hören würde, ich befand mich auf dem 23. Stockwerk, die Zimmer neben meinem Zimmer standen leer. Aber da war noch ein Stuhl aus Plastik. Ich dachte, dass ich 1 Versuch haben würde, oder mit etwas Glück 2 Versuche, das Fenster zum gewärmten Zimmer mittels dieses leichten Stuhlwerks einzuschlagen. Gerade als ich den Stuhl anhob, um ihn gegen das Fenster zu schleudern, bemerkte ich eine Drohne, die sich langsam näherte. Sie blinkte. So dicht kam sie heran, dass ich meinte, sie mit meinen Händen berühren zu können. Ich erinnere mich, dass ich mehrfach das Wort H E L P mit Lippen und Augen formulierte, außerdem faltete ich meine Hände. — stop
jui patel
echo : 10.12 — Einmal erlebte ich einen älteren Herrn, den ich immer wieder erinnere, beinahe jedes Mal, sagen wir, wenn ich bewusst Fliegen beobachte. Dieser Herr nämlich nannte jede der zahlreichen Fliegen, die auf ihm selbst oder in seiner Nähe durch die Luft turnten, beim Namen. Ich hörte eine Weile zu, dann holte ich meinen Schreibblock aus der Tasche und begann die Namen der Fliegen zu notieren. Das waren wunderbare Namen, eine sehr lange Liste, Namen vermutlich, die in genau dem Moment, da sie an eine Fliege gerichtet würden, erfunden worden waren. Ich zitiere: Line Jacobsen . Nameer Burini . Jui Patel . Zollai Janos . Isabell Weber . Yvetta Cemohorsta . Alois Szeg . Bent Lauritzen . Katja Sally Innes . Vili Luksha . Abraham Vele . Magla Sellal . Sabiba Lu. — stop. Nichts weiter. — stop
nachts
romeo : 5.22 — Es war Nacht und ich hockte in meiner Küche und schälte sehr langsam einen Apfel. Kurz darauf hörte ich ein raschelndes Geräusch, dessen Ursache sich in meinem Kühlschrank aufzuhalten schien. Ich wartete einige Minuten. Zunächst wieder Stille, dann erneut ein raschelndes Geräusch. Unverzüglich öffnete ich die Tür zum kühlen Raum, der hell beleuchtet war. Wie ich so auf einem Stuhl im Licht meines Kühlschrankes saß und wartete, dass sich dort etwas Unbekanntes zeigen möge, das Geräusche verursacht, begann ich damit, das sichtbare Gut im Schrank zu befragen, die Marmelade zum Beispiel, ein Gläschen voll Aprikosengelee, ob es denn möglich wäre? Oder der Senf, die Feigen in ihrer Feigenbox, Butterwaren. Aber auch das italienische Brot rührte sich nicht. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick der Kühlschrankbeobachtung an ein Kind, das immer wieder einmal die Tür eines längst verschwundenen Eisschranks aufriss, um nach der Dunkelheit zu sehen, die angeblich verlässlich eintreten sollte, sobald die Tür des Kühlschrankes geschlossen wurde. Ich legte mich dann wieder ins Bett. — stop
ein taucher
nordpol : 10.12 — Ich hörte, auf Grönland soll in einer Siedlung nördlich des Polarkreises ein Mann existieren, der trainiert wurde, in Walfischkörpern zu tauchen. Sobald sorgfältigste Untersuchung eines gestrandeten Tieres notwendig werden sollte, würde jener Walfischtaucher unverzüglich zur Arbeit gerufen. Ich stelle mir vor, wie der Mann in einen Neoprenanzug gehüllt, mit einem flachen Sauerstoffgerät ausgerüstet, einer starken Lampe, zwei äußerst scharfen Messern, sowie einem angespitzten Helm ausgerüstet, am Strand ruhende Leichname besucht, die möglicherweise noch warm sind. Ein fast lautloser Vorgang. Der Taucher verschwindet vollständig, arbeitet sich Zentimeter um Zentimeter schneidend durch den Körper voran. Vielleicht wird seine Stimme zu hören sein, eine Funkstimme, die bisweilen meldet, dass er sich gut fühle, dass er das Herz des Wales bald erreichen werde, das ist denkbar. — stop
polarlicht
nordpol : 0.01 — Irgendwann einmal würde ich gerne folgende Meldung notieren: Zoologischer Garten auf Grönland jenseits des Polarkreises eröffnet. Selbstverständlich wird es sich bei diesem arktischen Tierpark nicht um eine gewöhnliche Versammlung lebender Tiere handeln. Im Park dort, frei oder in Gehegen, werden vielmehr leuchtende Tiere wohnen, schimmernde, oder in allen wunderbaren Farben, die man sich auszudenken vermag, glühende Wesen, ihre Zellen nämlich werden glühen. So werden leuchtende Antilopen unter der Kuppel des Afrikahauses über künstliche Steppengräser springen, und leuchtende Menschenaffen durch das Geäst der Nachtbäume schwingen. Und da werden leuchtende Vögel sein und ebenso leuchtende Elefanten in ihren riesenhaften Volieren. Auch die Eisbären werden leuchten und die Seehunde und Robben und Schneefüchse. Es ist deshalb gut, dass in der Polarnacht immerzu Dunkel ist. Der zoologische Garten wird rund um die Uhr geöffnet sein, warum nicht! — stop
elefanten in der schnellbahn
foxtrott : 10.28 — In einem Schnellbahnzug beobachtete ich einen Mann, wie er von Abteil zu Abteil wanderte, um auf Streckenpläne des Verkehrsverbundes die Silhouette je eines Elefanten aufzubringen. Er führte deshalb Bögen selbstklebender Folien mit sich, in welche Formen hunderter kleiner Elefantenkörper eingestanzt worden waren. Ich fragte den Mann, wer ihn beauftragt habe. Er antwortete, dass er selbst sich den Auftrag erteilt habe, dass er schon sehr lange Zeit den Wunsch verspürte, Wohnorte der Elefanten in der Stadt zu vermerken. Er habe gespart, jetzt schreite er zur Tat. Einige Strafanzeigen habe er bereits entgegengenommen wegen Sachbeschädigung, das war deshalb gewesen, weil Elefanten zwar im Zoologischen Garten, aber nicht im Nymphenburger Schloßpark wohnhaft sein sollen. Genau dort habe er indessen nicht selten Elefanten beobachtet, wie sie fürstliche Wälder durchstreiften. Nun, sagte der Mann, ich bin doch nicht verrückt. — stop
halsposaune
alpha : 15.12 — Es ist Freitag. Seit einer halben Stunde verharrt der Hilfspolizist Thomas Liebermann an der Zentralstadion vor dem Gleis 8 vollkommen bewegungslos, weil ihm ein kleiner Mann begegnet war, der über Fähigkeiten verfügte, die Herr Liebermann nicht vorhersehen konnte. Es war nämlich so gewesen, dass er diesen kleinen Herrn kontrollieren, das heißt präzise, den kleinen Mann aus der Halle des Bahnhofes entfernen wollte, weil der kleine Herr sehr ärmlich gekleidet war und außerdem schmutzig und verletzt durch eine Wunde an der linken Wange, die nicht gut, vielmehr äußerst schrecklich wirkte. Sie bewegte sich nämlich, etwas in der Wunde bewegte sich. Nun ließ sich der kleine Herr, der einen schäbigen, blauen Koffer auf den Boden abgestellt hatte, nicht bewegen in Richtung des Ausganges zu gehen. Er sah Herrn Liebermann stattdessen mit einem festen Blick entgegen, weil er der festen Überzeugung gewesen zu sein schien, dass er sich nicht oder nicht auf Befehl hin auf den Weg machen würde hinaus in die Kälte. Kurz darauf öffnete der alte Mann seinen Mund. In diesem Augenblick erkannte Hilfspolizist Thomas Liebermann, dass er etwas Außergewöhnliches erlebte. Denn in den Rachen des Mannes tief im Schlund war, nunmehr sichtbar, der Klangtrichter einer kleinen Posaune eingelassen. Von dort her war unverzüglich ein sonorer Ton zu hören, der die Halle erbeben ließ, sowie Herrn Liebermann in einen Zustand der Erstarrung versetzte. Das war vor einer halben Stunde gewesen, aber das erzählte ich bereits. Auch drei Tauben ließen ihr Leben. — stop
pappelkarminköder
alpha : 10.12 // A 4 J Y v D e 2 x H Q x L Y L T q T 2 M I j W X o D N s A w 9 l n Q s H X q O R v v l F 4 O e T k J X r w g 1 n F T + Q l e 7 z R 3 p L q 1 l p c R 5 I X f 8 A 1 h s B Z G p O Z 0 N T P N t 7 T 6 W g L D P m c + s s i H t 5 Q B Z H H e 0 R d N t E O y f 9 y D 2 b z z 5 S Y b m f 7 A e 4 D + d 4 o 6 u b T K A e z E 5 r J s T 8 X z T 9 q E X g M 6 U + 6 5 Q 1 q c n P k W V + o M c R n n 1 s S v u C J R V O 0 4 L Y r m g l U Z D M + 4 u i w e o 4 4 7 + X k c 9 E + N V V D W H D U v 3 w q z G d K L S J x D J w 0 + C o Q o B j z X L M Q Q e N y l h b U l O X W A X K f s 9 y b T 8 j B u 0 0 + c i T Z + a z g u G G Q 2 g O z l c 5 o c f A 2 1 0 7 M A u N r L 2 7 Z O j I 4 U C k D n B f Z y l 2 U 2 7 c Q Y 8 L B 5 t B P 5 x f F j t A n C c Q 9 9 P B 5 d b n I d u v 2 Z h 8 6 d Q S + h d w q 8 Z x A y v j S c A o O k Y E 9 p E 0 A R S k 0 X N S V u E L a X v O S p t S s U I w d I 5 o m I s H Y j I W E 1 + B O 0 6 Z k v 8 y Q 2 4 W K H C x S + Z k R T J 0 u 8 O i q 2 Q K v p J v Q t j g j E z z K v e S O x L 1 B W 5 V b E f R j D f o 6 j w E S e e R b 5 Y x G Z f V 3 4 N 9 + L g X I c 1 6 I K 6 u T l j V T L h Q T S 9 v D r Q P W h m 5 f e p C v 5 b v B 1 l 8 C e G i 7 A Q y i F s k m S j W j v U P 8 G 1 Z V + O i 0 S W N O 4 N s n E L 8 p r S N y p p q 0 8 q q O X a 1 J d T U Q n L 3 e D g k Q 6 k b b i 8 x Y 2 v v n D U m x Y d D D t U F p A w t B D b E + L 3 W b X 0 3 r m n f f T b H I K M N L i r Y s J p n P 7 i z 3 s Y R I J P K B T w + u A w H E g + e p I l j B t B f C k h H h c S 2 r y 0 / 0 0 L 7 2 t 5 n C z T j 0 8 f 9 b N r Z F B r F 7 k C N M l C f 3 K p U j C 2 A 7 H + 1 o j e u O s s S 1 U V R L D H l V l D 6 6 r 8 d o 8 t L j 9 k Y u O M M 2 2 I q c z v E Q W R 1 o P a 0 i t s i Z 5 V f y d E f y G O K t B c I h 8 S r w r C F M eZ + z W W 5 M + J M c E z 6 Q M 4 J TQ k V V b 5 Q X 4 Y h f j U u h e e L E c P z F p a T J L A x t X L w Y g R t S y w 0 a j C T m m k z 8 A u I P + I d e k t X i 9 4 W 5 A u x n Y L E f 2 f W 6 S M Y l n b 5 a 3 B x q + o Y a y t + n U V a T o W 1 o A E c a e Y B I x V I J R b t 6 4 A n K N 5 t 0 2 Z q E 2 e x k R J 7 n Z e B 3 I D I c T u o w b 9 H p f o p G B Q x c L X + u o d ka u 6 h y h C M W b 2 1 S S o f h V p P o W I p H s L X Y s U Y E m U V L Y U v o K q Y 5 L + e c w V g 3 f j t y n 6 1 R g 0 z Q x i z p W L e a L X 8 m S e H q X b g q b o 9 M m z R z j O i B p g w 5 7 t M d r 5 i g A T J 3 + R l T g +z f x A u x Y c x F 6 w m y S + C E R z G P Z h y y k 2 s 2 Y t X J g o 7 T C L K k P T E W 6 G t C w t M 6 B 8 V l j n a P b z s B C F K W m y o f s I f u 5 S W x M D R e 0 tY Q g A X C P a N B e x g w p 3 3 X To 1 I Q u E F V i Q 1 O w h o h W p W u N l D mb k s I h d L a A c 1 s U v g A 8 D r Q + 2 6 5 x B 8 f D d F n n 3 1 9 M k C E 9 o X w l K y C 7 H 5 i X 1 B t o i w x v E H 7 H C p F c Z m 9 3 n X w 5 x 3 2 9 D Y H I p B j E w G Z v c 1 S Q c P s s 5 C c v z G M O 4 K k 4 s R s u r Z h C J O K 7 z 4 4 d G z S Y b b O X F i v N R E 0 A J E B z W S l + l D W t 5 1 1 T + D t J e 6H f t y w N U 3 R a s h p A Z Z i Q w p a I I 4 U 2 g p T X k O n 1 4 0 D M Q R s A x E R m L n E H j 1 B + 9 C g V 9 K k z v f A b T + m C Y P I i R u b W w j X G Z U D Y 1 A q F 8 q p e 0 M 4 3 h d Z 9 N t 6 4 Y 1 6 J q T 6 O w 5 y F q 6 E O R F 7 w I 1 G C e o A + m 5 q z m I J X h M U J h Q I O y E g p I X l j P w n U 0 r h I g C t m H X F B c O q w N 7 Y 4 e 4 T m l j 2 X 2 Z 8 T S e k 9 j 6 4 + V H 8 C K Q u p g H 4 + k 6 T 3 i u q e h 6 I V M u F u O L Y t Q d T U v Q w g 3 0 i b k W 6 0 w u S U u M 1 l T y N u C n T 6 j V f V L 6 f VU s 0 t a 0 C w n e S O S Q Z 3 3 + F H L 0 H X L n X 1 7 C p H b q R n K f + T n 5 l T 0 1 k l U l 6 G X n S + g Xj b n 5 c k 3 o V U s B I c j y p 6 8 L t 6 d h T K 1 6 w z W q 4 C + I S L v x A d r G J N V + O H j M z c Q K w S n m Y d K y Da+ Y 7 B + Q i q B c n g T M D l V 7 f f 8 Z M z f Z 1 R M f G a W y D o S r O 9 X r r S G Z H c s P L Y o u F q W M + F Z e R x f + t k F p M 0 D r W m t 8 F q h t Z F L n x V b b k r w r c R o I U 0 B 1 a 2 d M b 0 b 7 a Z Q f e X e k q l z x D f N v 9 M m r p Q 8 k A + J r + 9 + s T 2 P l 3 Z me J q 0 t o L 1 D + S x g l N L N 3 J t 5 9 T K P S U O W U j b g j 3 R Y q j c t T R a j V y v r 6 C F y F H t R z b H q J 2 E + q F 1 L F S P i 8 V z P w Q p V q 9 p r 3 I 7 q c x r X X X V 7 g s g a 2 5 7 S Y E 6 V G j f o f s 0 r g h L 6 N 6 k U F 2 l D w w + m v v K + f t d f e j 6 p b H J v m X 5 W 2 K v a w 8 E v b k E Y n I f t o f 5 a O E D N K i O R u E F Z m 2 x b 4 g K K D t k J u S G J K 3 q U R w H z W I T D L g p U f d Z d N x v 3 2 K l p P d r 0 y F u 7 9 c G G c q p v T t b k p I w 4 A h U 4 L 8 R F 4 U 2 i 0 X g M m F q F e s T U p H R C L z e i s o v J 8 f r w 6 n z I l Q P X 8 c r C K J z q W y j a J V T Q B C z o v c t p v B F F i 6 9 8 g r 0 Q x e b z m W 0 V O w Z P H e u B A z t 4 H T L C w P r Y z t C s 2 4 b J M l w G v P 7 I 6 1 K B v K 3 f Q F b g h q j 7 o Q = l i l l i p u t f m i O 0 G X U 1 K 9 n k G s E h T 5 S V E 3 C 0 e z I V D p i W W Q c z n M g s 7 S T B Z 4 P m r d e u d P U m 4 R vD O q v 1 p U z / M R c i i N d C h k 1 8 U p P G 8 O n A c P 4 V R R Z g p + C f f c 7 t / H Y I S A d B n 4 T e l + Z a P l J A 1 I k 9 k P S B 2 T R P U C 1 N f E x 0 G J + T W o 0 Y m 3 X u x m 9 M d v M j n P A U B J f P z Q o M 8 l N C 6 q 7 6 C U t G i 0 l L n 0 p 4 L Z F O F k K D 5 t p 2 b m 7 L T W H l a H J F i A d K 9 Q Z M t L T i B 4 M g n W V 6 a Y c s 9 e i 7 z p G q a F 1 P 1 t P W Q C + I s c 3 n b D K A 7 S B p S o 8 t C v n G T a i s B w n k 1 U v Y = / — stop
vom stempelwald
alpha : 22.10 — Andrej erzählte, er habe beobachtet, wie er, sobald er in Gedanken versunken arbeite, die Welt der Zeichen auf Papieren mit der Welt der digitalen Zeichen auf Bildschirmen in unmittelbare Verbindung setze. Sobald er lange Zeit auf einem Bildschirm mit den Werkzeugen der Bildschirme an einem Text gearbeitet habe, würde er, wenn er sich Zeichen auf Papieren zuwende, den Versuch unternehmen, auch dort Wörter, zum Beispiel mittels dehnender oder ziehender Bewegung zweier Finger zu vergrößern, oder aber Wörter durch Berührung zu unterstreichen oder aber auszuschneiden, was zunächst ungeduldige, sogar heftige Wiederholung seiner Gesten zur Folge habe, bis er endlich begreife, dass er sich an gestempelten Wörtern versuche. — stop
abendkerne
delta : 18.52 — Ob vielleicht Ohren existieren, deren Hörvermögen so fein ist, dass sie in der Lage sein könnten, die Geräusche arbeitender Rechenkerne zu vernehmen? — stop
im schatten
ulysses : 20.02 — Vergessen wie verstecken, oder aber löschen, für immer vergessen, oder nicht dran denken, also wissen, dass etwas da oder nah ist, an das ich nicht denke. — stop
von hohen frequenzen
sierra : 16.02 — Vor dem Rollstuhl, in dem die alte Dame hockte, kniete ein Mädchen im Alter von 6 Jahren. Die alte Dame erzählte dem Mädchen eine Geschichte. So leise war die Stimme der alten Dame geworden, dass sie kaum noch zu hören war, manche der leisen Wörter waren nur in Gedanken zu vernehmen, waren Vermutung. Je mehr der Vermutungen sich in den laut ausgesprochenen Wörtern der Erwachsenen, die links und rechts des Rollstuhles stehend, in gebückter Haltung lauschten, aneinander reihten, desto strenger wurde der Blick der alten Dame, sie schien unzufrieden, vielleicht sogar verzweifelt zu sein. Plötzlich sagte das Mädchen: Ihr hört nicht richtig zu! Die Tante sagt, dass sie an Weihnachten immer den Gottesdienst in der Kirche St. Paul besuchte. Sie sagt gar nichts über das Wetter morgen. Unverzüglich begann die alte Dame zu lächeln. Sie winkte das Mädchen zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ja, sagte das Mädchen, das stimmt, ich kann hervorragend hören, ich glaube, ich kann auch Fledermäuse hören, wenn sie bei uns im Garten herumfliegen. Die alte Dame flüsterte etwas Weiteres in das Ohr des Mädchens, sofort stand das Mädchen auf und schob den Rollstuhl der alten Dame auf den Flur hinaus. Im Flur vor einem Fenster hockte eine weitere alte Dame in einem Rollstuhl, sie schien zu schlafen. Schnee fiel vor dem Fenster, dichte, große und sehr runde Flocken. Bald saßen nun zwei alte Damen Seite an Seite in ihren Stühlen. Und das Mädchen ging vor den Damen in die Hocke. Sie weckte die schlafende alte Dame und sagte mit ihrer hellen Stimme: Du, du wolltest heute Morgen meiner Tante etwas erzählen. Ich bin jetzt ganz Ohr! — stop
tod in peking 7
marimba : 0.48 UTC – Einmal, vor sechs Jahren im Winter, begegnete ich dem Fotografen und Programmierer Teddy in einem Supermarkt. Wir waren etwas verlegen gewesen, wussten in jenem Moment vor kühlen Milchflaschen stehend nicht, worüber wir sprechen sollten, weil wir wenige Tage zuvor noch ein besonders schwieriges Gespräch geführt hatten. Ich erinnere mich, von Hinrichtungsbussen erzählt zu haben, die durch China fahren sollen, von Gefängnis zu Gefängnis. Teddy sagte, er habe von diesen Bussen nichts gehört und nichts gelesen. Er war damals gerade aus Peking zurückgekommen, von einer Reise nach Tibet, präzise. Er sagte: Louis, warum erzählst Du mir diese Geschichte? Ich sagte: Nun, weil ich sie weiß! Was ich nicht ahnte zum Zeitpunkt unseres Gespräches, nun aus der zeitlichen Entfernung wie ein Ereignis für sich zu sehen, ich ahnte nicht, dass Teddy kurz darauf sterben würde. Vielleicht, wenn ich von seinem Tod gewusst hätte, hätte ich nicht von Hinrichtungsbussen erzählt, sondern eine ganz andere Geschichte, eine Geschichte, die von seinen wunderbaren Fotografien berichtet. — stop
funkendes buch
zoulou : 20.02 UTC – Letzte Nacht träumte ich von Françoise Sagan. Sie stürmte im Traum wie eine Furie in mein Arbeitszimmer, stellte sich auf einen wackeligen Holzstuhl und begann in höher gelegenen Reihen meines Regals nach einem bestimmten Buch zu suchen. Indessen zeterte sie unfreundlich, dieser elende Roman Ulim Triers funke aus meinem Arbeitszimmer seltsame Sätze, die nun überall in ihren Romanen sichtbar oder lesbar geworden seien, als wären sie von ihr, der Sagan, persönlich geschrieben. Ich versuchte die alte Dame zu beruhigen, überhaupt sah sehr gefährlich aus, was sich vor meinen Augen ereignete. Sie trug ein schneeweißes Hemdchen, das ihr bis zu den Knien reichte, spindeldürr war sie und zitterte, auch der Stuhl unter ihren Füßen zitterte. Ich flüsterte: Ich kenne keinen Schriftsteller namens Ulim Trier. Ach, Papperlapapp, antwortete Françoise Sagan, Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von diesen Büchern, die sich überall einmischen. Schlafen Sie weiter. Also schlief ich sofort ein und bin seither nicht wieder wach geworden. — stop
eine schreibmaschine : tasten
delta : 8.26 UTC – Vor langer Zeit beobachtete ich meinen Vater, wie er seine mechanische Schreibmaschine zerlegte, um sie zu säubern und zu ölen. Gestern habe ich diese Scheibmaschine in einem Regal wiederentdeckt. Das war ein intensiver Moment des Vormittages gewesen, nachmittags hörte ich in einem Zug eine fremde Sprache, ich verstand kein einziges Wort, und doch schien mir die fremde Sprache vertraut zu sein, als hätte ich sie einmal gekonnt. Sind mechanische Schreibmaschinen für jede existierende oder gewesene Sprache dieser Welt vorstellbar? — stop
indien
alpha : 8.52 UTC – Einmal plante ich, nach Indien zu reisen. Ich forschte nach Kleidung, die wochenlang nicht gewechselt werden muss, Hemden, Hosen, Schuhe, die alles das von sich weisen, was sie von innen oder außen her verschmutzen könnte. Dann noch ein ebenso reinlicher Rucksack auf dem Rücken, eine Schreibmaschine, allerlei Kärtchen, eine Zahnbürste. Ich würde gern mit einem Zug nach Indien fahren. — stop
von den wörtern
marimba : 14.14 UTC — Mit den Menschen verschwinden ihre Schriften. Manchmal verschwinden Schriften vor den Menschen. Es ist dann, wenn man sich nicht länger vorstellen kann, die Hände der Menschen würden sich je noch einmal derart bewegen, dass Buchstaben auf einem Blatt Papier sichtbar werden. Aber die Wörter, die nicht mehr geschrieben werden, könnten noch einmal formuliert worden sein, leuchtende Wörter wie das Wort Apfelstrudel. — stop
waldbus
delta : 18.01 UTC — Einmal spazierte ich an einem frostigen Tag im Schnee unter dem Papierlichthimmel, als ich auf einer Lichtung im Wald stehend im Unterholz einen Bus von gelber Farbe entdeckte. Der Bus war da und dort von Moos bedeckt, auch von Blättern der Buchen, die in seiner Nähe wuchsen. Auf der Haube des Motors lag ein halber Meter Schnee, in der Mitte dieser Mütze von Schnee ein kreisrundes Loch, dessen Rand vereist zu sein schien. In dem Moment als ich mich gerade herumdrehen wollte, um weiterzugehen, beobachtete ich eine Blaumeise, die sich dem Bus näherte, sie verschwand im Schnee. Kurz darauf landeten ein Rotkehlchen sowie ein Dompfaff auf der Motorhaube des Busses und tauchten auf demselben Wege wie die Blaumeise unter. Ich ging zurück und spähte in das Innere des Busses, ein erstaunlicher Anblick. Es war an einem späten Nachmittag gewesen. — stop
=
linie 8
echo : 10.06 UTC – Nächste Haltestelle Max-Weber-Platz. Ich hab Weiß Ferdls Gesang noch im Ohr, wie er die Geschichte erzählt von der Linie 8, die durch München fährt zu einer Zeit, da ich noch nicht geboren worden war. Wie oft habe ich diese Aufnahme als Kind vielleicht gehört? Die Stimme des alten Münchner Kabarettisten ist mir heut Morgen vermutlich deshalb ins Gehör geraten, weil ich Informationen einer modernen Straßenbahn zuhörte, einer Stimme präzise, die von einem Computer erzeugt wird: Bitte in Fahrtrichtung rechts aussteigen. Diese Stimme, wie sie mir bewusst wurde, scheint sich bereits in viele weitere Städte fortgesetzt zu haben, es ist eine weibliche Stimme, die auch komplizierte Straßennamen zu formulieren vermag. Manchmal dehnt sie Wörter in einer seltsam unbeholfenen Art. Das hört sich an, als würde eine Schallplatte für einen Moment beschleunigt, dann wieder abgebremst. Auch Kinder hören zu, oder Menschen, die soeben die deutsche Sprache lernen. Vielleicht, stelle ich mir vor, werden sich in dieser Weise beständiger Wiederholung nach und nach jene unbeholfen klingenden Sentenzen der Straßenbahnansagen in unsere alltägliche Sprache schleichen. Das ist denkbar. Ich muss das beobachten. — stop
im dunkel
romeo : 12.05 UTC – Plötzlich war Dunkel geworden, der Himmel bedeckt, Strom ausgefallen, stockfinster. Viele Stunden Zeit vergingen. Ich saß auf einem Stuhl, den ich ertastet hatte, und wartete, dass das Licht zurückkehren möge. Es muss bald Vormittag geworden sein, aber noch immer dunkel, eine Dunkelheit, als wäre sie gemalt. Auch im Kühlschrank kein Licht. Ich weiß, nicht, wie ich auf die Idee gekommen war, im Kühlschrank könnte noch etwas Licht zu finden sein. Ich öffnete das Eisfach, Wasser stürzte heraus und etwas Weiches, daran mochte ich nicht denken, also machte ich den Kühlschrank wieder zu und kroch zurück zum Stuhl. Ich dachte, dass ich unbedingt sofort etwas Licht finden müsste, um sicher zu sein, dass ich nicht erblindet war. Auf den Knien arbeitete ich mich in Richtung der Wohnungstür, erreichte das Treppenhaus, hörte eine Stimme. — stop
ein regenschirm
marimba : 22.03 UTC – Vor einer Woche erzählte mir José, er trage schwer an dem gläsernen Auge, das er rechts neben seiner Nase in seine Augenhöhle eingesetzt bekommen habe. Es sei nicht das Gewicht selbst, sondern vielmehr die Erfahrung eines Unfalls, eines Stolperns, die ihm sein Auge gekostet habe. Auf der Treppe sei er einerseits gestürzt, anderseits unglücklichst kollidiert, mit seinem Regenschirm in der Hand. Er habe in den Minuten nach jenem entscheidenden Ereignis kaum einen Schmerz verspürt. Er glaube, der Schmerz sei so groß gewesen, dass sein Geist ihn aus sofort dem Bewusstsein gesperrt haben muss. Er höre noch immer den Schrei seiner Frau, als sie ihn sah. Nun ist das so, erzählte José, da springst Du ein Leben lang in der Welt herum und denkst nicht eine Sekunde daran, dass Du ein Auge verlieren könntest. Und jetzt wiege das Gewicht seines gläsernen Auges deshalb so schwer, weil er sich vor einem zweiten gläsernen Auge fürchte, er würde in diesem Falle über kein weiteres Auge verfügen, es wäre dann dunkel, und er wisse doch aus eigener Erfahrung präzise, dieser verdammte Regenschirm, erzählte José. — stop
22 Uhr 5
alpha : 22.02 — Seit einer halben Stunde das Wort K i e m e n t u l p e in meinem Gehör, warum? — stop
eine alte schreibmaschine
alpha : 22.02 — Dachte wieder an eine Schreibmaschine, an eine besondere Schreibmaschine, an meine digitale Schreibmaschine, die jedes Zeichen, das ich notiere, im Moment der Speicherung in eine Hieroglyphe verwandelt, sodass ich schreibe einerseits, also einen Text speichere, anderseits nicht sofort wiederholend lesen kann, was ich für mich oder andere aufgehoben habe. Schreiben. Denken. Auf dem Wasser laufen. Eine vernünftige, das heißt, eine gute Schreibmaschine, ist nach wie vor mit dem Internet niemals verbunden. — stop
loop
foxtrott : 22.15 UTC – In einem Aufzug habe ich heute etwas Merkwürdiges erlebt. Ich wurde nämlich verdächtigt, mittels meines persönlichen Zeigefingerabdrucks gewisse Vorteile erzielen zu können. Der Aufzug erkennt sie, sagte eine empörte Frau, die überzeugt gewesen war, der Aufzug hätte eigentlich nach oben, wie von ihr gewünscht, nicht nach unten fahren dürfen. Die Frau hielt in diesem Augenblick ihrer Rede eine Schere in der Hand, sie war überhaupt miserabel gelaunt. Ich überlegte, ob ich ihr nicht eine Geschichte zur Beruhigung erzählen könnte, eine sehr kurze, spannende, eine überzeugende Geschichte. Ich lächelte sie an, atmete tief ein und aus, als ich bemerkte, dass mir keine Geschichte einfallen wollte, außer diese Geschichte selbst. Ich sagte also: Stellen Sie sich vor, ich habe heute in einem Aufzug etwas Merkwürdiges erlebt. — stop
marimba
von wörtern von ohren
sierra : 18.28 — Es donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, summet, brummet, rumpelt, quäkt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röcheln, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispeln, keuchen, es kocht, schreien, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöken, wiehern, schnarren, scharren, sprudeln. Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr. — G.C.Lichtenberg / stop
time
sierra : 18.32 — Das seltsame Leben der Uhren, ihre Erscheinung, oder die Geschwindigkeit, in welcher sich ihre Zeiger oder Ziffern bewegen. Immer wieder die Frage, ob Uhrwerken nicht doch zu misstrauen ist. Gerade Funkuhren scheinen Persönlichkeiten zu sein, sie laufen, ich habe das mit eigenen Augen beobachtet, manchmal rückwärts. Und so stellte ich mir vor, eine Uhr zu verwenden, um eine andere Uhr zu kontrollieren, oder mehrere Uhren einer Umgebung, in der Hoffnung, dass sie sich gleichmäßig verhalten. Diese Überlegungen sind Orten verbunden, die niemals mit Tageslicht in Berührung kommen, Räume, in welchen 28 Stunden dauernde Tage längst denkbar geworden sind. — stop
früh wenn die vögel
india : 6.28 — Ich erinnerte mich an diesem schönen Morgen in der Schnellbahn an einen Mann, der in Afghanistan geboren wurde. Noch ein Junge, flüchtete er bald nach Europa. Als ich ihn kennenlernte, war er Ende zwanzig. Wie ich ihm nun wieder begegnete, sah ich einen grauhaarigen Mann, der noch immer fürchterlich stotterte, obwohl er doch unbedingt sprechen wollte. Ich glaube, es war der Krieg oder was er erlebte während seiner Flucht. Noch immer derselbe ängstliche Blick, aber ein fester Händedruck. Er heißt Nuri, und er fährt jeden Tag zur Arbeit mit dem Zug seit 32 Jahren. Sehr früh fährt er los, zu einer Zeit, da schlafe ich noch tief, da denke ich noch gar nicht daran, wach zu werden, so früh. Es ist die Zeit, da die Vögel aufstehen und singen. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights / 3
sierra : 5.12 UTC — Es ist Samstag und ich habe gerade eine Meldung gelesen, die mir ein Programm meines Particles-Servers sendete, es habe nämlich ein Mensch, der nahe oder in Washington D.C. leben soll, einen Text besucht, der von Raymond Carver erzählt. Ich las meinen Text nach längerer Zeit wieder einmal mit älter gewordenen Augen. Und ich dachte mir, dass ich im Grunde nicht sicher sein könne, ob ein menschliches Wesen meinen Text in der Weite des World Wide Web entdeckte, oder ob eine Maschine mein Particles besuchte, die einer Spur von Schlüsselwörtern folgte. Der Text, der am 12. Dezember 2014 notiert wurde, geht so: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
brummkreisel
zoulou : 18.34 — Einmal den Versuch wagen, all das, was ich an dem einen Tag dachte und wünschte und schrieb und sprach, an dem darauffolgenden Tag in präzise entgegengesetzter Weise zu denken, zu wünschen, zu schreiben. Warum? — stop
vom fehlenden oder ginkgo
echo : 20.58 UTC – Notierte auf der Schreibmaschine im Zug und sah gar nicht hin, nicht auf den Bildschirm, nicht auf meine Hände. Ich schrieb eine halbe Stunde voran, ich schrieb schneller und immer schneller, ich dachte, da war einmal ein Mann gewesen, mit einem Kinderwagen ohne Kind auf einem Bahnsteig am Flughafen. Weil ich mich wunderte über seinen Kinderwagen ohne Kind, beobachtete ich den Mann. Das war eine seltsame Sache, ich schrieb: Wenn man sich über eine Person wundert, kann man nicht loslassen, man kann nicht sagen, ich beobachtete diese Person bereits gestern, heute beobachte ich diese Person nicht noch einmal, man wird bemerken, man folgt der Person mit den Augen, ob man nun will oder nicht. Ich hatte den Eindruck, es handelte sich bei dem Mann um eine melancholische Person, um einen Vater vielleicht, der am Flughafen auf ein Kind wartete, das nicht ankommen wird, weil das Kind längst getötet wurde von einem Stück Metall, welches in Aleppo durch die Luft schleuderte von einem Vorsatz getrieben, nämlich dem Vorsatz Menschen umzubringen. Dann plötzlich betrachtete ich meinen Bildschirm und bemerkte, dass der Buchstabe g meiner Tastatur nicht funktionierte, dass den Wörtern der Buchstabe g fehlte, sobald er eigentlich in Wörter hineingeschrieben werden musste. Also schüttelte ich meine Schreibmaschine so lange, bis sich die G‑Taste meiner Tastatur aus ihrer Blockade löste, ich las meinen Text von vorn und fügte fehlende Buchstaben in die Wörter ein, sodass der Text selbst bald vollständig geworden war. — stop
im schatten
lima : 0.55 UTC – Ich betrachtete in der Schnellbahn einen Mann, der schlief. Dunkler Bart, dunkle Haut, auch dunkle Augen, ich kenne diese Augen seit Monaten, manchmal sind sie geöffnet. In diesem Moment denke ich, hier, an dieser Stelle, gleich welchen Pass der Mann in seiner Tasche tragen wird, er wird ein Fremder bleiben in den Augen anderer, auch vielleicht in meinen Augen, das ist denkbar. Was ist zu tun? — stop
einmal
india : 2.43 UTC – Kürzlich erzählte ich eine lange Geschichte nur deshalb, um kurz darauf mit sparsamen Worten erklären zu können, weshalb ich meine Telefonnummer und meine Adresse unbedingt verheimlichen möchte. — stop
vom meer
marimba : 2.43 UTC – Soldaten, die nicht fallen, vielmehr vollständig verschwinden, sobald sie von einem Geschoss getroffen wurden. Auch zivile Menschen. Zivile Menschen verschwinden unter Gebäudetrümmern oder in Flammen oder Meeren, weil Meere groß und weil sie tief sind. Wie viele Menschen sind im Monat März in dieser Weise ohne Nachricht verschwunden. — stop
taliban light
romeo : 7.55 UTC — Im Traum wurde ich von einer Taliban-Gruppe gefangen. Ich verfügte weder über Gepäck noch Papier, hatte keine Stifte. Ich fragte nach einer Schreibmaschine. Wir wanderten durch sandiges Gebiet. Einmal hielten wir an, ich wurde befragt, ich antwortete nicht korrekt, wurde mit leichten Hieben auf meine Fußsohlen bestraft. Das sei erst der Anfang, hörte ich, zuletzt würde ich ohne meine Füße weitergehen. In einem kleinen Laden in einer Höhle entdeckte ich ein Regal mit Büchern in deutscher, französischer, englischer und russischer Sprache. Man erklärte, wenn ich eines der Bücher kaufen würde, würde man mir das Buch sogleich wieder abnehmen und zurückstellen ins Regal. Da waren im Traum noch Skorpione mit blauen Augen, die vorzüglich schmeckten. — stop
vor dem radio
himalaya : 18.55 UTC – Ich stelle mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen oder an welchen ich drehen könnte. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich könnte das Radio öffnen. Als ich das Radio öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik zu spielen beginnt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
ruhen
kilimandscharo : 18.55 UTC – Kopfsegel, wunderbares Wort. Oder das Wort Coka. Kopfsegel existierten tatsächlich lange Zeit, ehe ich das Wort entdeckte, eine Bezeichnung durchbluteter Strukturen an Köpfen der Stirnbaseliken. — stop
im park
nordpol : 0.52 UTC – Im Park hockte ein junger Mann auf einer Bank. Auf seinen Knien ruhte ein Buch. Ich bemerkte bald, dass der junge Mann, anstatt zu lesen, das Buch zerlegte. Er ging in dieser Arbeit sehr sorgfältig vor, legte ein Lineal auf eine Seite des Buches, fuhr kurz darauf mit einem feinen Messer die Kante des Lineals entlang, trennte also mit einer vorsichtigen Handbewegung eine Seite von der Bindung des Buches, legte die Seite neben sich auf die Bank und beschwerte sie mit einem Steinchen, dass er zuvor mit eben der Hand, die gerade noch das Messer führte, angehoben hatte. Eine Seite nach der anderen Seite löste er in dieser Weise aus dem Körper des Buches heraus, gleichmäßige Bewegungen, als sei ihm die Arbeit der Zerlegung eines Buches vertraut. Es war ein windiger Tag gewesen. — stop
8 Uhr 36
alpha : 20.36 UTC — Wann wurde das Wort Nilgans zum ersten Mal von einem menschlichen Mund formuliert? Oder das Wort Ohrfeige? Oder das Wort Chlorgas? — stop
hidschab
charlie : 22.25 UTC — Einmal erzählte M., sie trage ein Wollhäubchen unter ihrem Kopftuch. Dass M. mit einem Mann, der weder mit ihr verwandt noch ihres Glaubens ist, über ihr Kopftuch sprach, war vielleicht deshalb möglich geworden, weil wir jahrelang immer wieder einmal über amerikanische Filme diskutierten, M. ist nämlich eine hervorragende Kennerin des amerikanischen Kinos, aber sie will niemals natürlich dorthin nach Amerika reisen, eine seltsame Geschichte. Ihre Kopftücher, die allesamt farbenfroh sind, seien gewöhnliche Tücher, sagte M., 90 × 90 cm. Ich dürfe sie niemals ungefragt fotografieren, das sei ähnlich wie ihr die Hand zu geben, ich darf ihre Hand nicht ergreifen, sie reicht mir die Hand, wenn sie mir die Hand geben will, sie habe nicht eigentlich ein Problem damit, mir die Hand zu geben, es darf aber niemand beobachten, der über sie deshalb urteilen würde. Burka, sagte M., das gehe gar nicht, man kann eine Burkaträgerin nicht fotografieren, nur die Burka. Ja, dass M. mit einem Mann, der weder mit ihr verwandt noch ihres Glaubens ist, über ihr Kopftuch noch immer spricht, ist vielleicht deshalb möglich geworden, weil wir uns seit derart langer Zeit begegnen, dass ich ihr Kopftuch nicht mehr bemerke. — stop
haus ohne türen
india : 0.15 UTC – Ich träumte von einem Haus ohne Fenster, ohne Türen. Die Zimmer des Hauses waren von strahlend hellem Licht. Das Licht kam aus dem Boden, den Wänden, von der Decke. Auf dem Boden kauerte ein Mann. Der Mann schien darauf zu warten, dass es endlich wieder dunkel werden wird. Seine Augen waren entzündet. Er stand auf, suchte nach einem Schalter, um das Licht zu löschen. Vögel lebten in den Zimmern des Hauses, Hunderte winzige Vögel. Sie flogen herum, ohne jemals zu landen. Wenn der Mann einen der Vögel fing, war er sofort gebraten, er dampfte in seinen Händen, das Gefieder löste sich wie von selbst vom Leib und fiel zu Boden. — stop
prozedur
kilimandscharo : 20.02 UTC – Am 1. Mai, stelle ich mir vor, wird Mr. Hemingway (Name erfunden) seine Schreibmaschine zerlegen, um jedes ihrer Einzelteile zunächst zu säubern, zu betrachten und in feine Maschinenöle zu tauchen. Eine zeitaufwendige Prozedur, größte Sorgfalt wird geboten sein, denn die Schreibmaschine ist kostbar. Schon der Großvater, ein äußerst gebildeter Mann, soll auf ihr notiert haben, weshalb sie sozusagen mittels der Zeichen, die sie auf allerlei Papiere drückte, weit in der Welt herumgekommen war. Wie nun präzise, frage ich, wird Mr. Hemingway seine Schreibmaschine in ihre Einzelteile zerlegen, wie wird er vorgehen? Vielleicht, indem er zunächst einen Plan entwickeln wird, der einzelne Schritte der Zerlegung (Demontage) derart verzeichnet, dass sie später einmal in rückwirkender Art und Weise nachvollzogen werden könnten (Montage). Sehr viele Schräubchen, Tasten, Zahnräder werden zu berücksichtigen sein, 328 Teile insgesamt. Würde nur eines dieser Schräubchen, Tasten oder Zahnräder, zu Boden fallen und verschwinden, wäre es um die Schreibmaschine geschehen, aus und vorbei. Eine riskante Geschichte. — stop
brooklyn : february house
nordpol : 23.56 UTC — Wenige Wochen vor einer Reise nach New York brach ich mir den rechten Arm. Das ist jetzt bereits einige Jahre her, der komplizierte Bruch ist gut verheilt, ich kann ohne Beschwerden wieder mit der Hand notieren. Damals aber waren meine Bewegungen ungelenk, ich schrieb wie ein Kind mit großen Buchstaben. Einige dieser Zeichen entdeckte ich am späten Abend in Carson McCullers seltsamer Erzählung Die Ballade vom traurigen Café. Auf der Seite 52 des Buches hatte ich zwei Wörter vermerkt: February House. Ich erinnerte mich, dass ich damals den Entschluss fasste, einer Spur der Dichterin in New York zu folgen. Ich schrieb um Wochen verzögert und noch immer unter Schmerzen: Weil ich nur sehr schwerfällig mit der Hand in mein Notizbuch schreiben kann, notiere ich während des Lesens, indem ich in Gedanken wiederhole, was zu tun ist in den kommenden Stunden. Nachforschen in der digitalen Sphäre. Wo genau, in welcher Straße, in welchem Haus wohnte Carson McCullers in Brooklyn? Ist denkbar, dass die junge Dichterin tatsächlich drei Wochen benötigte, um das Subway-System der Stadt New York verlassen zu können? Oder suchte sie in ebendiesem Raum der Zeit nach ihrer Wohnung, die sie nicht wieder finden konnte, weil sie mittellos und ohne genauere Ortskenntnis in einem U‑Bahnwagon zurückgelassen worden war. Wie viele Dollar kostete eine Flasche Whiskey im Jahr 1934? Wie viel ein Taxi? – Wenn ich in Gedanken notiere, wiederhole ich dreifach, was ich mir zu merken wünsche. Verlorenes, das könnte sein, bemerke ich nicht. Oder nur einen Schatten ohne Wörter. — stop
0.22 utc
delta : 0.22 UTC — Eine mechanische Schreibmaschine, die die chinesische Sprache zu buchstabieren vermag, soll über etwa 3000 Zeichen verfügen und 16 Kilogramm schwer sein. Eine wundervolle Vorstellung. Wie lange Zeit würde ich für Zeichensuche benötigen, um auf ihr das Wort Belugaposaune zu formulieren? — stop
nicht atmen
nordpol : 18.15 UTC — Heute ist ein glücklicher Tag. Der Wind rast ums Haus, nur noch wenige Stunden Zeit, Aprilwind zu sein. Und diese Bleistifte, die heute angekommen sind, so spitz und hart, wie ich sie mir kaum vorzustellen traute. Um 17 Uhr und drei Minuten erreicht mich die Nachricht der Bibliothek, Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet seien eingetroffen, ich könnte sie abholen bis 18 Uhr, also dann am Mittwoch. Wie bin ich auf Robert Walser gestoßen, nach langer Zeit? Nun, weil ich vor wenigen Tagen einen Mann in der Schnellbahn beobachtete, der mit einer Lupe einen Zettel studierte, auf dem Schriftzeichen zu erkennen waren, so klein, dass ich nicht vorzustellen wagte, ein menschliches Wesen könnte sie von Hand auf das Papier aufgetragen haben. Der Mann schien sehr müde gewesen zu sein, und ich dachte: Ein Mensch, der in dieser Weise schreibt, schreibt leise, warum? — stop
von grammophonen
marimba : 18.52 UTC — Einmal gehe ich im Traum eine Straße spazieren. Da und dort Warenhäuser und Läden, schön warm beleuchtet, seltsamerweise ohne Ausnahme Schallplattenläden. Grammophone sind zu erkennen, ganz alte Kisten. Plötzlich kommt mein Bruder auf einem Fahrrad vorbei, kurz darauf Vater im Rollstuhl sehr kraftvoll. Er leuchtet vor Begeisterung, diese Geschwindigkeit, er ist ungeheuer geschickt mit seinem Stuhl. Der Rollstuhl ist von Kirschbaumholz, er blüht. Bald sind Vater und Bruder in einer Seitenstraße verschwunden. — Kurz nachdem ich erwacht war, erzählte ich Mutter meinen Traum, er gefiel ihr. Jetzt sitzt sie selbst im Rollstuhl. Wenn dieser, ihr kleiner Rollstuhl doch nur blühen würde, es ist Mai, sie trägt einen Sommerhut und schläft. — stop
°^°
india : 20.05 UTC — Morgens in den Schnellbahnen pfeifen Mobiltelefone als wären sie Menschen. Das ist sehr wirkungsvoll, ich hebe, obwohl ich es besser weiß, fast immer den Kopf. — stop
von magnetbändern
lima : 0.06 UTC — Einmal, vor langer Zeit, traf ich einen Freund. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Wir saßen in einem Café im botanischen Garten. Mein Freund erzählte von der Seefahrt als junger Mann in Maschinenräumen, von himmelblauen finnischen Winternächten, Polarlichtern, Kerzen. Seine Traurigkeit an diesem Tag, weil er einsam geworden war, weil er sein eigenes Altwerden spürte. Er erzählt von den letzten Tagen seiner Frau. Wie sie aufräumte in der Wohnung, wie sie Bücher beschriftete, dann wieder ins Krankenhaus, in Sicherheit, aber ohne zu viel Morphium, um nicht einzuschlafen. Die letzten 30 Stunden war sie dann doch bewusstlos gewesen. Einmal sprach sie wunderschöne Sätze für ihn auf den Anrufbeantworter, die er versehentlich löschte. Auf Magnetbändern, 30 Jahre sind sie alt, finden sich Aufnahmen, das weiß er genau, der Cembalistin, aber es fehlt das Abspielgerät dazu. Es geht mir ans Herz, wie ich den alten Mann in Richtung einer blühenden Kastanie davongehen sehe. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich mit seiner Geliebten noch unterhalte, und er sagte, irgendwie schon, es ist virtuell, es kommen keine Antworten. — stop
nachtuhr
india : 0.06 UTC — Diese eine Minute in der Nacht. Ich stehe in der Diele im Licht und schaue auf meinen linken Arm. Ich meine, eine Uhr zu erkennen, die sich unter meiner Haut befindet, eine winzige Uhr mit einem blauen Zifferblatt, es ist dort kurz nach 2 Uhr. Ich bin überzeugt, diese Uhr noch nie zuvor gesehen zu haben. Ich gehe in die Küche und schreibe im Halbschlaf auf einen Zettel: Nachtuhr suchen. Dann schlafe ich wieder ein und finde am Morgen auf dem Tisch neben Äpfeln und Bananen meine Notiz. Seltsame Geschichte. Ob vielleicht Uhren dieser Art existieren, tauchende Uhren. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Bald wieder schlafen. — stop
zwischenschirme
marimba : 0.10 UTC — In Augenblicken erzählen, ein Augenblick nach dem anderen Augenblick. Wie Blinzeln. — stop
wolkenserver
tango : 8.32 UTC — Ich stellte mir einen kleinen Vogel vor, so groß vielleicht wie eine Fruchtfliege mit einem Plutoniumherz, ein Geschenk der Eltern an ein Kind, eine Aufzeichnungsmaschine, federleicht, welche das Leben des Kindes begleitet, verzeichnet, was das Kind unternehmen wird in seinem Leben, was es notieren und sprechen, wohin es reisen, wie gut oder schlecht es schlafen wird. Ein Leben aus nächster Nähe, zuverlässig aufgenommen und gespeichert in einem Wolkenserver. — stop
vom gehör
romeo : 0.12 UTC — Ich stelle fest, ich habe zwei Ohren. Mit zwei Ohren schon bin ich zur Welt gekommen. Meine Ohren hörten demzufolge von der Welt, noch ehe ich angekommen war. Ich hörte von der Welt da draußen, und ich hörte, so wurde erzählt, das Herz meiner Mutter schlagen, das war nicht fern. — Erstaunlich. — stop
ramin
charlie : 7.55 UTC — Theodor erzählte, er sei mit einem jungen Mann befreundet, der in Isfahan im Iran geboren wurde. Er heiße Ramin und lebe seit zehn Jahren in Europa, einmal für vier Jahre in Rom, dann zwei Jahre lang in Genf, immer an der Seite seiner Eltern, Mutter wie Vater Sprachwissenschaftler. Zurzeit nun lebt Ramin in Hamburg. Volljährig geworden, wollte er im vergangenen Jahr, im Winter präzise, nach New York reisen, ein großer Traum, einmal über die Brooklyn — Bridge spazieren hin und zurück, leider habe er keine Einreiseerlaubnis erhalten. Das könne länger dauern, habe man ihm gesagt, dass er nicht einreisen könne, er solle sich keine Hoffnungen machen, es handele sich um eine politische Entscheidung, er sei gefährlich geworden von einem Jahr zum anderen Jahr. Seither erfindet Ramin die Stadt New York, indem er kleine Geschichten über sie notiert. Er hatte bemerkt, dass ihm Freude mache, Filme, die in New York aufgenommen worden seien, zu inspizieren. In China Town nahe dem Collect Pond Park habe er angefangen, von dort aus arbeite er sich weiter nordwärts voran von Straße zu Straße, sammle Fotografien, Ansichten der Google Earth Anwendung, so entstünde eine Art Spaziergang, hochauflösend, nordwärts in Richtung Central Park. Er mache sich gewissermaßen ein Bild aus Bildern oder sehr kurzen Filmen, und irgendwann werde er dieses Bild überprüfen, wie es riecht, sobald er persönlich nicht mehr gefährlich sein wird. — stop
seite zweiundfünfzig
himalaya : 0.10 UTC — Ich entdeckte ein Algebra-Buch meines Vaters, in dem er arbeitete, als er noch jung gewesen war. Das Buch war ein Buch, das im Grunde aus einem weiteren Buch bestand. Mein Vater hatte nämlich zahlreiche Bemerkungen an den Rändern der Buchseiten hinzugefügt, auch Zettel waren da dort eingelegt, Ziffern, Zahlen, Wörter, die ich nicht lesen konnte, weil sie, mit einer sehr kleinen Schrift, mit einem spitzen Bleistift in das Papier eingeritzt worden waren. Ich holte aus seinem Schreibtisch, der noch immer auf ihn zu warten scheint, eine Lupe und folgte den Zeichen eine Weile. Da stieß ich auf eine Bemerkung, die ich entziffern konnte: Paulinchen 8557345. Natürlich ist diese Geschichte vollständig erfunden. — stop
haus no 178
romeo : 20.33 UTC — Wie viele Male bin ich bereits an dem Büro im Parterre des Hauses No 178 vorüber gekommen, es müssen hunderte Male gewesen sein. Ein Mann sitzt dort hinter einem Fenster, der im Licht einer Lampe und eines Bildschirmes arbeitet, ohne je seinen Kopf zu heben, wenn ich an ihm vorübergehe. Andere berichten das Gleiche. Und das ist doch seltsam, er scheint an dem Leben auf der Straße überhaupt nicht interessiert zu sein. Nie wendet er den Kopf, als sei er fest verschraubt, als sei auch seine Wirbelsäule verankert in dieser Haltung geradeaus auf einem Stuhl, der gleichwohl nicht beweglich ist, sodass der Mann weder freiwillig noch mit Vergnügen so vor dem Tisch sitzen wird, sondern weil er nicht anders kann. Und weil das so zu sein scheint, wird der Mann vermutlich über Radare gebieten, die ihm ermöglichen zu wissen, wer an seiner Tür vorüber kommt. Er weiß nämlich immerzu genau, wer kommt und wieder verschwindet, vermutlich kann er sehr gut riechen oder aber er kann sehr gut hören, kann mit den Ohren sehen. Er irrt sich, wie ich hörte, nie. — stop
vom korallenmund
delta : 0.27 UTC — Ein anatomisches Herzatoll könnte aus der Sicht eines Notierenden von folgenden Riffen umsäumt sein: Herzahnung . Herzsonde . Herzentnahme . Herzöffnung . Herzreise . Herzlernen. Oder: Ein Gedanke zunächst, dann ein Wort, ein erstes Wort, ein Satz, ein erster Satz. Dort herum wachsen weitere Gedanken, langsame Tage, Tage des Sammelns, langsame Nächte, Nächte des Wartens, Land entsteht, Land, auf dem sich’s leben und erzählen lässt. Zeichen für Zeichen, das Wachsen eines Korallenmundes. stop. Später Abend. Gewitterhimmel. Wolken spazieren über die Straße. – stop
von sekunden
alpha : 6.01 UTC — Ich bleibe stehen. Es ist früher Morgen. Was höre ich? Was lässt sich denken? — stop
ponge
alpha : 20.05 UTC — Die Gegenstände eines Menschen berühren: Einen Stuhl, einen Schreibtisch, einen Füllfederhalter, einen Löffel. Ich erinnere mich, in Francis Ponge’s Kiefernwald lagen weder botanische noch geografische Bücher. Oder einen Schal, ein Fieberthermometer, einen Handschuh, ein Salzfässchen, ein Buch, eine Postkarte, einen Kamm, einen Herzschrittmacher, eine Teetasse, eine Schreibmaschine, einen Fotoapparat. Ein Haar — stop
aleppo
ginkgo : 22.15 UTC — Ich erinnere mich, wie ich als Kind an Geräuschen der Luft zu unterscheiden vermochte, ob ich einer singenden Amsel lauschte oder einer Meise, einer Lerche, einem Rotkehlchen. Ich hörte, Kinder, die in Aleppo leben oder lebten, sollen in der Lage sein, sehr genau zu unterscheiden, um welche Art Munition es sich handelt, die nachts ihre Betten, ihre Lager, erschütterte, welche Flugzeuggattungen sich am Himmel befinden, das Kaliber detonierender Granaten zu erraten. Sofern sie überlebten, haben sie die Vögel noch zu lernen oder wiederzufinden, vielleicht in Buchenwäldern. — stop
moskau
tango : 22.01 UTC — Am 4. August 2014 ereignete sich eine seltsame Geschichte, Sie werden sich vielleicht erinnern? Vor einem Schalter am Zentralbahnhof stand damals eine alte Dame. Sie trug ein blaues Hütchen auf dem Kopf, war grell geschminkt und lachte. Auf den ersten Blick schien sie fröhlich zu warten wie ihr kleiner Koffer, der gleich neben ihr stand. Auf den zweiten Blick war allerdings zu sehen, dass sie nicht nur wartete, sondern vielmehr bewacht wurde von einer weiteren, sehr viel jüngeren Frau und einem Mann, der die Uniform einer Bahngesellschaft trug. Wie Säulen standen sie links und rechts der alten Reisenden, die junge Frau hatte überdies die Handtasche der Bewachten an sich genommen, um sie zu durchsuchen. Eine ihrer Hände wühlte so heftig in der Tasche herum, dass ein Rascheln weithin zu vernehmen war. Sie forschte ein oder zwei Minuten in dieser wilden Art und Weise. Weil sich aber in der Börse der alten Dame kein Dokument zur Identifizierung aufspüren ließ, schüttelte sie den Kopf, beugte sich noch einmal herab, sprach leise zu der zierlichen Erscheinung hin, um sich kurz darauf an einen Schalterbeamten zu wenden, der hinter spiegelndem Glas auf einem Bürostuhl saß. Dieser Herr nun führte kurz darauf ein Mikrofon an seinen Mund, eine warme, melodische Stimme war zu hören, die durch die Bahnhofshalle schallte, sie sagte: Achtung! Wir bitten um ihre Aufmerksamkeit, vor dem Informationsschalter Gleis 24 wartet ein Personenfundstück. Melden Sie sich! — Diese Geschichte ereignete sich kurz bevor der Fernzug aus Moskau via Warschau den Bahnhof erreichte. Auf dem Bahnsteig warteten viele Menschen. Manche hielten Blumen in ihren Händen. Andere fotografierten. — stop
∼
ulysses : 22.01 UTC — h i b i s c i l l i
giudecca
himalaya : 4.52 UTC — Eine digitale Apparatur berichtete mir heute, irgendjemand, ein Mensch, der möglicherweise in Kolumbien wohnt, habe einen particles – Text auf seinem Bildschirm vorgefunden. Ich frage mich, wie dieser entfernt lebende Mensch mit den Archiven meiner notierenden Arbeit in Verbindung gekommen sein könnte. Ein Zufall, das ist denkbar. Oder ein Irrtum? Wie lange Zeit wird mein Text, der im Mai 2008 aufgeschrieben worden war, dort auf einem Bildschirm lesbar gewesen sein. Plötzlich las ich meinen Text in einer Weise, als verfügte ich über fremde Augenpaare: Vielleicht kann ich, wenn ich an das Meer in den Straßen Venedigs denke, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbjahreswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Gewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop
tasmanien
echo : 22.15 UTC — In den Magazinen eines Briefmarkenhändlers entdeckte ich kürzlich einen besonderen Brief. Der Brief war mit Postwertzeichen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens versehen, eine nicht übliche Art der Frankierung. Weiterhin war der Brief an eine weibliche Person adressiert, wohnhaft in einer Stadt, die überhaupt nicht existiert: 85, Teatree-City / Tasmania. Unter dieser handschriftlichen Ortsangabe nun fand sich eine filigrane Buntstiftzeichnung, deren Schönheit sich zunächst im Licht eines starken Vergrößerungsglases erschloss. Sie zeigte ein Kreuzfahrtschiff, das eine Küste passiert, dort eine bergige Landschaft, dicht bewaldet. Affen, vermutlich Gibbons, waren zu erkennen, die an ihren Schwänzen oder langen Armen in den Bäumen hingen. Manche der Affen hielten die Augen geschlossen, vermutlich, weil sie schliefen, andere schienen den Künstler selbst, der sie gestaltete, zu beobachten. Da waren noch zwei Panther im Unterholz, einige Muscheln im Sand, und Krabben, und fliegende Fische. Über den Stamm eines Baumes wanderten Ameisen, welche Einzelteile eines Vogels transportierten, Federn, Teile eines Schnabels, Knochen. Über einen Absender verfügte der Brief übrigens nicht, auch nicht über fühlbaren Inhalt. — stop
glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller
~ : louis
to : Mr. vladimir nabokov
subject : PROPELLER
Lieber Mr. Nabokov, vor langer Zeit, Sie erinnern sich vielleicht, hatte ich Ihnen einen Brief notiert, welchen ich heute wiederentdeckte. Plötzlich war ich mir nicht sicher, ob Sie den Brief tatsächlich erhalten haben, deshalb sende ich ihn unverändert ein weiteres Mal: Gestern Abend, nach einem Spaziergang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halbwegs betrunkene Freunde saßen, habe ich mich an ihre Vorlesung über Franz Kafkas Verwandlung erinnert, an Ihre liebevolle und akribisch genaue Untersuchung des Textes, an ihre Käferzeichnungen von eigener Hand, mit welchen Sie versuchten eine Vorstellung zu gewinnen von Wesen und Gestalt jener Hülle, in die Gregor Samsa eingeschlossen worden war. Ja, die Genauigkeit, mit der man sich erfindend einem Gegenstand nähert oder die Genauigkeit, mit der man einen erfundenen Gegenstand sezieren kann, immer wieder begegne ich während meiner Arbeit Ihren Untersuchungen, Ihrer Methode. Vorgestern hatte ich bei einer ersten Annäherung an eine Geschichte, die von lebenden Papieren erzählen wird, das Wort Propellerflügel in den Mund genommen, ohne zu ahnen, dass Propeller in der Welt lebender Organismen nur sehr schwer zu verwirklichen sind, weil ein Propeller sich doch frei bewegen muss, drehend in einer Fassung, die ihn lose hält, sodass ein lebender Organismus aus einem weiteren Körper bestehen müsste, der ganz zu ihm gehören würde und doch nicht ganz zu ihm gehören kann. Nun habe ich beschlossen, die Vorstellung der Propellerflügel nicht so ohne Weiteres aufzugeben. Ich habe mir gedacht, dass ein Propeller, der aus organischen Materialien bestehen wird, vielleicht auf atomarer Ebene einem flugfähigen Körper verbunden sein könnte, verbunden durch Moleküle, die im Moment einer Flugbewegung, den Rotor von Haut und Knochen einerseits anzutreiben in der Lage sind und andererseits je für einen kurzen Moment in die Freiheit entlassen. Und jetzt bin ich glücklich und hoffe, dass sie an meinem Entwurf Gefallen finden werden. – Mit allerbesten Grüßen, Ihr Louis - stop
verschwinden no 2
echo : 20.05 UTC — Manchmal, während ich hinter dem Rollstuhl meiner Mutter spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Ich sehe Schwalben über den Himmel huschen, ich sehe das Strohhütchen meiner Mutter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hände, die miteinander ringen. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter gedankenlos sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Schwalben, Rosenblüten, die Hände meiner Mutter, ihr Hütchen auf dem Kopf, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
letzte sprache
sierra : 22.01 UTC — Noch Flüstern, dann hauchen, dann schauen. — stop
malimali
marimba : 22.32 UTC — Oder so: Zunächst Flüsterwörter, dann Lippenwörter. Ob Augenwörter existieren? Das sind vielleicht Wörter, die sich in Gedanken formulieren, wenn man in die Augen eines Menschen schaut, der nicht mehr spricht, weil er nicht mehr sprechen kann. In diesem Sinne sind Augenwörter denkbar. Wie Übersetzungen. Oder Radare, ping. — Ich hörte einen schönen Namen an diesem Tag unterwegs: Malimali. Jetzt ist Abend. Schau aus dem Fenster und denk noch, da fliegen Vögel herum und Bienen, obwohl schon Dunkel geworden ist. Dass sie also doch existieren, die Nachtbienen. — stop
samuel beckett : 16 steine
romeo : 3.25 UTC – Ich nutze diesen Aufenthalt, um mich mit Steinen zum Lutschen zu versorgen. Es waren kleine Kiesel, aber ich nenne sie Steine. Ja, dieses Mal brachte ich einen bedeutenden Vorrat von ihnen zusammen. Ich verteilte sie gleichmäßig in meinen vier Taschen und lutschte sie nacheinander. Dadurch entstand ein Problem, das ich zunächst auf folgende Art löste: Angenommen, ich hatte sechzehn Steine und vier davon in jeder meiner vier Taschen, nämlich in den zwei Taschen meiner Hose und den zweien meines Mantels. Wenn ich einen Stein aus der rechten Manteltasche nahm und in den Mund steckte, so ersetzte ich ihn in der rechten Manteltasche durch einen Stein aus der rechten Hosentasche, den ich durch einen Stein aus der linken Hosentasche ersetzte, den ich durch einen Stein aus der linken Manteltasche ersetzte, den ich wiederum durch den Stein in meinem Mund ersetzte, sobald ich mit dem Lutschen fertig war. Auf diese Weise befanden sich immer vier Steine in jeder meiner vier Taschen, aber nicht genau dieselben … / Mittwoch. stop. Wieder Samuel Becketts wunderbarer Text der sechzehn Steine an diesem späten Abend. Dunkel. Schwere, würzige Luft der Kastanienblüte. Nachtbienen pfeifen am Fenster vorüber. Das war schon einmal so gewesen. — stop
take five
alpha : 22.05 UTC — Eigenartig, wie sie vor mir sitzt, die flachen Schuhe gegen die Beine des Stuhles gestemmt, beide Hände auf dem Tisch, Innenseiten nach oben, derart verrenkt, als gehörten diese Hände nicht zu ihr, als seien sie vorsätzlich angebrachte Instrumente, Werkzeuge des Fangens, Blüten. Jetzt schließen sie sich, Finger für Finger, Nacht wird. — ::: — Eine Fotografie kommt über den Tisch, Take Five, lässige Geste, als würde eine Karte ausgespielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Landschaft!“, — antworte ich, „Afrika. Südliches Afrika. Einen Affenbrotbaum und zwei Männer. Einen jungen Mann schwarzer Hautfarbe, der einen hellen Anzug trägt, und einen älteren, einen weißen Mann, der einen dunkelgrauen Anzug trägt, einen Strohhut und eine Brille. Eine staubige Straße. Menschen, die schwarz sind und bewaffnet. Gewehre. Macheten. Harte Schatten. Spuren von Hitze, infernalischer Hitze. Sie sehen alle so aus, als schwitzten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Straße stehen, schwitzen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rechten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hinter dem weißen Mann, eine dunkle Limousine, ein schwerer Wagen. Ich sehe einen Chauffeur, einen Chauffeur von schwarzer Haut, Schirmmütze auf dem Kopf. Der Chauffeur lächelt. Er schaut zu den beiden Männern hinüber, die unter dem Baum im Schatten stehen. Der weiße Mann reicht dem schwarzen Mann die Hand oder umgekehrt. Sieht ganz so aus, als sei der weiße Mann mit dem Auto angekommen und der schwarze Mann habe auf ihn gewartet. Historischer Augenblick, so könnte das gewesen sein, ein bedeutender Moment, eine erste Begegnung oder eine letzte. Beide Männer haben ernste Gesichter aufgesetzt, sie stehen in einer Weise aufrecht, als wollte der eine vor dem anderen noch etwas größer erscheinen. Da ist ein merkwürdiger Ausdruck in dem Gesicht des jungen, schwarzen Mannes, ein Ausdruck von Überraschung, von Verwunderung, von Erstaunen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüstert. „Treffer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öffnet ihre Fäuste und das Licht kehrt zurück, der ganze Film. „Die Klimaanlage. Der verdammte Wagen dort unter dem Baum. Der Weiße hat dem Schwarzen eine kühle Hand gereicht, Du verstehst, eine kühle Hand. Dieser Kerl hatte eiskalte Hände.“ — stop
poesie
india : 8.15 — Das Internet scheint über ein gewaltiges, flüssiges Gedächtnis zu verfügen, oder ist vielleicht das Gedächtnis selbst. Auch Lügen jeder Art werden erinnert. Oder Erfindungen, die zunächst in Worten formuliert wurden, Geschichten, Poesie. Als man sie dann schützen will, als man ihren digitalen Ursprung löscht, kommen sie doch wieder und wieder in nicht endenden Echos zurück. — stop
pfählung
sierra : 10.55 — Eine Vorstellung muss nicht zwingend Erfindung zu sein. Aber eine Nachtbiene, wie sie sich im Dunkeln graziös durch die Luft bewegt. — Einmal notierte ich auf einen Zettel: Ich glaube, die Menschen werden immer kälter und härter. Am 23. Juni wollte mich ein Herr namens Ul.Stinner* bei lebendigem Leibe pfählen, weil ich ihm eine Twitterfrage stellte. — stop
*Name geändert
synopse
ginkgo : 12.08 — In einem mehrstündigen, äußerst strapaziösen Versuch, Gedanken auszutauschen mit Menschen, die eine Twitterhöllenkammer befeuern, habe ich Folgendes gelernt. Es ist nämlich so, dass in der Vorstellung dieser Menschen bald Ankerzentren existieren werden, umzäunte Gebiete, die Personen beherbergen, Personenmenschen, welche aus dem Süden bereits zu uns gekommen sind oder furchtbarer Weise noch kommen werden. Weiterhin habe ich bemerkt, dass Menschenpersonen, die sich in jenen umzäunten und bewachten Gebieten zwangsweise aufhalten sollten, in der Wahrnehmung der Höllenkammerbewohner immerzu jung sind und gesund und Männer. Man vermutet, dass diese männlichen Menschenpersonen möglicherweise schwächere Menschen auf hoher See vorsätzlich von Bord gestoßen haben könnten, vorwiegend Kinder und Mädchen, das ist selbstverständlich reine Behauptung, die durch stetige Wiederholung in der Höllenkammer stetig zur Gewissheit wird. Diese jungen Männer nun, sie sind sehr häufig von schwarzer oder dunkler Haut bedeckt, sollen außerdem über finanzielle Mittel gebieten, die ihre Flucht oder Reise überhaupt erst möglich machten, sie seien also, so erzählt man, weder arm noch in irgendeiner Weise hilfsbedürftig, sie würden beileibe nicht südlichen Hungergebieten entkommen oder vor Bürgerkriegen geflohen sein, vielmehr sollen sie von irgendwoher angereist sein wie aus dem Nichts, um auf Kosten verarmter Ureinwohner in der Mitte Europas Mischbevölkerung zu erzeugen. Weil sie sich sorgfältig kleiden, weil sie über Telefone gebieten, weil sie mitnichten ausgehungerte Elendsgestalten sind, werden sie verdächtigt, gut organisierte Ankermenschen zu sein, Vorhut oder Schlimmeres. Ja, so in dieser Art und Weise wird vorgestellt, wird ausgedacht, wird Gewissheit erzeugt. Ich stelle fest: Menschen, die keine Menschenpersonen, sondern Patrioten sind, Menschen, die in dieser skizzierten Gewissheit leben, sind empfindlich, sind wütend, sobald man sich mittels Wörtern fragend nähert. Sie schreiben unverzüglich zurück, dass man den Fragenden selbst sehr gerne pfählen würde bei lebendigem Leibe, erschießen, nach Afrika verjagen, da doch der Fragende ein linker Faschist sei, ein Antisemit, ein Mitvergewaltiger, das Böse schlechthin. stop. Die Sonne ist rund. — stop
von apfelbäumen
tango : 20.02 — In der Schnellbahn hörte ich eine Stimme, die von Blütenbestäubern erzählte. Immer wieder unterbrochen von scheppernden Maschinengeräuschen, welche Haltestationen kommentierten, vermochte ich nicht alle Fäden der Geschichte wahrzunehmen. So viel habe ich verstanden. Ein Apfelbaumgarten soll existieren, dessen Bienenvölker verstorben sind, auch Hummeln und Wespen und Schmetterlinge seien nicht erschienen, nicht einmal Falter, nur selten Vögel, Dompfaffen und Zeisige, Sperlinge aber nicht. Es sei nun der Aufruf ergangen, man möge sich, wenn man Zeit finden könne, melden, man würden dann mittels eines feinen Pinsels auf einer Leiter in die Bäume steigen, um Biene oder Zitronenfalter zu spielen. Wie gern würd ich mich melden, wenn ich nur wüsste, wo und bei wem? — stop
von lampen
tango : 22.15 — Ein Mann schob einen kleinen Wagen einen Flur entlang. Der Wagen war bepackt mit größeren oder kleineren elektrischen Lampen, die der Mann entzündet hatte, so als wollte er, dass ich sie alle sehen könnte, vielleicht um sie an mich zu verkaufen. Nein, eigentlich war das ganz anders gewesen, ich wusste, der Mann verkaufte keine Lampen, sondern er tauschte Lampen aus, Deckenlampen, Schreibtischlampen, Notleuchten, Lichttapeten, glimmende Stäbchen, auch fliegende Lichter, Drohnenleuchten. Diese Drohnen, winzige Wesen, sausten um seinen Kopf herum, als wären sie Insekten, Fliegen, die Stirnlampen trugen, mit welchen sie mehr oder minder freiwillig ausgerüstet, ihren Flug dokumentierten. Wahre Wolken von Licht waren zu bemerken, auch saßen Fliegen auf dem Rücken des Mannes, der in einer Weise leuchtete, als wäre Schnee gefallen. Da war noch eine Schnecke, die sich über seinen Hals bewegte, auch die Schnecke leuchtete: Das sah sehr schön aus, das viele Licht und der Mann, der seinen schaukelnden Wagen über den Flur schob, gerade auf mich zu. Plötzlich blieb der Mann stehen. Er fragte, ob ich die Schnecke haben wolle, sie sei zahm, sie ernähre sich von Staub, den sie zu sehr feinen Würmchen pressen würde, welche ich dann bequem aufsammeln könnte. Außerdem sei sie wunderschön anzusehen nachts auf ihrer Wanderung durch die Dunkelheit. Ohne eine Antwort abzuwarten, fasste sich der Mann an seinen Hals und zog am Gehäuse der Schnecke, die sich wehrte, sie leuchtete zunächst rot und dann blau, und wurde schließlich in dem Moment, da sie sich vom Hals des Mannes löste, grün. So, in dieser grünen Farbe leuchtend, reiste sie an der Hand des Mannes durch die Luft. Kurz darauf hockte sie an meinem Hals, dicht unter dem Kinn. Ich vermochte ihr Licht an meiner Schulter erkennen, die Schnecke schien sich wohlzufühlen, leuchtete in einem schwachen Orange, das pulsierte, langsam, beruhigend. Ich solle ihr einen Namen geben, sagte der Mann. Dann war Morgen, es regnete, seltsamerweise aus einer Wolke, die sich unmittelbar über meinem Bett unter Zimmerdecke türmte. — stop
samia yusuf omar
delta : 0.05 — Exakt 2142 Tage zurück, am Montag, dem 20. August 2012, meldeten Nachrichtenagenturen, die somalische Sprinterin Samia Yusuf Omar sei auf dem Weg nach London zu den Olympischen Spielen ertrunken. Sie reiste auf einem Flüchtlingsschiff von Libyen aus nordwärts. Die Havarie des Bootes soll sich im Kanal von Sizilien nahe der Insel Malta bereits Anfang April ereignet haben. Einzige Vertreterin ihres Heimatlandes während der Olympischen Spiele 2008 in Peking, hatte sich Samia Yusuf Omar allein auf den gefährlichen Weg nach Europa begeben. Sie lebte 22 Jahre. — Und all die Namenlosen. — stop / Koffertext
afrika
echo : 0.08 — Ein Mädchen wartet vor einer Ampel an der Hand seiner Mutter. Auf der anderen Seite der Straße steht ein Mann in einem weiten, bunten Gewand. Er ist von schwarzer Hautfarbe und spricht mit lauter Stimme in ein Telefon. Das Mädchen fragt die Mutter: Warum redet der Mann so laut? Die Mutter antwortet: Der Mann telefoniert mit Afrika! Das Mädchen schaut zu dem Mann hinüber. Plötzlich sagt es: Das ist aber sehr weit entfernt. — stop
denkbar
marimba : 22.45 — Wenn einer schreibt in seiner Wut, dass er den ein oder anderen Menschen gerne vertreiben oder schlagen oder pfählen würde, würde er in der Wirklichkeit jenseits der Computerschreibmaschine vor seinem Haus nicht sofort tun, was er beschrieb. Aber vielleicht, wenn viele Menschen schreiben, dass sie den ein oder anderen Menschen gerne vertreiben oder schlagen oder pfählen würden, und er das liest und sich selbst wiederholt, wird er sich vielleicht bald staunend bei der Pfählung eines Menschen beobachten, einer Handlung, die ihm kurz darauf schon selbstverständlich und richtig vorkommen wird. Das ist denkbar. — stop
pong
alpha : 20.02 — Kaum eine halbe Stunde ist vergangen, seit ich den Wunsch verspürte, mich zu beruhigen. Das war hauptsächlich, deshalb gewesen, weil ich meinen Puls in den Ohren schlagen hörte. So sehr hatte ich mich aufgeregt über einen kleinen Text, dem ich auf Position Twitter begegnet war, dass ich kaum noch denken konnte. Ich dachte nur das eine: Du bist wütend, Louis! Ich setzte mich also auf einen Stuhl und konzentrierte mich auf die Erfindung eines Wortes. Das half, das war schon immer so gewesen. Einige Wörter, die ich bislang nicht kannte, also entdeckte, sind Geburten seelischer Spannung. Auch dieses Mal war bald Ruhe eingekehrt, nachdem ich das Wort Zikadenpauke formuliert hatte. Vermutlich waren meine Ohrgeräusche unmittelbar für das Wort verantwortlich. Aber das ist im Grunde nicht wesentlich. Das Wort ist entdeckt und kann nun von Suchmaschinen gefunden, festgehalten und weitergegeben werden. — stop
sandmann
ulysses : 22.08 UTC — Irgendwo, nicht lesbar für mich, soll im World Wide Web die schriftliche Arbeit einer Frau existieren, die vor Jahren einmal über eine verschlüsselte Datenverbindung mit einem Mann konfrontiert gewesen war, der sie bedrohte. Ich weiß nicht, was genau geschehen war. Nur soviel, dass diese Frau seither einen Text notiert, der in ihrer Vorstellung niemals enden darf, weil sie der Überzeugung ist, ihre schreibende Arbeit würde sie schützen. Dieser Text, in chinesischer Sprache verfasst, soll seinerseits von einer bedrohten Frau erzählen, die sich Tag für Tag erinnert und fürchtet, eine Beschwörung, die Geschichte eines Lebens ohne Schlaf. — stop
0 Uhr 28
delta : 0.28 — Jede der Schreibmaschinen, die ich besitze, jene in der Küche, jene im Arbeitszimmer, jene in meinem Rucksack oder jene in meiner Hosentasche, könnte ein sensibles Hör- oder Sehrohr sein. Als ich gestern für eine meiner Schreibmaschinen mittels eines Programmcodes sichtbar machte, welche Datenlinien präzise von und zu meiner Schreibmaschine hin sendend existieren, stellte ich mir vor, jede dieser Datenlinien wäre ein Faden, ich könnte mich nicht länger bewegen, ein dichtes Gewebe würde sich mit weiteren Datengeweben vor den Fenstern verknüpfen. Seltsame Geschichte. — stop
zeitwort
india : 22.55 UTC — Ich könnte das Wort Zikadenpauke schreiben. stop. Wie viel Zeit vergeht, ehe ich das Wort Zikadenpauke zu Ende geschrieben haben werde? stop. Einhundert Paukenzeiten. stop. Wie viele Paukenzeiten machen einen Tag? — stop.
luftgesellschaft
nordpol : 0.05 UTC — Irgendetwas fehlte, oder jemand. Ein Gefühl zunächst, ich begann zu zählen. Ich zählte von 23 Uhr bis Mitternacht folgende Besucher, die durch mein geöffnetes Fenster lichtwärts flogen: Zwei kleine Fliegen, eine grün, die andere bläulich schimmernd. 3 Marienkäfer, rot, je 5 Punkte. 1 Falter, der mir ein Tagfalter zu sein schien, er war aus dem Fenster hinaus, ehe ich ihn untersuchen konnte. 2 fast durchsichtige Wesen von hellem Grün, die mir bekannt gewesen, weil ich mich seit Jahren, sobald ihre Art an den Wänden meiner Zimmer zitternd eingetroffen ist, beobachtet fühle. Zuletzt 1 Wespe. Es ist Ende Juli, und es ist warm und schwül. — stop
radar
juliett : 0.08 UTC — Wenn die alte Dame, sie trägt einen Sommerhut auf dem Kopf, in ihrem Rollstuhl sitzend erwacht und ihre flinken Augen öffnet, fragt sich alle Welt, was sie wohl sehen und denken mag. — stop
am mississippi
alpha : 16.12 — Ramos erzählte gestern am späten Abend von einer Methode, E‑Mail derart zu programmieren, dass sie sich kurz nach ihrem Aufruf vor den Augen des Lesenden selbst zerstören oder auflösen wird, weil ihre Zeichen heller und heller werden, bis sie unsichtbar geworden seien. Ramos selbst will diese Möglichkeit des Verschwindens programmiert haben. Wir notierten zur Probe einen elektrischen Brief an mich selbst. Ich sendete also einen kurzen Text, den ich vor fünf Jahren bereits aufgeschrieben hatte: 6.15 – Während ich Stunde um Stunde in Stewart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobster lese, immer wieder das Wort Mississippi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Mississippi in der Fortsetzung der Lektüre nach und nach alle weiteren Wörter und Gedanken ersetzten könnte. In einem Wort verschwinden. — stop - Sobald die E‑Mail, die mittels Ramos’ Programm notiert worden war, auf meiner Schreibmaschine eingetroffen war, öffnete ich sie. Tatsächlich, kaum hatte ich den Cursor meiner Schreibmaschine über den Text hin bewegt, lösten sich seine Buchstaben auf, sie verblassten, waren bald nur noch eine Ahnung auf der Netzhaut meines Auges. Ramos erklärte, alle Zeichen, die mittels seines Programmes verschlüsselt worden seien, würden für eine Minute zur Verfügung stehen, man dürfe den Text der E‑Mail jedoch nicht berühren oder den Versuch unternehmen, einen Screenshot anzufertigen. Jede bekannte Methode des Fangens auf künstlichem Wege sei unwirksam. Auch eine Fotografie zu nehmen mittels eines gewöhnlichen Fotoapparates sei nicht möglich. Ramos, der höchst begeistert wirkte, wollte mir nicht erzählen, wie dieses Verhalten programmiert sein könnte. Was bleibt, sagte Ramos, ist eine E‑Mail dieser Art auswendig zu lernen, um sie kurz darauf auf Papieren zu rekonstruieren. — stop
swetlana
olimambo : 22.14 UTC — Einmal, vor zwei Jahren, spreche ich mit Swetlana, die in einem Dorf weit hinter dem Ural in Sibirien geboren worden war. Es ist ein später Abend und warm. Eintagsfliegen zwirbeln durch die Luft. Ich sage: Wir, liebe Swetlana, wir in Europa sind in großer Gefahr, weil wir nicht wissen, wie der 45. Präsident der USA und Wladimir Putin handeln werden. Swetlana ist partout nicht dieser Meinung. Sie schüttelt sehr lange Zeit den Kopf: Da kenne ich Dich schon acht Jahre lang und Du liest noch immer die falschen Zeitungen. Es kommt mir so vor, als würdest Du eine ganz andere Welt bewohnen. Nein, wir sind nicht in Gefahr, Putin ist ein guter Mann, und der andere auch. Einen Moment schweigt sie. Dann fährt sie fort, mit einem Lächeln: Wie kann man nur so klug sein, und doch die ganz falschen Zeitungen lesen. — stop
feuersalamander
romeo : 22.18 UTC — Brütende Hitze. Das ist ein schöner Ausdruck, ich werde gebrütet von der Luft. Bin gespannt, was da aus mir herausschlüpfen wird. Irgendein Wesen vermutlich, das sich wohlfühlt, wenn es so richtig warm und schwül ist. Etwas, das vor Freude bebt, wenn Temperaturen über 50 ° Celsius steigen werden, eine Fortentwicklung, Anpassung, vielleicht eine Variation meiner selbst, der ich nun bald in der Lage sein werde, Wüsten zu durchkreuzen, geschmeidig, ohne auch nur einen Tropfen Wasser trinken zu müssen. — stop
papiere
delta : 22.58 UTC — In diesem Moment, da die Temperatur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitieren, den ich vor Jahren bereits notierte. Er handelt von Eispapieren und von einem besonderen Kühlschrank, den ich damals in Empfang genommen hatte, von einem Behälter enormer Größe. Ich schrieb, ich wiederhole, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollte ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen, man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop
sommerhüte
alpha : 2.08 UTC — An einem warmen Sommerabend warten Menschen vor einem Markt auf Bänken. Einer nach dem anderen tritt in den Laden und kommt bald je mit einer Wassermelone zurück. Man sitzt dann wieder auf der Bank, halbiert die kühle Frucht, löffelt sie aus und setzt sich das Schalengehäuse auf den Kopf. So geschehen in einer mitteleuropäischen Stadt an einem Samstag gegen zehn Uhr am Abend. — stop
im park
sierra : 2.55 UTC — Gestern beobachtete ich Louis, wie er in einem Park saß und eine Geschichte in ein Notizbuch schrieb. Das war ein schmales Buch gewesen. Louis notierte mit Bleistift in winziger Schrift. Er hatte deshalb eine Lesebrille aufgesetzt, die er immer wieder einmal auf seiner Nase zurechtrückte. Es war sehr feucht am See, Libellen jagten herum, obwohl schon fast dunkel geworden war, und sie leuchteten, blinkten, als wären sie ferngesteuerte Hubschrauberwesen. Louis schien sie nicht zu bemerken, er schrieb und schrieb, und wenn man sich näherte, konnte man hören, wie sein Bleistift sacht über das Papier raspelte. Das schmale Buch war schon fast vollgeschrieben und Louis Schrift wurde immer kleiner. Ich fragte ihn: Sag, worüber schreibst Du? Louis antwortete, er schreibe über einen Mann, der Lastenaufzüge bediente, verschmutzte Kästen, die in einem Lagerhaus auf und abwärts fuhren. Der Mann, von dem Louis erzählte, arbeitete bereits seit Jahren in einem dieser Kästen. Trotzdem war er im Grunde immer gut gelaunt. Das lag daran, dass der Mann sich vorstellte, er würde bald einmal in einem dieser Lastenaufzüge wohnen. Er konnte präzise beschreiben, wie sein zukünftiges Wohnzimmer beschaffen sein wird. Sofa, Regale für Bücher und Elefantenstatuten, die der Mann sammelte, Kakteen und Bambuspflanzen, zwei Tische, ein Rubensgemälde, Vasen, und so weiter und sofort. Nun, sagte Louis, das Problem ist, ich bin hier mit meinem Notizbuch bald zu Ende, aber das Zimmer im Aufzug tritt immer deutlicher an mich heran. Ich werde das Zimmer in diesem Büchlein hier nicht unterbringen. Verdammte Sache! — stop
nazil
marimba : 0.08 UTC – Nazil, die heute 82 Jahre alt wurde, erzählte, wie sie an einem Roman schrieb im Kopf, während sie tagelang durch Kalkutta streifte. Alles habe damit begonnen, sagte sie, dass in einem Reisebüro sich ein Mann plötzlich entfaltete vor Begeisterung, nachdem er gehört hatte, er solle eine Reise nach Kalkutta recherchieren. Zu diesem Zeitpunkt habe sie selbst noch nicht wirklich vorgehabt, nach Kalkutta zu fliegen. Sie habe allerdings, zwei Jahre vor ihrem Besuch eines Reisebüros, eine Briefsonde an eine erfundene, das heißt, nicht wirklich existierende Person in Kalkutta geschrieben. Einige Wochen später sei eine Antwort von eben jener erfundenen Person zurückgekommen. Wirklich sehr seltsam, sagte Nazil, die heute 82 Jahre alt geworden ist. – stop
eine wiese
echo : 22.05 UTC — Ich hatte einen lustigen Traum. Da war im Traum eine Wiese unter Apfelbäumen. Plötzlich lag ich in dieser Wiese herum und beobachtete Wespen, wie sie dicht über mir hin- und herflogen auf einer schnurgeraden Linie. Bemerkenswert war, dass sie alle sehr kleine Äpfel transportierten in eine der Richtungen, ich glaube westwärts. Am Rand der Wiese stand, halb schon im Wald, ein Haus. Im Haus traf ich eine alte Frau an, die mit sich selbst zu sprechen schien. Aber das war dann doch ganz anders gewesen, die alte Frau sprach mit den Wespen, sie bedankte sich für jeden der Äpfel, den die Wespen über einer Schale abwarfen, die im Schoß der alten Frau ruhte. Ich erinnere mich, die Küche duftete nach Kuchenteig. In einem Käfig in einer Ecke des Hauses hockte ein Huhn auf einem Apfel, den das Huhn selbst gelegt haben soll, auf einem Wespenapfel oder einem Apfel voller Wespen. Dann wachte ich auf. Ein schöner Tag begann. Und jetzt ist Abend geworden. In der Stadt Chemnitz tragen Menschen, die entweder Faschisten sind, oder sich nicht scheuen, in einer Reihe mit Faschisten herumzulaufen, weiße Rosen am Revers. Eine entsetzliche Geschichte. — stop
in der straßenbahn
nordpol : 15.02 UTC — Folgendes. Wenn ich mich schreibend mit deutschen Menschen auseinandersetze, die überzeugt sind, afrikanische Menschen, die sich auf die Flucht nordwärts nach Europa begeben, seien selbst schuld, wenn sie im Meer ertrinken, man sollte Ihnen nicht helfen oder nur im Notfall, wenn jemand da ist, also wenn Hilfe unvermeidbar ist, wenn sie demzufolge nicht unsichtbar und ungehört zu ertrinken drohen, stelle ich mir immer wieder einmal vor, was diese Menschen an diesem schönen Sonntag wohl gefrühstückt haben? Ich frage mich, ob sie gut geschlafen haben und wie sie wohnen, ob sie glückliche Menschen oder eher unglückliche Menschen sind? Haben diese Menschen Kinder? Würde ich sie in einer Straßenbahn sitzend erkennen? Also sitze ich etwas später in einer Straßenbahn. Und plötzlich spüre ich einen Blick auf mir lasten, der nicht freundlich ist. — stop
zitelle
echo : 22.05 UTC — Ich hörte, in der Lagune, in welcher im Westen die Stadt Chioggia, im Osten die Stadt Venedig zu finden sind, sollen 120 Roboterfische kreuzen, ein Schwarm, der das Wasser erkundet, Strömungen, Plankton, Metalle, die im Wasser schweben oder sich bereits mit dem Wasser verbunden haben. Wie lange Zeit, dachte ich, müsste ich nahe der Vaporetto — Station Zitelle unter Seemöwen sitzen und ins Wasser spähen, bis ich einen dieser kleinen Roboterfische mit eigenen Augen beobachtet haben würde. Ein seltsames Wesen werden jene schönen, großen, scheuen Vögel vielleicht denken. Es wartet, es schaut ins Wasser, es ist auch in der Nacht noch vor Ort, es schläft nicht, es scheint nicht gefährlich zu sein, es verspeist Äpfel, wir müssen nur warten, dann bekommen wir ein wenig von den Äpfeln vorgelegt. Gleich neben mir steigt das Meer eine steile Treppe hinauf und wieder hinab. — stop
zattere
ulysses : 20.32 UTC — Jenes einsame Nadelblattgewächs in der Form der Pinienbäume unweit der Ponte agli Incurabili könnte Joseph Brodsky bei Regen noch beschirmen. Von dort soll der Dichter gern über den Kanal nach Giudecca geschaut haben. Ich erwartete eine Bank von Stein oder von Holz, vergeblich. Vielleicht wird Joseph Brodsky sich zur Beobachtung des Wassers einen kleinen Klappstuhl mitgenommen haben oder ließ die Beine von der Kaimauer baumeln, sie werden vermutlich bald nass geworden sein. Wenn ich nur lange genug nach Westen schaue zu den Hafenanlagen hin, kann ich Joseph Brodsky sitzen sehen, wie er sich mit den Wellen des Meeres unterhält, ihre Bewegung erforscht. Wie sich in diesem Augenblick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braun rosafarbener feuchter Elefantenrüssel aus dem Wasser erhebt, wie er bebend die Luft sondiert, wie er sich dem Dichter nähert, als wäre er noch immer dort, Fondamenta degli Incurabili. – stop
redentore
nordpol : 16.58 UTC — Von der Wasserbusstation Redentore aus ist heute das Schwesterchen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhnlicher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist vielleicht deshalb so still, wo es doch nicht wirklich still sein kann, weil die Luft langsam westwärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz innehält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet, vielleicht von Palanca her oder von den Giardini – Zwillingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stürmisch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasserbusstationen sei weit ins offene Meer hinaus zuhören. Kein Wunder demzufolge, kein Wunder. – stop
celestia
delta : 20.58 UTC — Es war an einem Abend kürzlich, dass ich die wohlklingende Stimme einer Frau bemerkte, die in einem Wasserbus jeweils die kommende Haltestation der Linea 4.1 ankündigte. Je länger die Fahrt dauerte, desto dringlicher wurde der Wunsch, diese Stimme aufzunehmen, sie festzuhalten, sie für mich einzufangen. Ich fuhr nach Redentore zurück und setzte mit meiner Rundreise um die Stadt Venedig von Neuem an. Indessen verzeichnete meine Schreibmaschine jedes Geräusch der einstündigen Fahrt, Wellen, Gespräche, Kommandos des Piloten und seiner Assistentin, das knirschende Geräusch der Taue, wie sie sich um eiserne Kamelschiffshöcker winden, auch Schritte der Aussteigenden, Schritte der Zusteigenden, und eben immer wieder diese zärtliche Stimme: Prossima fermata Celestia. Next stop Celestia. Wie, wenn diese Stimme noch in Jahrhunderten hörbar wäre, diese Stimme einer dann längst vergangenen Person. Kein Grund zu entdecken in dieser Minute, weshalb je weitere Stationen der Stadt Venedig zu erfinden wären. stop
ferrovia
alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Venedig, trat auf den Vorplatz des Bahnhofsgebäudes, hörte, vertraut, das Brummen der Vaporettomotoren, bemerkte das dunkelblaugraue Wasser, und einen Geruch, auch er vertraut, der von Wörtern noch gefunden werden muss. Und da war die Kuppel der Chiesa di san Simeone Piccolo im Abendlicht, und es regnete leicht, kaum Tauben, aber Koffermenschen, hunderte Koffermenschen hin und her vor Ticketschaltern, hinter welchen geduldige städtische Personen oder Furien warteten, die das ein oder andere Drama bereits erlebt hatten an diesem Tag wie an jedem anderen ihrer Arbeitstage. Und da war mein Blick hin zur Ponte degli Scalzi, einem geschmeidigen Bauwerk linker Hand, das den Canal Grande überquert. Ich will das schnell erzählen, kurz hinter Verona war ich auf den Hinweis gestoßen, es habe sich dort nahe der Brücke, vor den Augen hunderter Beobachter aus aller Welt, ein junger Mann, 22 Jahre alt, der Gambier Pateh Sabally, mittels Ertrinkens das Leben genommen. Ein Mensch war das gewesen, der auf gefährlicher Route das Mittelmeer bezwang. Niemand sei ihm zu Hilfe gekommen, ein Vaporetto habe angehalten, man habe einige Rettungsringe nach ihm geworfen, aber er habe nicht nach ihnen gegriffen, weshalb man eine oder mehrere Filmaufnahmen machte, indessen man den jungen Mann ermutigte: Weiter so, geh nach Hause! Das war im Januar gewesen, das Wasser der Kanäle kalt wie die Betrachterseelen. In diesem Augenblick, als ich aus dem Bahnhof in meinen venezianischen Zeitraum trat, war keine Spur der Tragödie dort unter dem Himmel ohne Tauben zu entdecken, außer der Spur in meinem Kopf. — stop